Kapitel 5
Alte Erinnerungen und neue Erkenntnisse
This is my one and only voice
So listen close, it's only for today
Shinedown “Second chance”
Mit langsamen und doch zielstrebigen Schritten betrat der Mann im dunklen Anzug den Friedhof. Ein kühler Wind wehte, und er fröstelte ein wenig.
Es hatte für ihn nie zwingende Gründe gegeben, hierher zu kommen, aber jetzt fühlte er sich auf unerklärliche Weise beinahe gezwungen, dem Grab einen Besuch abzustatten. Obwohl die letzte Ruhestätte nicht sehr groß war und fast ein wenig versteckt lag, hatte er keine Mühe sie zu finden.
Nach einigen Augenblicken, in denen er einfach nur da stand und den Stein betrachtete, begann er schließlich mit leiser Stimme zu sprechen.
„Hallo, alter Kumpel.“ Ein schwaches, kaum wahrnehmbares Lächeln umspielte seine Lippen.
„Du hast ganz schön Mist gebaut, weißt du das?“ Es lag ein wenig Wehmut in seinen Worten, aber auch ein Hauch von Ironie. „Aber du warst ja schon immer der Impulsivere von uns beiden…“ Er schwieg einen Moment, während Erinnerungen an seine Jugend ihn einholten. Kleinere Raufereien, kaum erwähnenswerte Streiche, das erste Bier und die obligatorische erste heimliche Zigarette.
„Jedenfalls gibt es jemanden“, fuhr er fort, „Für den du ewig der kleine Junge mit Flausen im Kopf bleiben wirst, der keiner Menschenseele wirklich etwas antun könnte…“
Er selbst teilte diese Ansicht nicht unbedingt, obwohl er vor langer Zeit – Jahre vor dessen Ableben – den Kontakt zu dem Menschen verloren hatte, zu dessen sterblichen Überresten er jetzt sprach.
Doch diese Meinung hatte er wohlweislich nicht erwähnt bei jenem schicksalhaften Gespräch, welches ihn letztendlich hierher geführt hatte.
„Und diesem Menschen habe ich ein Versprechen gegeben. Es hat eine Weile gedauert, alle Vorbereitungen zu treffen, aber jetzt ist es fast soweit.“
Er hörte ein Geräusch in der Nähe, fuhr herum und stellte beruhigt fest, dass es nur ein Tier gewesen war, welches in den Büschen herum schlich. Sich wieder der Grabstätte zuwendend, setzte er noch einmal an, diesmal mit energischer Entschlossenheit in der Stimme:
„Diese Frau wird dafür bezahlen, was sie getan hat, das schwöre ich dir. Und wenn ich mit ihr fertig bin, wird sie mit leeren Händen dastehen. Das würde dir sicher gefallen…“
Der Schrei einer Eule ertönte. Ein eisiger Windstoß fuhr durch sein Haar, ließ ihn leicht erzittern und erinnerte ihn daran, dass er ohnehin nur kurz bleiben wollte.
Ein letzter Blick noch auf den Stein, dann drehte der Mann sich um und wandte sich Richtung Ausgang. Dies sollte sein erster und letzter Besuch hier sein.
Auf dem Stein stand in einfacher, schnörkelloser Schrift nur der Name des Verstorbenen: George Martin.
Vor dem Friedhofstor wartete ein leger gekleideter Mann auf ihn, steckte gerade sein Handy wieder in die Tasche und sah ihn neugierig an. „Wie war’s?“
„Er war nicht sehr gesprächig“, erwiderte sein Chef lakonisch. Marcus verdrehte die Augen, mehr über sich selbst als über die Antwort. Was hatte er auch erwartet, Gefühlsduselei hatte er bei seinem Freund und Vorgesetzten noch nie erlebt. Warum sollte das ausgerechnet heute anders sein?
„Unser… ‚Informant’ hat sich gemeldet“, erklärte er also, und sein Tonfall verriet, dass es gute Neuigkeiten gab.
„Und?“ wollte der andere Mann wissen.
„Sieht ganz danach aus, als ob wir unserer Zielperson näher kommen als erwartet. Auf einer sehr … privaten Ebene“, fasste er den wesentlichen Inhalt des Telefongesprächs zusammen. Marcus grinste zufrieden, und sein Freund nickte knapp. „Gut.“
Es begann zu regnen, und die zwei Männer stiegen in den Wagen. Doch bevor sie losfuhren, hielt der Ältere von beiden den Jüngeren noch einen Moment zurück. „Marcus… Du musst unbedingt aufhören, diese schlechten Agentenfilme zu sehen. Hat keinen guten Einfluss auf deine Ausdrucksweise.“
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„Guten Morgen“, begrüßte Ryan seine Chefin freundlich, als er auf ihr „Ja, bitte“ ihr Büro betrat. Sie sah auf und lächelte ihn an.
„Guten Morgen, Ryan. Wie war Ihr Wochenende?“ Trotz der Tatsache, dass sie ihn schon als Kind – wenn auch nur flüchtig – gekannt hatte, hatte Suzanne entschieden, in der Firma zum distanzierten „Sie“ überzugehen, wenn sie mit Ryan Foster zu tun hatte.
„Es war sehr… ruhig“, entgegnete Ryan. Nachdem sein Plan geplatzt war, mit Stella das Wochenende zu verbringen, hatte er einen Freund angerufen und zu einem Ausflug zur Waldhütte zwecks Angeln eingeladen. Dieser hatte jedoch nur am Samstag Zeit, und am Sonntagmittag langweilte Ryan sich schon so sehr, dass er im Arbeitszimmer seines Onkels liegen gebliebene Arbeiten erledigt hatte.
„Und bei Ihnen?“, erkundigte er sich höflich.
Suzanne sah aus dem Fenster, ließ ihren Blick über die Wolkenkratzer schweifen und erwiderte zurückhaltend: „Ja, bei mir auch…“
Sie hatte nach anfänglicher Reserviertheit viel mit Donald über das geredet, was sie bewegte, und das hatte ihr geholfen. Und auch Stella, deren angebliche Verabredung mit einer Freundin für das Wochenende laut eigener Aussage ins Wasser gefallen war, hatte ihr beigestanden. Nur von ihrem Sohn hatte sie nach dem Streit am Freitag nichts mehr gehört.
Inzwischen glaubte Suzanne, so weit zu sein, wie sie David schon direkt nach der Testamentseröffnung hatte weismachen wollen: Sie akzeptierte, was sie nicht ändern konnte und wollte keine Energie darauf verschwenden, sich mit negativen Gefühlen zu belasten.
Sie riss sich aus ihren Gedanken los und fragte Ryan: „Also, was haben Sie für mich?“
Er legte eine Mappe auf ihrem Tisch ab. „Die Verkaufsstatistiken, die Sie angefordert hatten.“
Suzanne blätterte die Unterlagen durch und war zunehmend beeindruckt. „Haben Sie das Wochenende durchgearbeitet?“
Ryan grinste ein wenig verlegen. „Wie gesagt, es war ziemlich ruhig.“
In diesem Moment klopfte es an die Tür. Suzanne rief „Herein“ und legte die Unterlagen weg. Bob betrat den Raum und sah, dass sein Neffe bereits hier war. Nun, dann musste sein zweitwichtigstes Anliegen noch warten.
„Hallo, Suzanne“, sagte Bob und schenkte ihr ein warmes Lächeln. „Darf ich kurz stören?“ Sie nickte. „Sicher.“
„Tja, also… wenn ich dann nicht mehr gebraucht werde…“ bereitete Ryan seinen Rückzug vor, wurde jedoch aufgehalten. Bob hob die Hand, in der er eine schmale Mappe hielt. „Es kann nicht schaden, wenn du hier bleibst und dir das ansiehst.“ Er vergewisserte sich kurz über einen Blick zu Suzanne, dass sie nichts dagegen hatte. Diese zuckte jedoch nur mit den Schultern, wusste sie doch noch gar nicht, worum es ging.
„Ich glaube, wir haben den Kerl, der so großen Gefallen daran gefunden hat, HD-Aktien zu kaufen“, erläuterte Bob und hatte sofort Ryans und Suzannes ungeteilte Aufmerksamkeit. Er gab Suzanne die Mappe, diese schlug das Deckblatt auf und eine Seite mit einem Lebenslauf erschien.
„Sein Name ist Jonathan Stratton“, erklärte Bob. „Er hat eine hervorragende Ausbildung genossen und bei einigen der besten Firmen der Branche gearbeitet. Eigentlich ist es ein Wunder, dass er nicht schon früher von sich reden gemacht hat.“
Suzanne las den Namen einer renommierten Universität sowie ein paar der größten Konkurrenz-Unternehmen und hob unwillkürlich anerkennend die Augenbrauen.
„Letztes Jahr hat er dann sein eigenes Unternehmen gegründet, Stratton Enterprises… Aber anstatt selbst etwas zu entwickeln, kauft er einfach die Konkurrenz auf. Bisher hat das auch ganz gut funktioniert“, meinte Bob, und seiner Stimme war anzumerken, dass er dies nicht unbedingt als gutes Zeichen deutete.
„Aber an uns wird er sich die Zähne ausbeißen“, stellte Suzanne klar. Sie war schon in kämpferischer Stimmung. Eine gute, faire Auseinandersetzung auf geschäftlicher Ebene hatte sie noch nie gescheut und freute sich beinahe auf die Herausforderung, die dieser Stratton zu bieten schien.
Ryan nickte zustimmend.
„Ich will so viel wie möglich über diesen Mann erfahren“, sagte Suzanne und klang sehr entschlossen. „Jedes Projekt, an dem er je gearbeitet hat, jedes Wort, das er in der Öffentlichkeit gesagt hat… Würden Sie das bitte übernehmen, Ryan?“ „Klar, ich fang gleich an“, erwiderte Ryan eifrig und ließ sich die Mappe geben, die sein Onkel zusammengestellt hatte. Ein „Danke“ und ein Lächeln widmete Suzanne ihm noch, bevor er das Büro verließ.
„Gute Arbeit, Bob“, lobte sie Bob. Der nickte ihr kurz zu, dann stellte er die Frage, die ihn die ganze Zeit beschäftigte: „Wie geht es dir jetzt?“ Verwundert musterte Suzanne ihn, im Glauben, er würde auf die gerade besprochene geschäftliche Angelegenheit anspielen. „Gut. Ich lass mich doch davon nicht so leicht aus der Ruhe bringen.“
„Ich habe von der Sache mit Jackie gehört“, gestand Bob. Suzannes Reaktion bestand darin, nach einem tiefen Luftholen und einigen Sekunden konzentriertem Nachdenken nachzufragen: „Von wem?“
Bob wollte Ryan nicht in den Rücken fallen und so antwortete er mit einer Gegenfrage. „Ist das denn wichtig?“ „Nein“, entgegnete Suzanne gedehnt, doch ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren.
Von Donald konnte Bob es nicht wissen, und auch David hielt sie für unwahrscheinlich. Es war zwar nicht völlig ausgeschlossen, dass sich ihr Sohn in den letzten drei Tagen Bob anvertraut hatte… Schließlich kannte er den älteren Mann seit Kindertagen und vertraute ihm fast so sehr wie Suzanne selbst es tat. Doch irgendwie glaubte sie nicht so ganz an diese Variante. Blieb noch Stella.
Egal, diese Überlegungen konnten warten. Suzannes Blick schien Bob um Verzeihung zu bitten, doch ihre Stimme klang nicht unbedingt nach einem schlechten Gewissen. „Sicher willst du jetzt wissen, warum ich es dir nicht gleich erzählt habe…“
Doch Bob schüttelte den Kopf. „Vermutlich musstest du selbst erstmal damit klar kommen.“ Er lächelte verständnisvoll und Suzanne atmete erleichtert auf. Sie nickte, doch Bob hakte nach. „Und – kommst du damit klar?“
Suzanne presste die Lippen aufeinander und ihre Stirn legte sich in Falten. Sie ging in Gedanken noch einmal alle Gefühlsschwankungen durch, die sie seit der überraschenden Nachricht bei der Testamentseröffnung durchlebt hatte. Schließlich gab sie Bob die vielleicht ehrlichste Antwort, die sie geben konnte: „Ich werd’s wohl müssen.“