Hach ja... Übermorgen, nü?
So wie man plant und denkt, so kommt es nie...
Dann eben jetzt.
Ist für mich auch jedes Mal ne Art Erlösung.
Kapitel 8.3
Er schweigt. Ich schweige, obwohl ich eigentlich so viele Dinge sagen will, zu sagen hätte. Obwohl eine geladene Stille entsteht, scheint er den Ernst der Lage nicht zu erkennen, denn er hält an seiner Unschuldsmiene fest. Er muss reden. Ich habe ihm eine Frage gestellt, und er hat darauf gefälligst zu antworten. Obwohl ich es nicht müsste, rede ich nun weiter. „Was willst du?“, frage ich, versuche es, kalt und unnahbar klingen zu lassen. Ich weiß wirklich nicht, was er um diese Zeit hier tut, womit er mich nun wieder belangen will.
Leise beginnt er zu sprechen, mit jedem Wort wird seine Stimme lauter. „Falls ich Euch erschreckt haben sollte, bitte ich vielmals um Verzeihung...“ Als er einen Schritt auf mich zu macht, weiche ich ebenfalls zurück. Er soll den Abstand einhalten. Ich traue bestimmt niemandem, der entgegen der Vorschriften nur mit einer Kerze aus dem Haus geht. „Komm auch nur noch eine Fingerbreite näher und ich schreie“, warne ich ihn mit eisernem Blick. Das würde ich tun, und er könnte mich nicht daran hindern. Um das Gespräch wieder auf das Nötigste zu reduzieren, rede ich schnell und bestimmt weiter: „Du hast meine Frage immer noch nicht beantwortet.“
Das Blut pocht wild in meinen Schläfen, erhitzt durch den immer wieder aufsteigenden Zorn. Es gäbe einige Dinge, die ich zu sagen hätte, die ausgesprochen gehörten. Trotzdem schweige ich und beruhige mich langsam. Zu groß ist doch die Gefahr, dass Beleidigungen sich unter die Worte mischen, dass ich meine und die Ehre meiner Familie beschmutze. Ich erwache aus meinen Gedanken, als einen kleinen Lederbeutel hinter dem Rücken hervorzieht und es mir mit weit ausgestrecktem Arm entgegenhält, als sei es etwas Widerwärtiges, das es so schnell wie möglich loszuwerden gilt.
Obwohl sich alles in mir dagegen sträubt, strecke ich meine Hand aus, um ihm den Beutel abzunehmen. Meine Finger zittern dabei, ich bete, dass er es nicht sieht. Ich nehme Haltung an, fasse mich, atme nicht mehr. Was auch immer er dir geben will, was auch immer sich darin befindet, sei höflich und nimm es an, auch wenn er das nicht verdient. Lass es nicht zu lange dauern, du bist müde, du musst nach Hause. Und achte darauf, dass du ihn ja nicht berührst.
Als ich das Leder rauh zwischen meinen Fingern spüre, schließe ich sie sofort zu einer Faust und entreiße es Vallentin mit ganzer Kraft. Erst nachdem ich mich auf einen angemessenen Abstand entfernt habe, wagt er es, sich wieder zu bewegen und mich auf seine übliche, sich keinerlei Schuld bewussten Weise anzustarren.
Glücklich bemerke ich, dass es vorüber ist. Wie ruhig ich wieder bin. Mein Atem geht gleichmäßig, sowohl Hitze als auch Kälte haben das Weite gesucht. Und auch wenn er mir meine Frage immer noch nicht beantwortet hat, mir nur den Lederbeutel in die Hand gedrückt hat, hat er anscheinend alles, was er wollte. Ich bin und bleibe ab jetzt ruhig, höflich und gelassen. Ich will mich gerade abwenden, um endlich nach Hause zu gehen, erschöpft, wie ich nun bin, öffne nebenbei aber noch den Beutel ein kleines Stück.
Lange besehe ich mir das fein gewebte Leinen, das herausspitzt, die hübschen Stickereien, die ich trotz der Dunkelheit erkenne, überall wiedererkennen würde. Es ist meines. Es ist es, war es und wird es immer sein. Das Tuch, dass mir vor ein paar Tagen... Sagen wir, es ist mir abhanden gekommen.
Ich sehe auf. Er steht einfach nur da, sein Blick, wie sollte es auch anders sein, unschuldig, vollkommen neutral, vielleicht auch ein wenig erwartungsvoll. Fassungslos ringe ich nach Atem, bekomme kaum Luft, mein Herz pocht laut gegen meinen Brustkorb. Wie kann er es wagen. Bestimmt erwartet er Dank. Bestimmt war das alles geplant, von ihm und seinen kleinen Freunden. Obwohl ich alles versuche, mich zurückzuhalten, höflich zu sein, den Zorn nicht zuzulassen, gelingt es mir nicht. Das war zu viel.
„Wie kannst du es wagen, wie könnt ihr das wagen?“, frage ich ihn, laut und grollend. Soll er meine Wut doch spüren. Sein Verhalten hat keine Freundlichkeit verdient, das ist jetzt vorbei. Ihn scheint es kaum zu berühren, er verzieht keine Miene. „Was meint Ihr?“, lautet seine einzige Antwort. Entweder ist er schwer von Begriff geworden, oder er will einfach nur den Ahnungslosen spielen. Beides wäre sehr bedauerlich für ihn. „Du weißt genau, wovon ich spreche! Deine tollen Freunde stehlen mir mein geliebtes Tuch und verletzen mich beinahe dabei, und nun gibst du es mir in heldenhafter Manier zurück!“
Kurz fühle ich mich wieder in das vergangene Geschehen versetzt, höre wirre Rufe und heiteres Gelächter der zahlreichen Menschen auf unserem Marktplatz. Spüre den Moment des Schreckens, der scheußlichen Hilflosigkeit, in dem die jungen Männer auf einmal aus der Menge kamen, das Tuch von meinem Korb rissen, mich dabei rücksichtslos und rüpelhaft umstießen und schließlich so schnell wieder verschwanden, wie sie gekommen waren. Ich blieb in der Menschenmenge allein zurück, allein mit all den um mich herum verstreuten Waren, allein mit meiner unerhörten Wut.
Eben jener Ärger kriecht mir nun immer noch durch den ganzen Körper, als ich meine Erinnerungen wieder in die hinterste Ecke meines Kopfes verdränge und ich mich wieder Vallentin zuwende. Und tatsächlich spiegelt sich statt der langweiligen Harmlosigkeit auf einmal eine seltsame Verwirrung in seiner Miene, die kleine Narbe an seinem Kinn zuckt nervös. Womöglich ist auch Furcht darunter. Leider ist es zu dunkel, um seinen Blick genauer deuten zu können. „Aber ich dachte… Ich wollte doch nur…“, tönt es schließlich leise und stockend von ihm.
Einige Augenblicke lang steht er nur da und reibt sich den Nacken. Er erscheint ratlos, wahrscheinlich, weil sein und seiner Freunde Plan fehlgeschlagen ist. Verdient hat er das. Auch wenn ich ihm nun einiges sagen könnte, schweige ich und knete beruhigend den ledernen Beutel in meinen Händen. Was ich gesagt habe, reicht vollkommen aus.
„Philine!“
Erschrocken blicke ich auf, direkt in Vallentins Gesicht. Vielleicht will er sich für alles entschuldigen. Doch statt des betretenen Ausdrucks, der nun angemessen wäre, zeigt seine Miene eine erleichterte Überraschung. Außerdem sind seine Augen nicht auf mich gerichtet. Wie kann er das nur wieder tun? Mich anzusprechen und dann nicht mehr zu beachten. Und ich dachte, er würde Einsicht haben. Falsch. Ein Irrtum. Meine Wangen glühen vor Wut, sind wahrscheinlich schon die ganze Zeit hochrot.
„Philine!“
Erneut verkrampft sich mein Körper. Das war nicht Vallentins Stimme. Trotzdem kenne ich sie. Und eigentlich fürchte ich sie nicht. Ich glaube, man kann ihren Besitzer gar nicht fürchten. Der gute Martin. Im Moment weiß ich allerdings nicht, ob ich erleichtert oder peinlich berührt sein soll. Ich kann mir schon denken, was er hier will. Hurtig ziehe ich das Tuch aus dem Beutel, lasse ihn ins Gras fallen und verstecke das Leinen zwischen den Lagen meines Kleides. Dann setze ich ein müdes Lächeln auf und wende mich zu ihm um.
Atemlos kommt Martin neben mir an, erholt sich aber schnell wieder und begrüßt mich dann mit einer kleinen Verbeugung. „Philine! Ich habe Euch schon überall gesucht. Euer verehrter Großvater ist in großer Sorge um Euch.“ Das hatte ich mir schon gedacht. Hatte den Gedanken immer wieder, habe ihn aber verdrängt, um Leandros Erzählungen zu folgen. Schuldgefühle, die ich ignoriert hatte, überfallen mich, Schuldgefühle darüber, einem lieben Menschen Sorgen bereitet zu haben.
Martin hebt seine Laterne. Wieder leuchtet mir jemand ins Gesicht. Warum weiß niemand, dass ich das nicht leiden kann? „Es war, als hätte der Erdboden Euch verschluckt. Wo wart Ihr nur?“ Steht ihm diese Frage überhaupt zu? Auch wenn er die rechte Hand meines Großvaters ist, hat er damit noch lange nicht das Recht, mich so auszufragen.
Ich sehe zu Vallentin hinüber. Auch wenn er nichts weiß, nichts wissen kann, befiehlt mein Blick ihm Stillschweigen. Was tut er eigentlich noch hier? Er sollte selbst längst nach Hause gegangen sein. Ich kenne schließlich seine Eltern, sie sind auch nicht weniger sorgenvoll als die Mitglieder meiner Familie. Martin scheint ihn bis jetzt nicht bemerkt zu haben, denn auf einmal begrüßt er Vallentin freudestrahlend, so, als hätten sie sich jahrelang nicht gesehen.
„Vallentin! Wie schön, dich zu sehen.“ Martin überschlägt sich beinahe vor Herzlichkeit, während Vallentin nur lächelnd die Hand hebt und ihm zunickt. „Wenn Philine mit dir unterwegs war, dann ist ja alles in bester Ordnung.“ Was? Ich? Mit Vallentin? Wie kann er so etwas nur denken? Wie kann alles in bester Ordnung sein, wenn ich auf Vallentin treffe? Martin weiß gar nichts. Er ist töricht.
Trotzdem bleibe ich still. Aus gutem Grund. Auch wenn ich mich bei diesen Gedanken selbst hasse, es ist besser, wenn er das denkt. Besser, als das er weiß, wo ich wirklich war und was ich noch vorhabe. Das ist schlau, nicht wahr?
Aber je länger Martin und Vallentin beieinander sind, desto größer ist die Gefahr, dass dieser Junge es doch noch wagt, etwas auszuplaudern. Schnell wende ich mich unserem Hausknecht zu. „Martin, gehen wir nun nach Hause, um meinem Großvater alles zu erklären“, sage ich tonlos, es ist keine Frage, sondern ein Befehl. Er nickt sofort und verabschiedet sich von Vallentin, der sich darauf tief verbeugt. Während Martin schon vorangeht, um mir den Weg zu leuchten, werfe ich Vallentin einen letzten, warnenden Blick zu.
Fortsetzung folgt...
So... Vorletzter Kapitelteil abgehakt. Einer noch.
Mal sehen, ob ich die Outtakes und die fehlende Kommiantwort heut noch reinstellen kann.
Kommentare wären hier die schönsten Weihnachtsgeschenke!
Einen schönen Abend wünscht euch
Eure Appolonia