Kapitel 9.1
Und nun stehe ich hier im Brautkleid.
Es ist stickig im Zimmer, der samtige Stoff liegt schwer auf meinen Schultern, die bestickten Ärmel kratzen unangenehm auf meiner Haut. Die Schneiderin zieht, ihre Nadeln zwischen die Zähne geklemmt, ihre Kreise um mich, huscht hin und her, näht hier, schnürt da, steckt dort etwas ab.
Ich atme aus und sehe zu Boden. Die letzten Tage waren anstrengend, viel zu anstrengend. Allein das Gespräch mit Großvater will mir keine Ruhe mehr lassen.
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Großvater sah mich lange an, ohne irgendetwas zu sagen. Es waren endlose Minuten, in denen mir das Herz so heftig pochte, dass ich dachte, es bliebe gleich stehen.
Nervös blickte ich im Raum umher. Großvaters Arbeitszimmer war ganz anders als das restliche Haus. Er hatte es erst vor ein paar Jahren neu täfeln und einrichten lassen. Er sagt immer, dass die Erneuerung der Innenräume sein Anteil am Aufbau unseres Hauses sei.
Endlich stand er auf und ging mit langsamen Schritten um den Tisch herum, direkt auf mich zu. Erkläre ihm einfach alles, bleib ruhig und freundlich, sagte ich mir. Du hast es dir vorher überlegt. Einfach nur...
Und mit einem Mal brach alles aus mir heraus.
Meine ganzen Pläne, alle meine Vorsätze waren binnen einiger Sekunden dahin. Ich stürzte auf Großvater zu und umklammerte ihn so fest, als ob ich ihn danach nie wieder sehen würde. Meine Augen wurden feucht, meine Wut und meine Angst flossen in Tränen meine Wangen hinunter. Das einzige, was ich noch hervorbrachte, war ein ersticktes, in Silben zerfetztes „Tut mir leid“.
Ich weiß nicht mehr, wie lange wir in dieser Haltung verharrt haben. Großvater hatte seine Arme um mich gelegt und sprach mit leiser Stimme beruhigend auf mich ein. Ich weinte nur in den Stoff seines Gewandes und verstand kein einziges seiner Worte.
Irgendwann hörte ich auf zu weinen, vielleicht, weil ich mich beruhigt hatte, vielleicht, weil mir die Tränen ausgegangen waren. Langsam zog ich meinen Kopf zurück, wagte es aber nicht, Großvater in die Augen zu sehen. Ich schämte mich schrecklich dafür, weggelaufen zu sein, für die Worte wider Mutter, für mein langes Fortbleiben. „Es tut mir leid“, wiederhole ich, zwar heiser von den Tränen, aber wenigstens in einem Atemzug.
Großvater aber strich mir mit der Hand übers Haar und brachte mich damit dazu, doch meinen Kopf zu heben. „Es ist gut, mein Kind. Es ist ja niemand zu Schaden gekommen“, sagte er und trocknete meine Wangen mit dem seidigen Stoff seines Ärmels. Sein Gesicht war friedlich, liebevoll wie immer, nicht enttäuscht, aber auch nicht erleichtert, wie ich es eigentlich erwartet hatte. Ich schluckte und nickte schnell.
Dann ging Großvater zu seinem Lehnstuhl, nahm das Kissen herunter und legte es vor sich auf den Boden. Sofort folgte ich ihm, und noch bevor er etwas sagen konnte, saß ich schon auf dem Kissen. Er setzte sich, ich lehnte mich an ihn.
Großvater hat es immer gern, wenn wir so zusammensitzen, genauso wie ich. Als ich so zu ihm aufsah, fragte ich mich, warum ich mich so nach meinem Vater gesehnt hatte. Ich war nur wütend gewesen. Ich brauche ihn nicht. Ich habe Großvater. Er war einfach immer für mich da, vor allem dann, wenn Mutter es nicht war.
„Deine Mutter hat sich Sorgen um dich gemacht“, sagte Großvater, als hätte er meine Gedanken gelesen, „und sie möchte auch, dass du das weißt.“ Es fühlte sich gut an, das zu hören, und trotzdem zweifelte ich daran. Was ich tat, war ihr nicht egal. Obwohl ich stur bin. Obwohl ich sie beleidigt hatte. Aber warum sollte Großvater mir Dinge erzählen, die nicht wahr sind? Ich senkte den Kopf, schämte mich für diese Gedanken und dafür, mich vor Mutter verborgen zu haben.
„Das tut mir leid“, sagte ich und war mir sicher, dass ich es so meinte. Großvater lächelte und strich mir wieder übers Haar. „Dann solltest du ihr das sagen.“ Ich nickte. Großvater hatte Recht, wie immer. Nur war mir auch ein paar Tage danach, also bis heute, keine angemessene Entschuldigung eingefallen. Ich suche immer noch nach den richtigen Worten, nach der richtigen Gelegenheit. Ich suche und suche und suche und finde nichts, rein gar nichts.
Großvater durchbrach die Leere meiner damaligen Gedanken. „Martin sprach davon, dass Vallentin dich nach Hause bringen wollte.“ Ich sah zu Boden. So war es gar nicht, Martin hat das erfunden. Er hat Dinge hineingedacht, die eben nicht hinein gehören, gar nicht hinein gehören können. „Er hat mich und Vallentin angetroffen, ja“, sagte ich leise. Schweigen zu einer Unwahrheit war eigentlich nichts anderes als eine stumme Lüge. Andererseits waren das hier ja nur eine Kleinigkeit, eine Art Verzierung, eine Ausschmückung. Viele Leute schmückten ihre Geschichten aus.
Also schwieg ich weiter. Ich hätte auch gar nichts mehr sagen können, denn Großvater fuhr gleich fort: „Vallentin ist ein guter Handwerker und ein netter Bursche. Es ist schön, dass ihr wieder mehr Kontakt habt. Früher wart ihr viel öfter zusammen.“ Ich lehnte mich an Großvater. Früher. Was war das schon, was hieß das schon?
„Ja, das waren wir“, antwortete ich. Aber das war vorbei, das ist vorbei. Mag sein, dass er ein guter Handwerker ist. Sein Vater ist es jedenfalls, er hat das beste Schuhwerk weit und breit, das sagt Großvater immer. Wir sind alle sehr stolz darauf. Aber über Vallentins Können sagt das gar nichts. Ich dachte erst gar nicht darüber nach, ob er nett sei. Ich wollte nicht, dass der Ärger wieder über mich kam. Nicht in diesem Moment. Nicht hier bei Großvater.
Ich schmiegte mich an den Stoff seines Gewandes und fühlte mich so geborgen, so ruhig. Zum ersten Mal an diesem Tag, nein, zum ersten Mal seit Wochen. Erst jetzt fiel mir wieder ein, wie erschöpft ich eigentlich war, und ich musste unweigerlich gähnen. Meine Augen schmerzten, ich fühlte mich wie benommen. Obwohl ich versuchte, mich zusammenzureißen, hatte Großvater mein Gähnen und mein müdes Blinzeln wohl bemerkt, denn er fasste mir liebevoll an meine Schulter. „Du solltest zu Bett gehen. Es war ein langer Tag für uns alle.“
Sofort stand ich auf, entfernte mich einige Schritte und verbeugte mich leicht. Großvater hatte sich ebenfalls erhoben. Er strich mir durchs Haar und brachte mich damit wieder dazu, ihn anzusehen. Ich erschrak beinah. Seine Miene war mit einem Mal so seltsam. So ernst. Ich lächelte einfach unsicher weiter. „Philine;“ sagte er, seine Stimme war verändert, „streun nicht mehr herum, hörst du? Lauf nicht mehr ohne Begleitung draußen herum, vor allem nicht abends und nachts. Nie mehr, versprichst du mir das?“ Ich nickte, ohne an die Bedeutung dieses Versprechens zu denken. Wie und warum hätte ich widersprechen sollen?
Darauf lächelte er mich wieder freundlich an. „Morgen müssen noch einige eingegangene Waren kontrolliert und sortiert werden. Möchtest du deiner Mutter dabei helfen? Bei der Gelegenheit könntest du gleich mit ihr reden.“ Ich nickte noch einmal, obwohl ich damals noch einmal darüber nachdenken wollte, was ich zu Mutter sage. Außerdem waren die Waren, die zur Zeit eingingen, recht öde. Früher war es immer viel lustiger gewesen.„Ich wünsche dir eine gute Nacht“, sagte er und küsste sanft meine Stirn. „Ich wünsche Euch dasselbe“, erwiderte ich leise.
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Als die Schneiderin den Brustteil des Kleids noch enger zusammenschnürt, schnappe ich entsetzt nach Luft, kurz wird mir schwarz vor Augen.
„He!“
„Halt still! Es ist noch lange nicht perfekt!“
„Es ist ja auch zu eng.“
„Es ist ja auch nicht dein Kleid.“
Ich erwache. Sie hat Recht. Es ist nicht mein Kleid, es war es nie und wird es auch nie sein. Es gehört nicht mir, sondern der Schneiderin. Und die Schneiderin ist auch nicht irgendeine gewöhnliche Handwerkerin, sondern Magdalena, genannt Madlen, Tochter von Ulrich, einem Meister mit Nadel und Faden, und meine beste Freundin.
Sie wird dieses Kleid tragen, nicht ich.
Sie wird heiraten, nicht ich.
Fortsetzung folgt...
So. Freue mich wie immer über Kommentare.
Liebe Grüße
Appolonia