4x04: Das Schlimmste auf der Welt
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Das Schlimmste passiert immer dann, wenn man es am wenigsten gebrauchen kann.
Es kann die Milchtüte sein, die beim stressigen Samstagseinkauf nach einer halben Stunde an der Kasse stehen, plötzlich aufplatzt.
Oder ein Autounfall, den man auf dem Weg zu Arbeit hat, obwohl man so wieso schon spät dran war. Doch all diese kleinen Dinge sind nichts im Vergleich dazu, was einige Menschen durchleben, Dinge, die sich nicht im Supermarkt ereignen…
Als Rüdiger Himbert an diesem Morgen aufwachte, dachte er, er würde immer noch träumen. Der süßliche Geruch von Lavendel und Rosmarin lag in der Luft. Dazu die warmen Sonnenstrahlen, die seine blasse Haut vitalisierten. Doch all diese wundervollen Eindrücke waren nichts im Vergleich zu dem, was neben ihm gebettet lag. Das wundervollste, dass er sich überhaupt vorstellen konnte: Seine Frau.
Er lächelte, er strahlte, ja er frohlockte formlich. Er liebte sie. Er hatte sie die ganze Zeit über geliebt. Und daran konnte nichts etwas ändern. Selbst dieser blöde Krebs nicht, an dem Nelly litt. Das würde sie überstehen. Sie musste es einfach.
Nachdenklich starrte Rüdiger an die Decke des Zimmers. Nelly hatte sich fast ein halbes Jahr nicht bei ihm gemeldet, war einfach verschwunden gewesen. Sie hatte Angst gehabt, hatte sie ihm gestern Abend erzählt. Sie hatte Angst gehabt, dass er an ihr zu Grunde gehen würde. Sie hätte nicht gewollt, dass er mitansehen musste, wie sie dahin vegetierte. Rüdiger konnte das gar nicht verstehen. Er würde seine Frau doch immer lieben, ihr immer beistehen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht?
Nathalie Himbert hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. War es vor Glück? Vor Freude? Oder waren es bloß diese unerträglichen Schmerzen? Ganz gleich was es war, Tatsache war, dass sie Angst hatte. Angst, dass jetzt alles schief gehen würde. Aber was konnte denn noch schlechter laufen, als ohne hin schon? Wenn man am Boden ist, dann kann man eben nicht weiter sinken. Und Rüdiger konnte ihr vielleicht doch eine Hilfe sein. Zumindest solange es noch ging.
Bei dem Gedanken wurde ihr schlecht. Es musste alles gut werden. Aber wie? Was wäre, wenn Rüdiger die Wahrheit erfahren würde? Würde er dann immer noch zu ihr stehen? Würde er ihr noch vertrauen? Aber andererseits hatte sie keine Wahl. Sie wurde schließlich dazu gezwungen. Es war alles so kompliziert…
„Schatz, bist du wach?“, fragte Rüdiger schüchtern. Nelly drehte sich zu ihm und lächelte. Ihr kahler Kopf reflektierte die morgendlichen Sonnenstrahlen.
„Ich bin froh, dass du bei mir bist.“
„Nelly, ich weiß nicht, warum du geglaubt hast, dass ich dich nicht krank sehen wollen würde. Es ist mir egal. Wir stehen das durch.“
„Wenn du das sagst.“ Nelly wusste, dass Rüdiger nicht mehr gehen würde. Er war treu wie ein Hund und genau das schätze sie an ihm sehr. Umso trauriger war es, dass dieser treue Hund bald sein Herrchen verlieren würde. Denn egal, was sie ihm auch erzählte, sie wusste, dass sie sterben würde. Und das schon bald.
„Ja, wir stehen das zusammen durch.“, sagte Nelly und lächelte Rüdiger glücklich an.
Ja, das Schlimmste auf der Welt kommt manchmal ziemlich plötzlich. So plötzlich, dass die ganze Welt es kaum glauben kann…
„Das ist ein Desaster!“, rief Laura Ewert und knallte Magdalena McBryan die Zeitung auf den Schreibtisch.
„Laura! Was sollen das?“ Entsetzt starrte die Frau des toten Präsidenten die Beraterin an.
„Weißt du eigentlich, was da draußen vor sich geht? Die Menschen verurteilen deine Pläne wegen dem Hausbau.“
Magda setzte eine abweisende Mine auf und sah auf den Bildschirm ihres Notebooks, dass ein Bild ihrer Heimatstadt Simaluk zeigte. So schäbig und vergammelt, zerbombt und vernichtet es auch war, irgendwie hatte sie sich dort immer wohl gefühlt. Ganz im Gegensatz zu dieser komplizierten westlichen Welt. In Simaluk hätte sich die Bevölkerung niemals so ungehobelt ihrem Präsidenten oder dessen Frau verhalten. Diese Freien Welter hatten einfach einen Anstand.
„Die sollen sich nicht anstellen so. Ich bin trauernde Witwe! Irgendwie muss ich das verarbeiten!“, meinte Magda in gebrochener Sprache.
„Und genau aus diesem Grund glauben Sie dir es nicht. Hast du jemals ein Wort zur Presse gesagt, dich irgendwie medienpräsent gezeigt? Nein, du sitzt hier in deinem Büro und verkriechst dich! Und erzähl mir nicht, du würdest trauern. Du hast ja nicht einmal den Anstand um schwarz zu tragen.“
Stimmt, dachte sich Magda und sah an sich herunter. Sie trug ihre helle Bluse. Erst jetzt bemerkte sie, dass Laura hingegen in gediegenem Schwarz auftrat.
Aber hier war sie ja so oder so unter sich.
„Die Presse ist mir egal. Ich bin First Lady!“
„Warst! Dein Mann ist tot und um Himmels Willen, begreif es endlich!“ Laura wurde langsam immer lauter. Man konnte ihr die Empörung und Wut förmlich im Gesicht ablesen. Magda wusste, dass sie den Präsidenten sehr geschätzt hatte. Klar, wer nicht. Jeder hatte den alten Sack geliebt, das ganze Land war verrückt nach ihm gewesen.
„Magda, die PR-Abteilung läuft heiß, die Telefone stehen nicht still. Wann sagst du etwas vor der Kamera?“
„Das mussen warten. Ich möchten, dass du unseren Flugzeug bereit machst. Wir fliegen nach Rierview.“
„Was?“ Laura verstand die Welt nicht mehr. War sie jetzt vollkommen verrückt geworden?
„…d…d…das kann nicht dein Ernst sein? In einer Stunde übernimmt der Vizepräsident offiziell das Amt und du verschwindest einfach?“
Magda warf Laura einen warnenden Blick zu und sagte dann nur noch harsch:
„In einer Stunde!“
Laura wollte etwas sagen, fuchtelte mit den Armen in der Luft herum, beließ es aber dabei und stampfte aus dem Raum.
Bild16: Magda am Fenster ohne Brille
Als Laura gegangen war zog Magda ihre Brille aus, stand auf und ging ans Fenster. Sie hatten alle keine Ahnung. Sie dachte wohl alle, das hätte etwas mit dem Tod ihres Mannes zu tun, doch da irrten sie sich. Magda interessierte das alles nicht mehr. Sie hatte nur ein Ziel vor Augen. Ein Ziel, auf das sie die letzten Jahre zugearbeitet hatte. Und in wenigen Stunden würde es so weit sein…
Leopold von Werken hatte in seinem Leben schon viele lange Nächte hinter sich gebracht. Schon als Student hatte es kaum ein Wochenende gegeben, an dem man ihn nicht auf irgendeiner Party, in Diskotheken oder an der Strandbar angetroffen hatte. Damals hatte er die nächste meist gut überstanden. Klar, einen Kater hatte er des Öfteren, aber das gehörte ja dazu. Doch was ihm letzte Nacht passiert war, das war eine Premiere. Er hatte einen totalen Blackout.
„Sie sehen schrecklich aus Herr Bürgermeister…“ wisperte er sich selbst zu, als er sein müdes Gesicht im Spiegel betrachtete. Dunkle breite Augenringe dominierten sind Gesicht, woraufhin er reflexartig den Blick vom Spiegel abwandte. Er musste sich nicht mehr quälen als er ohnehin schon tat. Was hatte er nur die ganze Nacht getrieben? Wo war er gewesen? Je länger er darüber nachdachte, desto mehr wurde ihm bewusst, dass er sich nicht mehr erinnern konnte. Das letzte, was er noch wusste war, dass er jemanden kennengelernt hatte. Einen Mann, einen alten Freund?
Wer auch immer es war, er hatte ihm von Annette erzählt und dass sie ihn Hals über Kopf verlassen hatte. Sie fehlte ihm. Dabei war sie gerade einmal einen Tag weg. Er sah zu seinem Handy, dass auf der Kommode lag. Das Display war schwarz; keine neue Nachricht. Sie hatte nicht angerufen, sich nicht gemeldet. Vielleicht hatte er es verdient. Nein, ganz sicher hatte er das. Und sie hatte es herausgefunden und war nun fort. Er honte jetzt nur hoffen, dass sie nicht zur Polizei ging. Wenn das rauskommen würde, wäre er schneller hinter schwedischen Gardinen, als ihm lieb war.
Gerade als er ins Bad gehen wollte, klingelte plötzlich das Handy.
„Hallo? Annette?“, fragte Leopold erwartungsvoll, doch am anderen Ende der Leitung meldete sich eine Männerstimme.
„Nein, ich bin nicht Annette, Herr Bürgermeister.“ Die Stimme klang sehr verschmitzt, schon fast hämisch.
Ja, der Morgen nach einer durchtrunken Nacht kann hart sein, doch manche Nächte stellen sich als die Schlimmsten auf der Welt heraus…
„Wer sind Sie?“, fragte Leopold verwirrt.
„Ich weiß Sie letzten Sommer getan haben und was noch wichtiger ist, was die damit bewirkt haben …“