Teil 4
Dank meiner Schlafstörungen entschloss ich mich letzte Nacht, auf mein Fahrrad zu steigen und ein wenig durch die Stadt zu fahren. Die Luft war lau und roch nach dem vergangenen Tag, doch man spürte in weiter Ferne schon den nächsten heran nahen. Ich reihte mich in die wenigen Fahrzeuge ein, die zu dieser Tageszeit unterwegs waren und trat in die Pedalen. Als ich die Karl-Marx-Strasse entlang fuhr, die geradewegs auf den Alexanderplatz führt, kam mir alles lang und qualvoll vor. Ich sah die Gebäude, die die Strasse säumten, und sah das standhaft feste. Ich sah den Fernsehturm und erblickte das Unerreichte. Ich passierte das Rathaus und spürte Macht gepaart mit Schönheit. Ich fuhr am Brandenburger Tor vorbei und dachte an das Getrenntsein. Die Friedrichstraße Prunk und Protz. Die Prostituierten an der Oranienburger Strasse vermittelten mir Leid und Hilflosigkeit, indem sie mir lächelnd zuzwinkerten, während ihre Seelen verkümmer-ten. Die belebten Bars und Cafes wiesen mich in Freun-deskreis und gaben Geborgenheit und Güte. Die Spree, an dessen Ufer ich saß, führte mir die Vergänglichkeit und das Nicht-Wiederkehren vor die Augen.
Und als ich wieder zu Hause ankam, überkam mich Me-lancholie, in Hand mit der Schwester Nostalgie, denn das Leben findet auch um einem herum statt, nicht nur in ei-nem selber:
Sie sahen uns an, als wären wir aus einem Krieg zurück gekehrt, als wir am ersten Schultag nach den Sommerfe-rien durch die Gänge der Schule schlenderten. Lustlos lagen unsere Rucksäcke auf unseren Rücken, die, wie jeder meinte, hilfsbereit und anteilnehmend klopfen zu müssen.
Die Beerdigung fand vor zwei Wochen statt, die halbe Stadt war da gewesen. Sogar der Bürgermeister, welch noble Geste für den Wahlkampf. Es war eine Trauerfeier, die wir später im Alkohol ertränkten. So war dem wenigs-tens ein Rausch abzugewinnen.
Wir setzten uns in einer Mischung aus stiller Trauer und dem Wissen, das der Alltag uns wieder hatte, auf unsere Plätze im Klassenzimmer.
Den Stuhl und den Tisch, an dem Dennis immer saß, hatte man in einen anderen Raum gestellt. Wenigstens blieb uns das erspart. Unsere Lehrerin kam mit gesenktem Kopf in die Klasse und begrüßte uns, nachdem sie tief Luft holte, im neuen Schuljahr. Ihr Blick wanderte zwischen den Reihen hindurch, tastete nach Antworten und Trost. Entge-gen aller Erwartungen schwieg sie über das Geschehene und widmete sich dem Unterricht. Das traditionelle „Was habt ihr denn in euren Ferien gemacht?“ blieb vor der Tür. Während der Stunde sah ich ständig hinüber zu Chris, der Gedanken verloren aus dem Fester blickte. Ich sah, das er mit den Tränen kämpfte. Nach der Stunde gingen wir ge-meinsam aus dem Raum.
„Ich muss hier raus, Norm. Wo ist Cyrus?“, sagte er und sah sich um.
„Der ist schon im Erdkunderaum. Er hält doch im Wahl-fach heute seinen Vortrag“, meinte ich und sah Chris tief in die Augen. Sie schienen ein Fenster in seine Seele zu sein, die trübe und dunkel in seinem Inneren umher trieb.
„Komm schon“, sagte er und wir machten uns auf den Weg zur Ausgangstür.
„Wo willst du hin?“, fragte ich ihn. Alle die wir begegne-ten, verstummten in ihren Gesprächen und blickten uns fragend nach.
„Einfach nur raus hier“, sagte er stumpf und ging zu den Fahrrädern, die vor der Tür angeschlossen waren. Ohne nach zufragen schloss ich mein Fahrrad ab und wir fuhren vom Schulhof. Chris fuhr vor mir. Ich musste ihn immer wieder sagen, er solle doch auf die Autos aufpassen, denn er fuhr, als wäre er der einzige, der auf der Straße unter-wegs war. Nach Minutenlangen Fahren stellte sich heraus, das er auf dem Weg zum See war. Als wir ankamen, stell-ten wir unsere Fahrräder gegen die Ulme und begaben uns zum Strand, wo sich Chris hinsetzte und augenblicklich anfing zu weinen. Ich nahm ihn ohne ein Wort zu sagen in die Arme und gemeinsam weinten wir bestimmt eine halbe Stunde. Wir vergaßen alles um uns herum, ließen die Welt Welt sein. Die Tränen schmeckten salzig und bitter.
„Weißt du, irgendwie ist das alles doch echt ein großer Haufen stinkender Mist“, meinte Chris mit geschlossenen Augen. Sein Kopf ruhte an meiner Schulter, die von ver-gossenen Tränen ganz feucht war.
„Ja, da hast du recht. Und wir sitzen mitten drin“, sagte ich. Der Tag war warm, nur wenige Wolken nahmen die Sicht auf einen azurblauen Himmel. Chris holte seinen Rucksack und reichte mir einen Joint, den ich ungläubig ansah.
„Was ist?“, fragte er.
„Sieh mal auf die Uhr“, meinte ich.
„Lass jetzt mal deine Moral zu Hause. Hier, ein Feuer-zeug.“ Er reichte es mir und wir flohen in die Welt, die Zuspruch versprach.
Eine zeitlang saßen wir nur aneinander gelehnt da und hingen unseren Gedanken nach.
„Haben wir ihm eigentlich jemals gesagt, das wir ihn lieb-ten?“, fragte Chris mit leiser Stimme.
„Mit Worten nicht direkt. Aber wir haben es ihm gezeigt.“
„Wir haben es ihm aber nie gesagt, oder?“
„Wenn man von deinen Sprüchen absieht, kann ich mich nicht mehr dran erinnern“, sagte ich und lächelte.
„Ich fühle mich so s......, weißt du das?“ Die Tränen kämpften sich ihren Weg nach außen.
„Du weißt ganz genau, das dies alles irgendwie ein Rennen ohne Ziel ist, also brauchst du dich auch nicht an die Re-geln zu halten.“
„Ich glaube, er wäre ein hervorragender Wasserballspieler geworden. Ich meine, gegen uns hatte er keine Chance, aber schlecht war er ja nicht“, sagte Chris, während er auf den See blickte, der friedlich vor uns lag.
„Ja, das wäre er, und viel mehr.“
„Weißt du noch, wie er immer in der Nase gepopelt hat, wenn er im Sportunterricht auf der Ersatzbank saß? Oder wie er Gott verfluchte, als er beim Campen nicht an den Baum im Wald kacken konnte?“, frage Chris und wir lach-ten.
„Wenn er was getrunken hat und er lachen musste, kam es ihm immer, aber wirklich immer aus der Nase raus.“
„Immer wenn wir irgendwo zusammen bei jemandem zuhause waren und geraucht hatten, schrieben wir gemein-sam eine kleine Geschichte. Der Block und der Stift gingen immer herum, egal ob wir mit jemandem quatschten oder nicht. Am Abend haben wir immer ein wenig daran herum geschrieben. Wenn ich an der Bong gezogen habe, gab ich ihm den Stift und das Papier. Habe dann mit jemandem gefeiert und dann war ich wieder dran. So ging das immer. Zum Schluss hat er an meinem Kontext und Syntax her-umgemeckert und ich beschuldigte ihn, das er die Charak-tere zu sehr vernachlässigt. Wir haben viele Geschichten gemeinsam geschrieben. Die meisten hatte er. Vielleicht hat die Mutter sie noch“, sagte ich und zog am Joint.
„Und diese Gitarre. Man, der konnte vielleicht spielen. Hatte echt was auf dem Kasten. Ich meine, sie gehörte zu seinem Körper“, sagte Chris und zog auch einmal.
„Ja, er machte einem die Abende am Lagerfeuer zu einem Erlebnis.“
„Er nannte mich immer Chrissi-o. Ich hasse das. Und das wusste er genau“, weinte Chris wieder. Seine Augen waren rot vom Cannabis und rot vom Schmerz. Ich nahm ihn in den Arm und wiegte ihn. Wie eine Mutter ihr Kind, das weinend aus dem Schlaf erwachte. Die Welt gerann zu einem Gefühl, das Freud und Schmerz nur teilte, wenn man es mit jemandem teilen konnte. Und wir, die geblie-ben waren, hatten nichts anderes.
„Schon gut“, murmelte ich ihm ins Ohr. Sein Körper zitter-te, sein Herz sprang und seine Tränen wurden dunkler. Die Vögel schwiegen und horchten unserer Offenheit. Wir saßen diesen Tag noch Stunden am See, und haben ge-weint, gelacht und zusammen gegen eine Macht gekämpft, die das Sterben so schwer macht. Und als wir uns trennten um nach Hause zu gehen, dachte ich, etwas von mir hat mich gerade verlassen. Und das fühle ich Heute noch im-mer.
Ich fuhr in die Garage und stellte mein Fahrrad an die Wand. Leise schlich ich mich durchs Haus, denn ich hatte wenig Lust zu sprechen. Ich legte mich in mein Bett und dachte über einiges nach, und als ich schlief, wurde ich erlöst.
Ja, Schlafen, das konnte ich früher. Heute würde ich das auch gerne wieder können, um vielleicht einiges besser zu verstehen. Es verarbeiten zu können, darüber nachzuden-ken, wenn man schläft, ohne sich eine Meinung darüber bilden zu müssen. Einfach nur weinen zu können. Schlafe drüber? Ich wünschte es von ganzem Herzen.
Und die Moral von der Geschicht’? Drogen sind nicht der Weg, Kummer und Sorgen zu verdrängen, denn sie ma-chen es oftmals schlimmer. Denn man denkt intensiver darüber nach, und deshalb fällt man leicht in Depressionen. Man hat ein weiteres Ausmaß der Geschehnisse vor Au-gen, es ist um vieles schlimmer. Also wenn, dann nur, wenn ihr euch gut fühlt, okay?
Liebe Grüße, Pilatus.
Anmerk.: Dieser Beitrag dient einzig und allein der Aufklärung gegenüber Drogen und nicht als Anreiz, Drogen zu konsumieren.