Kapitel 6 - Finstere Absichten
"Dein loses Mundwerk werde ich Dir schon noch austreiben, Du Unglücksbalg!", zischte sie mich an. "Wenn Du nicht Dein Maul halten kannst, will ich Dich nicht hier haben. Knochen!!!", brüllte sie lautstark. Da kam Schlotterknochen angeschlichen.
"Hol den Schornsteinfeger! Ich hab was mit ihm zu bereden!"
Schlotterknochen kratzte sich am Kopf.
"Es ist doch noch nicht lange her, dass er da war. Ich glaube, bei uns muss nicht gefegt werden."
"Du sollst gar nichts glauben! Du sollst sagen, dass er herkommen soll. Sag ihm, ich hab was für ihn."
Und so kam nach einiger Zeit der Schornsteinfeger. Er hatte sich wohl schon denken können, was Hühnervettel für ihn haben mochte, denn er hatte Geld dabei. Und das, was Hühnervettel für ihn hatte, war nicht immer leicht zu kriegen, und auch nicht ganz billig. Das, was sie für ihn hatte, das war nämlich ich!
Ich wurde ganz still. Das hätte ich nicht mal von Hühnervettel gedacht.
"Ich nehme aber nur kleine Jungen.", sagte der Schornsteinfeger.
"Aber manche nehmen auch kleine Mädchen!", sagte Hühnervettel entschlossen.
"Guck mal, wie dünn sie ist. Und gut klettern kann sie auch. Die geht auf die höchsten Bäume!"
"Sie ist zu alt.", sagte er widerum.
"Nein, nein!", sagte Hühnervettel. Und dann hat sie gelogen, und gesagt ich wär elf. Ich wusste nicht genau, wie alt ich war, aber wohl ein paar Jahre älter.
"Dann ist sie aber groß für ihr Alter!", sagte der Schornsteinfeger und schielte zu mir herüber.
"Gib ihr einfach nicht viel zu essen, dann wird sie schon nicht größer.", schlug Hühnervettel vor.
"Sie ist genau passend und kommt durch die engsten Schornsteine. Wenn sie mal stecken bleibt, machst ihr einfach ein bisschen Feuer unter´m Hintern. Das hilft dann schon. Du kriegst sie auch ganz billig."
Ich konnte nichts sagen und mich nicht rühren. Ich stand ganz starr da. Natürlich hatte ich schon von Eltern gehört, die ihre Kinder an den Schornsteinfeger verkaufen, aber doch nur, wenn die Kinder sonst verhungert wären.
"Ich will nur ´n Goldstück für sie haben."
Da sah ich, wie die trüben Augen vom Schornsteinfeger plötzlich anfingen zu leuchten.
"Also gut.", sagte er. "Aber ich kann sie erst morgen holen. Hab heute noch was zu tun."
"Aber das Geld will ich sofort!", schrie Hühnervettel.
In diesem Augenblick kam Dick Johnson zur Tür herein.
Dick ist ein armer Junge, der Sohn vom Schullehrer. Aber der Vater ist gestorben, und Dick und seine Mutter mussten aus dem Schulhaus raus. Jetzt wohnen sie in einer elenden Hütte direkt am Meer und halten sich mit Fischen am Leben.
"Was willst Du?", fauchte Hühnervettel.
"Fragen, ob Du Makrelen kaufen willst.", sagte Dick.
"Warte.", brummte sie ärgerlich.
Dann wandte sie sich an den Schornsteinfeger. "Her mit dem Geld!"
Langsam, als ob es ihm am ganzen Körper weh tun würde, langte der Schornsteinfeger in die Tasche und zog eine Goldmünze heraus.
"Da!", sagte er. Hühnervettel biss auf die Münze.
"In Ordnung.", sagte sie..
Das konnte nicht wahr sein. Ich sah Dicks Blick, als er da stand und auf die Goldmünze glotzte. So einen hungrigen Blick hab ich selten gesehen.
Als der Schornsteinfeger ging, war es, als ob ich erwachen würde.
"Ich verschwinde, ich hau ab!", schrie ich. Aber das war nicht so einfach. Hühnervettel packte mich am Handgelenk und wollte mich davonzerren - bestimmt ins Gästezimmer.
Aber da wurde ich lebendig, hab getrampelt und um mich geschlagen. Ich war sogar stärker als Hühnervettel und konnte ihr beinahe entkommen. Doch da rief sie nach Dick.
"Hilf mir, Dick. Du kriegst nen Schilling, wenn Du mir hilfst, sie nach oben zu schaffen."
Da wurden seine Augen noch viel größer. Er packte mich am anderen Arm und zu zweit zerrten sich mich die Treppe hoch und warfen mich ins Gästezimmer. Dann schloss Hühnervettel ab. Anscheinend hatte sie auf dem Weg nach oben irgendwo nach dem Schlüssel gegriffen.
Ich stand an der Tür und hämmerte dagegen. Da hörte ich Schlotterknochens Stimme.
"Was ist denn hier los?", fragte er.
"Ich habe dafür gesorgt, dass Sally in die Lehre kommt.", sagte Hühnervettel.
"Aber jetzt will sie nicht einsehen, dass es für sie das Beste ist."
"Was für eine Lehre?", wollte er wissen.
"Beim Schornsteinfeger.", sagte sie. Und da hörte ich Schlotterknochen das erste Mal in meinem Leben schreien.
"Nein, Mary, nein! Das kannst Du nicht, das kannst Du nicht!"
"Und ob ich das kann, wart´s nur ab!", sagte sie entschlossen. "Und jetzt halt´s Maul, sonst geh ich zu Dr. Livesey, und Du weißt bestimmt, was ich dem zu erzählen habe!"
Dr. Livesey war der Friedensrichter bei uns im Dorf. Da wurde es plötzlich ganz still. Anscheinend hatte sich Schlotterknochen wieder verkrochen. Und da fing ich an, zu weinen. Ich wollte mich ins Bett legen.
Da hob ich die Bettdecke hoch, und was sah ich da: Feine Spitzen, von denen selbst ich wusste, dass sie kostbar waren. Und jetzt kapierte ich, was die kleine Frau unter dem Kleid versteckt hatte, und ich kriegte neue Hoffnung. Sicher würde Billy bald kommen, um die Spitzen zu holen. Und er würde Erbarmen mit mir haben und mich frei lassen.