Sie riefen mich in den Konferenzraum. Mama und Eva saßen in bequemen Korbstühlen, und auch ich ließ mich in einem nieder. Mama sah mich böse an. Ich wusste genau, dass die beiden mir nichts Gutes zu berichten hatten.
"Gyani, Dein Vater und ich lassen uns nun endgültig scheiden. Wir haben beschlossen, Dich in ein Internat zu schicken. Hab keine Angst, dort wir es Dir bestimmt gefallen, und es ist gar nicht weit weg von zu Hause. Du kannst alle zwei Wochen nach Hause."
Ich starrte sie nur verdutzt an. In ein Internat wollten sie mich schicken? Mein eigener Vater, oder zumindest der, den ich für meinen Vater gehalten hatte? Das konnte doch nicht wahr sein. Wollte er mich doch nicht mehr als Tochter haben? Nun mischte sich auch Eva ein.
"Du kannst dort einen guten Schulabschluss machen, und wenn Du fertig bist und alt genug, um Deinen Vater zu besuchen, kannst Du Dich auch allein auf die Reise nach Berlin machen. Das ist doch ein Kompromiss, nicht wahr?"
Ich schüttelte nur den Kopf, dachte eine Weile nach. Dann fing ich an zu Schreien: "Du glaubst doch nicht wirklich, dass Du das alles so einfach abtun kannst, Mama?! Schließlich warst Du es, die fremd gegangen ist, nicht ich. Und jetzt willst Du mich in ein Internat schicken, mich einfach wegschaffen, weil man Dich ertappt hat? Nicht mit mir. Das mach ich nicht."
Mama fing an zu weinen. Das tat sie immer, wenn sie nicht mehr weiter wusste. Ich empfand keinerlei Mitleid für sie.
"Ich weiß, dass ich damals einen schrecklichen Fehler gemacht habe, Gyani. Es tut mir wirklich leid. Ich weiß nicht mehr weiter. Bitte richte Dich jetzt nicht auch noch gegen mich, wie Dein..." Sie schwieg. Wie mein Vater, wollte sie sagen, doch er war nicht mein Vater. Alles war gelogen. Alles. Mir wurde heiß und kalt zugleich. "Mir ist schlecht.", sagte ich. Eva erlaubte mir, auf die Toilette zu gehen. Ich traf auf dem Weg dorthin Jürgen.
"Hey Kleine, was los mit Dir?", fragte er mich.
"Ich muss... ich muss hier weg.", stotterte ich.
"Komm mit, ich kenn ein cooles Versteck. Da findet Dich niemand." Und so ging ich mit ihm. Es war ein weiter Fussmarsch, bis wir schließlich vor einem ziemlich heruntergekommenen Wohnblock standen, dessen Wände mit Graffiti beschmiert waren. Wir gingen rein und standen in Jürgens Reich. Er teilte sich die Bude mit zwei anderen. Alles war alt, jedoch ziemlich sauber, wie ich feststellen musste.
"Zieh das hier an, Du musst mitkommen, ich muss heut noch arbeiten.", sagte er plötzlich und drückte mir einen Pack Klamotten in die Hand. Ich zog mich um, ohne zu fragen, und dann liefen wir nach unten auf die Straße. Bei einigen Parkbänken blieben wir stehen.
"Hier ist es.", sagte Jürgen. Relativ schnell wusste ich, was wir hier machen sollten. Ich kannte ja seine Vorgeschichte. Die Freier kamen und drückten Jürgen Geldscheine in die Hand. Dann verschwand er mit ihnen auf den öffentlichen Toiletten.
Während ich auf der Bank saß und wartete, kam Belinda und setzte sich neben mich. Sie starrte nur vor sich hin. Wahrscheinlich hatte sie mich schon vergessen. Schließlich sprachen auch mich einige ziemlich eklige Typen an. Einer hätte mir sogar zweihundert Euro geboten für Oralverkehr, weil er mich so süß und unschuldig fände. Ich schüttelte nur den Kopf.
Da schritt ein mir bekannter Mann ein, der den Freier vertrieb. Irgendwo her kannte ich ihn, doch ich wusste nicht mehr, woher. "Pass ein bisschen auf Dich auf.", sagte er. Ich dankte ihm, wandt mich jedoch schnell wieder von ihm ab. Ich wollte weg hier. Auch am nächsten Tag waren wir wieder am selben Platz. Zum wiederholten Male sah ich dieses bekannte Gesicht. Da fiel es mir wieder ein: Er war der Streetworker, mit dem Jürgen im Drop-In gesprochen hatte.
"Sch****!", dachte ich. "Jetzt bin ich geliefert." Doch er kam auf mich zu.
"Hey, ich beobachte Dich schon länger. Hab keine Angst, ich verpfeif Dich nicht bei Deinen Eltern, aber bitte komm mit mit mir. Das hier ist nichts für Dich." Ich dachte nach. Er war Streetworker. Ich konnte ihm in einer Hinsicht vertrauen: Er wollte mir bestimmt nichts böses. Wie liebevoll er sich damals um Jürgen gekümmert hatte... Und doch hatte ich Angst, dass er zu meiner Mama oder zu Eva gehen könnte. Doch hier hatte ich solche Angst, dass ich beschloss, mit ihm zu gehen. Er wohnte nicht weit von hier. Seine Wohnung war groß und schön eingerichtet.
"Das ist mein Reich. Du kannst es Dir gerne auf dem Sofa gemütlich machen.", sagte er. Und so setzte ich mich hin. Er bot mir was zu Trinken an, und ich nickte. Da brachte er mir ein Glas mit roter Flüssigkeit darin. "Was ist das?", fragte ich. Er grinste.
Auch er nahm Platz. "Das ist Blutorange. Schmeckt echt lecker." Ich gab mich damit zufrieden und nahm einen Schluck. Ja, es schmeckte gut, jedoch ein wenig bitter. Doch ich wollte nicht unhöflich sein, und so redeten wir über Gott und die Welt. Er habe gleich erkannt, dass ich nicht zu diesen Junkies und Strichmädchen gehören würde. Ich solle mich doch nicht in eine solche Gefahr begeben, wo ich doch so hübsch war.
Mit der Zeit wurde ich ziemlich müde und legte die Beine hoch. "Du kannst gerne im Bett schlafen, Kleine.", sagte er liebevoll und stand auf. Er zog mich an den Händen vom Sofa hoch und da merkte ich, wie schwindlig mir war.