Beiträge von Stev84

    Kapitel 164: Abschied




    Orions Anweisungen waren eindeutig gewesen. Eine Tasche, für mehr Gepäck war kein Platz. Ich eilte ins Schlafzimmer und begann die Schränke zu durchwühlen. Es hatte keinen Sinn Kleidung mitzunehmen. Die konnten wir ins SimCity neu kaufen. Also kramte ich Dokumente, wie unsere Reisepässe, Geburtsurkunden und die Sparbücher hervor. Etwas Bargeld und Schmuck nahm ich auch mit.




    Die ganzen Möbel, die Bücher, Fotoalben, alles musste hier bleiben. Vermutlich würde ich davon nichts mehr wiedersehen, sollte ich jemals in die Sierra Simlone zurückkehren. Aber von den Gemälden im Arbeitszimmer konnte ich mich einfach nicht trennen. Sie zeigten meine Kinder, Dominik, meine Mitbewohner und mein kleines grünes Häuschen, in dem alles begonnen hatte. Unter dem Teppich im Wohnzimmer war eine Luke verborgen, die zu einem winzigen Lagerraum führte. Viel mehr als die Gemälde passte dort nicht hinein. Vielleicht würden sie ja dort unten sicher vor den Simnistriern verborgen bleiben.




    Es fiel mir schwer mich mit dem Gedanken anzufreunden, alles zurücklassen zu müssen. Mein ganzes Hab und Gut, mein Haus, meine Farm. Aber noch viel schwere fiel es mir, alle meine Freunde, meine Familie zurückzulassen, ohne die Möglichkeit, mich richtig zu verabschieden. Orion hatte mir klar gemacht, dass ich niemandem etwas von unserer Flucht erzählen durfte. Ich würde mich daran halten, denn ich verstand, was für ein Risiko wir mit der Flucht eingingen. Aber ich musste mich einfach von einigen Leuten verabschieden, auch wenn diese nicht erfahren würden, dass es möglicherweise unser letztes Wiedersehen war. Meine Ex-Schwiegereltern gehörten zu diesem Kreis.Es passte wunderbar, dass Anan vorbeikam und mich und die Kinder herüberbat, gerade als ich die Portraits im Lagerraum verstaut hatte.




    Da es nicht danach aussah, als ob wir bald wieder Strom hätten, mussten die Lebensmittel, die nicht schon vor Tagen verdorben waren, schnellstens aufgebraucht werden. Also wurde mit der gesamten Familie gegrillt. Es regnete wie schon seit Tagen ohne Unterbrechung, dennoch saßen wir im Freien unter einem Baldachin. Glinda schaute immer wieder besorgt nach oben, denn das Wasser sammelte sich über unseren Köpfen und drückte den Baldachin gefährlich weit nach unten, aber wir blieben zum Glück trocken.




    Trotz des Regens war es ein wundervoller Nachmittag. Selbst Glinda unterließ jeden noch so kleinen Seitenhieb. Vermutlich saß auch bei ihr der Schock ob der Zerstörung unserer Heimatstadt zu tief. Doch ich war mir sicher, dass sie bald wieder die alte Hexe sein würde, die mir mein Leben schwer machte, die ich aber trotzdem nicht mehr missen wollte. Obwohl ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, entging es Anan nicht, dass mir sehr viel durch den Kopf ging. "Was beschäftigt dich, Tochter?", fragte er mich, als wir einen Moment ungestört waren. Sein Blick war so fürsorglich, so voller Zuneigung, dass ich ihm fast alles erzählt hätte. Ich war mir sicher, dass Anan niemandem auch nur ein Wort verraten würde, aber ich riss mich zusammen und schwieg.




    Er akzeptierte meine Ausflüchte, dass ich einfach nur aufgrund der Ereignisse der letzten Tage angespannt wäre. So abwegig war dies auch nicht, immer hin war die halbe Stadt niedergebrannt und viele Freunde und Bekannte wurden verletzt oder sind gar gestorben. Aber irgendetwas in Anans Blick ließ mich vermuten, dass er mich durchschaut hatte. Mein Schwiegervater kannte mich einfach zu gut.




    Die Kinder wollten noch etwas Zeit mit ihren Großeltern verbringen. Da ich nicht wusste, wann sie wieder die Gelegenheit dazu haben würden, ließ ich sie gewähren. Ich nutzte derweil die Zeit, um mich noch ein letztes Mal mit Gerda zu treffen. "Mutter, schau, Oxana kommt", bemerkte Miranda, als sie mich auf das Farmhaus der Kappes zukommen sah. Miranda hielt ihre Tochter Franziska auf den Arm und man konnte an ihrem dicken Kugelbauch erkennen, dass der nächste Nachwuchs nicht mehr lange auf sich warten ließ. Meine beste Freundin, die im Arm ihres Mannes Volker auf der Bank vor dem Haus saß, blickte auf.




    Es tat gut, Gerda so strahlen zu sehen. Offensichtlich hatte sie den gestrigen Vorfall mit den Soldaten gut überwunden. Gerda konnte sich auf ihre Familie verlassen, auf ihren Ehemann und auf ihre Kinder, die nicht zulassen würden, dass sie in Depressionen verfiel. Gerda war ebenfalls erleichtert mich wohlauf zu sehen. So wie ich mir Sorgen um sie gemacht hatte, hatte auch meine Freundin sich um mein Wohlergehen gesorgt.




    Und offensichtlich kam Gerda auch besser ohne Strom zurecht als ich. "Willst du einen Kaffee, Oxana", fragte sie mich. Als ich sie verwundert ansah, lachte sie nur und führte mich hinters Haus. Und dort stand eine alte Eisentonne, in der ein Feuer brannte und auf dem Rost stand eine Kanne, mit frisch gebrühten Kaffee. Mit dem heißen Kaffee in der Hand, dem ersten seit über fünf Tagen, setzten wir uns an den Küchentisch und unterhielten uns. Fast hätte ich vergessen, dass eine Invasionsarmee auf unsere Stadt zumarschierte und ich noch in dieser Nacht fliehen würde.




    Ich hätte stundenlang so mit ihr weiterreden können. Aber die Zeit drängt. Sobald die Sonne untergangen war, würde Joannas Kontaktmann kommen, um uns sicher nach SimCity zu bringen. "Pass auf dich auf, Gerda", sagte ich meiner Freundin zum Abschied. "Ich fürchte, dass ist unser letzter friedlicher Tag in Sierra Simlone Stadt. Sobald die Simnistrier einmal hier sind, wird sich alles ändern." Doch Gerad lächelte zuversichtlich. "Ich vertraue Gott, Oxana. Es wird sich alles zum Guten wenden. Das hat es bis jetzt noch immer getan." Dabei schaute sie zufrieden lächeln durch die Scheibe der Eingangstür zu Volker hinüber. In diesem Moment erkannte ich, wie sehr Gerda diesen Mann liebte. Er war ihre große Liebe.




    "Pass auch gut auf dich auf, Oxana", fuhr Gerda fort. "Und habe ein wachsames Auge auf Desdemona. SimCity ist eine große, aufregende Stadt, nicht zu vergleichen mit diesem kleinen Nest. Ich habe Angst, dass meine Mona sich in diesem Großstadtdschungel leicht verirren könnte. Sie braucht jemanden, der sie wieder auf den rechten Weg führt." Mir fiel die Kinnlade hinunter. Gerda wusste also von unserer Flucht und sie hat sich nichts anmerken lassen. Gerda grinste breit und zwinkerte mir zu. Dann hielt sie sich den Zeigefinger vor die dünnen Lippen um mir zu signalisieren, dass sie kein Wort verraten würde. Und ich vertraute meiner Freundin. Bei ihr war unser Geheimnis in guten Händen.







    Es fiel mir schwer, mich von Gerda zu verabschieden. Doch die Dämmerung setzte bereits ein und es wurde allerhöchste Zeit aufzubrechen. Auf dem Weg zurück zur Simlane, kam mir die gesamte Situation so surreal vor. Der Regen war in ein leichtes Nieseln übergegangen. Die ganze Stadt wirkte vollkommen ruhig. Nichts deutete darauf hin, was für eine Zerstörung wir in den letzten Tagen erlebt hatten. Selbst der beißende Geruch nach verbrannten Holz und brennendem Öl ist von dem Regen weggespült worden. Ich begann ernsthaft daran zu zweifeln, ob es nicht ein Fehler war, die Sierra Simlone zu verlassen. Und dann vernahm ich ein seltsames Geräusch. Es hörte sich an wie Feuerwerk, doch ich realisierte schnell, dass es sich vermutlich um das Knattern einer Maschinenpistole handeln musste. Das Geräusch kam aus dem Süden, aus Richtung Ganado Alegro. Ich konnte nicht einschätzen, wie nah die simnistrischen Soldaten schon sein mussten, aber der Lärm der Maschinengewehre war deutlich zu hören.




    Uns blieb keine Wahl, wir mussten so schnell es ging die Sierra Simlone verlassen. Aber es fiel mir so unendlich schwer. Als ich das Haus betrat und das verwüstete Wohnzimmer betrachtet, kamen mir unweigerlich die Tränen. Warum tat Simnistrien uns das an? Ich konnte es einfach nicht verstehen. Wie tief musste der Hass auf die SimNation sitzen, dass sie unser Land überfielen, unsere Häuser verwüsteten und unsere Leben zerstörten.




    Noch hatte ich die Kinder nicht über unsere Flucht informiert. Zum einen war die Gefahr zu groß, dass sie sich verplappert hätten. Zum anderen wusste ich auch nicht wie ich ihnen vermitteln sollte, dass wir unsere Heimat, möglicherweise für immer verlassen mussten. Sky lief mir zuerst in die Arme. Ich wischte mir hastig die Tränen aus dem Gesicht und hoffte, dass mein Sohn das feuchte Glänzen bei dem fahlen Kerzenschein nicht bemerken würde. "Geh in dein Zimmer und pack deine zwei Lieblingsspielsachen in deinen Rucksack, Schatz", wies ich ihn sanft an. "Und dann komm wieder ins Wohnzimmer."




    "Was ist los, Mama?" Klaudia hatte mein Gespräch aus der Küche heraus belauscht. An ihrem Tonfall erkannte, dass sie bereits etwas ahnte. Die Schüsse draußen waren inzwischen so laut, dass wir sie selbst im Haus hören konnten. "Gewehre?", fragte Klaudia ängstlich und ich nickte. "Du hast gerade gehört, was ich zu deinem Bruder gesagt habe", setzte ich mit zitternder Stimme an. "Packe zwei, drei Sachen ein, die du unbedingt mitnehmen möchtest. Ich habe schon alle Dokumente, also nimm mit, was du möchtest. Wir werden gleich abgeholt."




    "Dein Tante Joanna hat einen Transport nach SimCity organisiert, für Sky, dich, mich und Tante Desdemona. Der Wagen wird gleich hier sein." Mein Stimme begann sich zu überschlagen und die Tränen nahmen mir die Sicht. "Ich habe keine Ahnung, wann...und ob wir jemals zurückkommen werden." Klaudia biss sich auf die Lippen. Auch sie kämpfte mit den Tränen. Ich hatte die Sorge, dass sie widersprechen, sich mir widersetzen würde. Kinga hätte dies mit Sicherheit getan. Aber Klaudia erkannte den Ernst der Lage, hatte ihn vor wenigen Tagen am eigenen Leib zu spüren bekommen. Sie nickte stumm und eilte in ihr Zimmer.




    Klaudia war kaum in ihrem Zimmer verschwunden, als auch schon ein schwarzer Van vor dem Haus hielt. Durch die Scheibe hindurch erkannte ich Desdemona, die auf dem Beifahrersitz saß. Ich rief die Kinder und schickte sie hinaus zum Wagen, während ich mich noch ein letztes Mal im Haus umsah.




    "Du verschwindest also." Kasimir hatte sich von hinten an mich heran geschlichen und ich erschrak heftig. Gleichzeitig hatte ich ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil ich ihm nichts von meinem Weggang erzählt hatte. Daher nickte ich nur, ohne ihm direkt in die Augen zu schauen. "Vielen Dank für alles, was du für mich getan hast Kasimir. Aber ich muss an meine Kinder denken. Es ist zu gefährlich, wenn wir hier bleiben." Das verstand auch Kasimir. Entschuldigend strich ich über seinen Oberarm und stieg dann zu meinen Kindern in das Auto.




    Als der Wagen losfuhr, warf ich einen letzten Blick auf Grünspan. In diesem kleinen grünen Haus hatte ich viel Leid, aber auch so viel Freude erlebt. Meine Kinder waren hier aufgewachsen, ich hatte Dominik hier geheiratet. Ich war immer davon ausgegangen, in diesem Haus meinen Lebensabend zu verbringen. Der Gedanke, es jemals verlassen zu müssen, war mir nie gekommen.

    Kapitel 163: Einfach ein guter Freund




    Kasmir war da. "Alles in Ordnung, Perle", beruhigte er mich. Dabei strich er über meine Wange und wischte die letzten Tränen weg. Ich genoss diese Berührung. Zu lange hatte ich niemanden mehr gehabt, der mich auf diese Art berührt hätte. "Wieso bist du hier?", fragte ich flüsternd. "Wegen dir", antwortete er ohne Umschweife. "Ich musste einfach wissen, wie es dir geht." Ich lächelte ihn an. Es tat so gut zu wissen, dass es jemanden gab, der sich um einen sorgte. "Ich habe Kommandantin Ermanowa gebeten, mich nach Sierra Simlone Stadt mitzunehmen. Die simnistrische Armee hat in Seda Azul ihr vorläufiges Lager aufgeschlagen."




    "Und sie hat dir einfach so geholfen?", fragte ich ungläubig. Kasimirs Mine wurde mit einem Schlag ernst. "Nein, nicht einfach so. Ich hab ihr angeboten, sie mit Informationen über Sierra Simlone Stadt zu versorgen. Unter anderem habe ich ihr dein Haus als Kommandozentrale in der Stadt vorgeschlagen."




    Ich traute meinen Ohren nicht. "Du hast was getan? Kasimir, dazu hattest du kein Recht!" Kasimirs Mine blieb regungslos. "Ich lasse doch nicht zu, dass diese dreckigen simnistrischen Schweine mein Haus als Kommandozentrale nutzen. Womöglich wird hier der Feldzug gegen die restliche SimNation geplant. Wie konntest du so etwas nur tun?" "Ich habe es getan, um dich zu beschützen", antwortete er. "Ohne mein Eingreifen, hätten diese Soldaten dir und den Kindern wer weiß was alles angetan. Und ich bin mir nicht sicher, ob euer Schicksal Kommandantin Ermanowa auch nur im geringsten interessiert hätte, wenn ich nicht mit ihr zusammenarbeiten würde."




    Wütend wand ich mich von ihm ab und stützte mich auf die Rückenlehne des Sofas. "Ich verstehe deine Wut, Oxana", sagte er behutsam und legte seine Hand auf meine Schulter. "Aber die Simnistrier sind im Land. Und sie sind stark. Wir müssen uns auf diese neue Situation einstellen. Wenn mir Widerstand leisten, dann können wir nur verlieren. Ich habe einfach versucht, das Beste aus dieser Situation zu machen." Kasimirs Worte hatten durchaus ihre Logik. Aber ich konnte und wollte diese Logik nicht teilen. Simnistrien war gnadenlos in unser Land eingefallen. Ich würde bis zum letzten Kämpfen, um sie wieder zu vertreiben. Und Dominik würde das auch tun, wenn er hier wäre. Dominik war nicht so wie Kasimir. Er kämpfte immer für das Richtige, so ausweglos es auch scheinen möchte. Deshalb war er auch schon seit Jahren im Simnistrien. Und deshalb liebte ich ihn und nicht Kasimir. Das wurde mir in diesem Augenblick deutlicher als jemals zuvor.




    Aber Dominik war nicht hier. Ich atmete tief durch und wand mich Kasimir wieder zu. "In zwei Tagen werden die Simnistrier ihr Quartier also in meinem Haus aufschlagen?", fragte ich müde. Kasimir nickte. "Du und die Kinder, ihr könnt mit mir nach Seda Azul kommen. In meiner Wohnung ist…" Ich stoppte Kasimir mit einem Handzeichen. "Nein, die Kinder und ich werden nicht nach Seda Azul gehen. Du und ich...das würde einfach nicht gut gehen." Ich sah, wie Kasimir in sich zusammen sackte. "Du weißt, dass ich dich immer noch liebe?", flüsterte er mehr, als dass er sprach. "Und ich liebe Dominik", antwortete ich ruhig.




    Kasimir atmete schwer, aber schließlich begann er zu nicken. "Gut, meine Aufgabe ist hier dann getan. Ich musste es einfach noch einmal versuchen, Perle." Mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen drehte er sich um und griff nach der Türklinke. "Bitte geh nicht", rief ich ihm hinterher. "Ich will nicht alleine mit den Kindern zurück bleiben. Ich habe Angst, Kasimir. Wenn du hier bleiben würdest, als guter Freund, ich würde mich gleich viel sicherer fühlen." Kasimirs Hand verharrte für mehrere Sekunden regungslos auf der Klinke, doch dann ließ er sich los, ohne die Tür zu öffnen. "In Ordnung. Ich bleibe für die nächsten Tage hier. Als Freund, einfach als ein guter Freund."




    Mir fiel ein Stein vom Herzen. Dann wand ich mich Gerda zu, die blass wie ein Leichentuch bei den Kindern stand. "Geht es dir gut?", fragte ich besorgt und merkte, wie mir selbst wieder die Tränen kamen. Gerda kam langsam auf mich zu. Sie wollte nicken, aber gleichzeitig schüttelte sie auch mit dem Kopf. Ich konnte diese Reaktion nur zu gut verstehen. Mir ging es nicht anders Schrecken und Erleichterungen lagen einfach zu dicht beieinander.




    Also nahm ich sie einfach in den Arm. Gerda klammerte sich regelrecht an mir fest und ich spürte, dass sie immer noch am ganzen Körper zitterte. "Soll dich Kasimir nach Hause begleiten?", fragte ich meine Freundin und sie bejahte diese Frage mit einem zögerlichen Nicken. "Wir stehen das alles gemeinsam durch", flüsterte ich ihr zum Abschied zu. "Wir werden uns nicht unterkriegen lassen."




    Keine Sekunde, nachdem Kasimir und Gerda das Haus verlassen hatten, brach Klaudia in Tränen aus. All die Angst und der Schrecken der letzten Tage und Stunden hatten sich in ihr aufgestaut und jetzt brachen alle Dämme. Sky ließ sich von diesem Gefühlsausbruch anstecken und weinte ebenfalls bitterlich. Und so sehr ich die strake Schulter für die Kinder sein wollte, auch ich musste meinen Tränen freien Lauf lassen. Wir saßen auf dem Sofa, inmitten unseres demolierten Wohnzimmers, und hielten uns gegenseitig fest. Der Kampf mit den Tränen schien mehr als einmal fast gewonnen, doch es reichte ein Schluchzen, um die Gefühle übermannten uns erneut. So saßen mir zusammen, bis es draußen dunkel wurde.




    Doch meine Gedanken schweiften immer wieder ab. Sky und Klaudia waren sicher, zumindest für den Augenblick. Sie waren bei mir und ich konnte sie beschützen, wenn es notwendig war. Aber was war mit Kinga? Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie es meiner ältesten Tochter ging. Ich konnte nur beten, dass Joanna für ihre Sicherheit garantierte. Und Dominik? Ich hatte immer noch kein Lebenszeichen von ihm.




    Nachdem die Kinder im Bett waren und ruhig schliefen, versuchte ich noch einmal Joanna zu erreichen. Doch ohne Strom funktionierte unser Haustelefon nicht und mein Handy hatte nach wie vor keinen Empfang, was Sinn machte wenn man bedenkt, dass die Funkmasten ebenfalls keinen Strom mehr hatten.







    Die Ereignisse des vergangenen Tages hatten die Kinder zum Glück nicht zu stark traumatisiert. Zumindest rein oberflächlich schien es ihnen wieder gut zu gehen. Klaudia kümmerte sich vorbildlich um ihren Bruder und las ihm aus seinem Lieblingsbuch „Das kleine Haus“ vor. Allerdings war ich mir sicher, dass der Schreck Klaudia tief in den Knochen saß. Ich konnte nur hoffen, dass sie diese Beinahe-Vergewaltigung würde überwinden können.




    Sky war hingegen noch zu jung um überhaupt zu begreifen, was die Soldaten uns gestern angedroht hatten. Ich beneidete ihn beinah um seine kindliche Einstellung zu den Dingen. Es kümmerte ihn wenig, dass eine fremde Armee in unser Land einmarschiert war, denn von Politik verstand er noch nichts. Und selbst der Stromausfall war für ihn eher ein Spaß, eine Abwechslung, durch die er neue und alte Spielchen entdeckte, wie etwa das Herumspritzen in einer Pfütze.




    Er entdeckte, dass man mit Seifenblasen auch wunderbar im Regen spielen konnte. Man musste sich einfach nur vorstellen, die Blasen seinen Ufos, und die Regentroffen Laserstrahlen, die die fremden Eindringlinge vom Himmel schossen.




    Goya wurde als Spielkameradin wiederentdeckt, die nicht so vorhersehbar war, wie die Figuren in seinen Computerspielen.




    Und wenn man ganz tief in Klaudias alter Spielzeugkiste wühlte, dann entdeckte man(n) sogar das ein oder andere "doofe Mädchenspielzeug", mit dem man durchaus sehr viel Spaß haben konnte.




    Aber ich konnte den Krieg nicht ausblenden. Zudem musste ich bereits morgen das Haus für die simnistrische Armee räumen und ich wusste nicht, wohin ich mit den Kindern gehen sollte. Natürlich boten sich Dominiks Eltern oder mein Bruder an. Und da ich selbst in einer solchen Kriese meine Ex-Schwiegermutter Glinda nicht um einen Gefallen bitten wollte, war mein Bruder die erste Wahl. Ich brauchte noch nicht einmal nach ihm zu rufen, denn er kam selbst herüber und bat mich, ihn auf die Plantage zu begleiten, wo wir uns ungestört unterhalten konnten.




    Ich tat ihm den Gefallen. Bereits auf dem Weg hinter das Haus erzählte ich ihm, von dem Überfall durch die simnistrischen Soldaten und dass ich mein Haus bis morgen räumen müsste. "Ich habe gehofft, ich und die Kinder könnten bei Desdemona und dir unterkommen. Ich weiß, euer Haus ist nicht gerade groß, aber bei Dominiks Eltern ist noch weniger Platz", plapperte ich direkt drauf los. Doch Orion schien gar nicht zuzuhören.




    "Du wirst nicht bei mir und Desdemona wohnen!" Diese Worte waren wie ein Schlag in mein Gesicht. War das etwa Orions Ernst? Doch bevor ich nachhaken konnte, sprach mein Bruder weiter. "Du und die Kinder, ihr werdet noch heute Nacht die Sierra Simlone verlassen." "Aber die Farm...", warf ich ein, doch Orion unterbrach mich rigoros. "Die Farm ist jetzt vollkommen egal. Wir haben Krieg. Heute Nacht hat einer von Joannas Agenten Kontakt mit mir aufgenommen. Die Lage ist schlimmer, als du dir das vorstellen kannst. Joanna hat einen Transport organisiert. Du, die Kinder und Desdemona werdet nach SimCity gebracht."




    Ich war sprachlos. "Wie ich dir schon vor ein paar Tagen mitteilte, können wir deinen Mitbewohner Tristan leider nicht mitnehmen. Im Wagen ist nur Platz für vier Leute. Ich werde auch hier bleiben. Joanna braucht mich hier unten als wachsames Auge für "Justice". Der Norden der SimNation ist zurzeit noch frei von simnistrischen Invasoren. Ihr werdet in SimCity also vorerst sicher sein. Sollte die Lage sich weiter zuspitzen, dann wird Joanna euch ins Ausland schaffen. Und du, Schwesterchen, gehst jetzt ins Haus und packst das Notwendigste zusammen. Mehr als eine Tasche könnt ihr nicht mitnehmen. Und kein Wort zu niemandem! Hast du mich verstanden? Nicht einmal zu deinen Schwiegereltern. Wir können es nicht riskieren, dass die Simnistrier euch bei der Flucht ertappen."

    Kapitel 162: Noch ein Kind




    Die Simnistrier waren im Anmarsch. Ich rief sofort die Kinde zusammen und wies sie an, sich zusammen mit uns im Wohnzimmer aufzuhalten. Ich erzählte ihnen nicht, was los war. Aber da Gerda und ich ständig aus dem Fenster auf die Straße starrten und die Kinder sahen, wie nervös wir beide waren, merkten sie unweigerlich, dass etwas Bedrohliches bevorstand.




    Und dann sahen wir den Jeep, der mit hoher Geschwindigkeit die Straße herunter raste. In meinem Inneren keimte die Hoffnung auf, dass er unser Haus einfach ignorieren würde, dass er vorbei brauste und nur eine Staubwolke zurückließ. Doch mit einem Schlag schob sich eine dunkle Wolke vor die gleißende Sonne und im selben Augenblick verlangsamte der Jeep seine Fahrt und bog in die Simlane ein. Gerda und ich liefen hastig zum Fenster, das zur Veranda hinaus ging. Immer noch hatte ich die Hoffnung, dass der Jeep einfach weiter fahren würde, dass er nur zufällig in die Simlane eingebogen war. Doch meine Hoffnungen wurden jäh enttäuscht. Mit quietschenden Reifen hielt der Jeep vor meinem Haus und drei bewaffnete Soldaten sprangen heraus und setzten ihren Fuß auf Grünspans staubigen Boden.




    Die drei liefen auf das Haus zu. "Oh Gott, Gerda, sie kommen", rief ich aufgeregt. "Was sollen wir jetzt tun? Sollen wir weglaufen? Uns verstecken?" Doch Gerda konnte mir keine Rat geben. Sie war ebenso verängstigt und erschrocken wie ich. Ich konnte nicht einschätzen, wie sich die simnistrischen Soldaten verhalten würden. Aber wenige Tage zuvor hatten sie große Teile unserer Stadt ohne Vorwarnung in Schutt und Asche gelegt. Das ließ nichts Gutes hoffen.




    Gerda und ich liefen eilig vom Fenster weg und ich scharte die Kinder dicht um mich. Im nächsten Moment flog die Tür mit einem lauten Knall auf. Einer der Soldaten hatte sich mit einem kräftigen Tritt Zugang zu meinem Haus verschafft. Dabei war die Tür nicht einmal verschlossen gewesen. Gerda, Klaudia und ich schauten voller Angst zu dem Mann hinüber, doch wir blieben halbwegs ruhig. Nur Sky konnte sich einen Angstschrei nicht verkneifen und klammerte sich fest an mich.




    Die drei stürmten in das Haus hinein. Wir standen verängstigt in der Ecke. Ein der drei Soldaten brüllte uns an. "Auf den Boden! Auf den Boden!" Er richtete seine Pistole auf uns, doch dieser zusätzlichen Drohung hätte es gar nicht bedurft. Keiner von uns zögerte, sich hinzuhocken. "Kopf nach unten", brüllte er weiter. "Und ich will keinen Mucks hören!" Es kam mir so vor, als ob er diese Worte gezielt zu Sky gesagt hätte. Und auch der Junge hatte diese Warnung offensichtlich verstanden, denn augenblicklich verstummt sein Schluchzen und wurde zu einem kaum hörbaren Wimmern.




    Der Typ, der auch schon die Tür eingetreten hatte, machte sich umgehend daran, das Haus zu demolieren. Er schmiss alles um, was ihm in den Weg kam. Er griff den Schachtisch und schleuderte ihn in die Mitte des Zimmers. Die darin aufbewahrten Schachfiguren ergossen sich über den Boden. Wild trat er auf die Korbsessel ein, die seinem festen Stiefeln keinen ernsten Widerstand bieten konnten. Und auch vor den Schränken machte er keinen Halt, die mit lautem Getöse auf den Holzboden krachten und ihren Inhalt freigaben.




    Der dritte Soldat hatte sich aufgemacht, um das Haus nach weiteren Bewohnern abzusuchen. "Hier ist niemand mehr", teilte er seinem Kumpel mit, als er wieder in das Wohnzimmer kam. "Die Frauen und Kinder sind hier offensichtlich ganz allein." Die beiden Soldaten sprachen Simnistrisch miteinander, allerdings waren die Unterschiede zwischen unseren beiden Sprachen so gering, dass ich die Soldaten problemlos verstehen konnte.




    Der Soldat, der soeben noch mein Haus zertrümmert hatte, grinste fies. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber es lief mir auch so kalt der Rücken hinunter. "Das heißt also, keiner ist da, der diese Schlampen beschützen könnte. Für mich klingt das so, als ob wir hier unseren Spaß haben könnten." Der Typ begann dreckig zu lachen und der dritte Soldat stimmte mit ein.




    Der Soldat mit den schwarzen Haaren, die ihm in die eine Hälfte des Gesichtes hingen, schritt auf den älteren der drei Soldaten zu, der weiterhin die Waffe auf uns vier Gerichtet hielt, und klopfte ihm auf die Schulter. "Na, Bran, mit welcher willst du anfangen?", fragte er. Das dreckige Grinsen in seinem Gesicht wurde nur noch breiter. Obwohl sie es uns verboten hatten, blickte ich flehentlich auf. Ich richtete meinen Blick auf den älteren Soldaten, da ich die Hoffnung hatte, dass er der Vernünftigste von den dreien sein könnte. Doch ich hatte mich ganz offensichtlich geirrt. "Ich schnappe mir die kleine Dicke", sagte er uns grinste Klaudia an. "Du kannst dann die Alte in dem karierten Fummel haben. Adrian, du passt solange auf die verkniffene Schachtel und den kleinen Bastard hier auf", sagte er zu den dritten Soldaten. "Wir rufen dich dann, wenn wir fertig sind. Wird auch nicht lange dauern."




    Das könnte ich nicht zulassen! Ich konnte nicht zulassen, dass diese Widerlinge sich an meiner Tochter vergingen. Ungeachtet der Warnungen und der auf mich gerichteten Waffen sprang ich auf. "Machen Sie mit mir was sie wollen, aber lassen sie meine Tochter in Ruhe", flehte ich die beiden Soldaten an. "Sie ist doch noch ein Kind!"




    Doch die Soldaten zeigten nicht das geringste Mitgefühl. Ganz im Gegenteil. Der Typ mit den langen schwarzen Haaren machte zwei eilige Schritte auf mich zu und schlug mir mit seiner Pistole mitten ins Gesicht. "Halt dein dreckiges Maul, Schlampe", schrie er mich an. "Keiner sagt uns, was wir zu tun oder zu lassen haben. Und jetzt setzt dich wieder hin. Los, auf den Boden mit dir!"




    Ich blieb stehen. Es war egal, ob er mich schlug. Ich würde nicht zulassen, dass diese Typen meinen Kindern etwas antaten. Das erkannte wohl auch der Soldat. Denn er nahm seine Waffe herunter und richtete sie direkt auf Gerdas Kopf. "Du setzt dich jetzt sofort hin oder ich blase der verkniffenen Alten den Schädel weg und das direkt vor deinen Kindern. Hast du mich verstanden?!" Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wollte Klaudia schützen, ich musste sie schützen. Aber ich konnte nicht zulassen, dass Gerda erschossen wurde. Ich blickte zu Gerda hinunter. Sie blickte nicht auf, aber ihre Augen waren weit geöffnet. Und sie betete. Man konnte zwar nichts hören, aber ihre Lippen bewegten sich stetig und formten ein "Ave Maria" nach dem anderen. Meine Hände zitterte vor hilfloser Wut.




    Nein, ich konnte nicht zulassen, dass Gerda starb. Sie hat meinetwegen so viel durchmachen müssen und dennoch war sie mir immer eine gute Freundin gewesen. Selbst heute ist sie zum mir geeilt, um mich vor den anrückenden Soldaten zu warnen. "Bitte", flehte ich den Soldaten ein letztes Mal an, "nicht meine Tochter." Doch der fasste mich nur an den Schultern und drückte mich zu Boden. Meine Knie leisteten keinen Widerstand. Der ältere Soldat, Bran, fasste Klaudia am Ellbogen und riss sie hoch. "Gleich zeige ich dir was eine echter simnistrischer Mann ist", lachte er und musterte Klaudia dabei gierig. Meine Tochter versuchte sich zu wehren, doch gegen die Muskelkraft dieses Mannes kam sie einfach nicht an.




    Ich fühlte mich so machtlos. Meine Tochter war in größter Not und ich konnte ihr nicht helfen ohne Gerdas oder Skys Leben zu gefährden. Ich brauchte ein Wunder. Gott, schick mir ein Wunder! Noch nie hatte ich Gottes Hilfe so nötig gehabt, wie in diesem Augenblick. Er musste eingreifen. Er musste Klaudia einfach vor diesem Schicksal bewahren. Er durfte es nicht zulassen, er durfte einfach nicht!




    Und dann hörte ich IHRE Stimme. "Soldaten Abromawitsch, Jukow und Dabratsch, was ist hier los?" Ich wagte es aufzublicken und obwohl das Sofa mir die Sicht auf die Frau versperrte, erkannte ich, dass sich das Verhalten der drei Soldaten mit einem Schlag verändert hatte. "Wir, ähm...", stotterte Bran, der älteste der drei, doch die Frau ließ ihn gar nicht erst aussprechen. "Ihr solltet nach einem geeigneten Hauptquartier Ausschau halten und es beanspruchen. Von mehr war nie die Rede gewesen." Die drei Soldaten ließen betroffen die Köpfe sinken. "Geht mir aus den Augen", herrschte die Frau sie an. "Kehrt zum Lager bei Seda Azul zurück und kommt mir in den nächsten Tagen lieber nicht mehr unter die Augen." "Jawohl, Frau Kommandantin", stammelten die drei und verließen eiligst das Haus.




    Die Frau gehörte offensichtlich zu der simnistrischen Armee. Dennoch hatte sie uns gerade gerettet und dafür würde ich ihr auf ewig dankbar sein. Wir spürten alle intuitiv, dass wir nun in Sicherheit waren. "Mami", schluchzte Klaudia laut und warf sich mir um den Hals. Bis eben war sie tapfer geblieben. Trotz ihrer Angst und bei vollem Bewusstsein, was sie erwartet hätte, hatte sie ihre Tränen unterdrückt. Doch jetzt ließ sie alles heraus und mir erging es nicht anders. "Es ist alles gut, mein Schatz", flüsterte ich ihr immer wieder zu und drückte ihren vor Weinkrämpfen bebenden Körper fest an mich.




    Und dann trat ER durch die Tür. Kasimir! "Ich danke ihnen noch einmal vielmals, für ihre Unterstützung, Kommandantin Ermanowa." Die Frau nickte Kasimir knapp zu. "Halten sie sich bereit, wenn wir ihre Unterstützung brauchen, Herr Tellermann", erwiderte sie. Dann sah sie sich kurz im Haus um. "Dieses Gebäudes scheint wirklich geeignet, genau so, wie sie es beschreiben haben, Herr Tellermann. In zwei Tagen werden wir hier unser Hauptquartier einrichten. Ich würde ihnen und ihrer Familie", sie blickte zu mir und den Kindern herüber, "raten, dann nicht mehr hier zu sein. Ich werde meine Männer nicht immer zurückhalten können und ich habe nicht vor, rund um die Uhr ein Auge auf sie zu haben. Wir sind im Krieg und wir alle wissen, was das bedeutet." Damit drehte sie sich um und sie und ihre zwei verbliebenen Soldaten verließen das Haus.




    Im ersten Moment war ich zu verdutzt, um zu reagieren. Ich verstand nicht, wieso Kasimir plötzlich aufgetaucht war. Aber er hatte uns gerettet. Als mir das klar wurde, gab es kein Halten mehr für mich. Ich lief auf ihn zu und warf mich ihm um den Hals. Kasimir war überrascht von solch einem Gefühlssaubruch. Doch nachdem die erste Schrecksekunde verklungen war, schloss er mich fest in seine Arme. Und zum ersten Mal seit Tagen fühlte ich mich sicher. Jetzt war es nicht mehr ich, die stark sein musste für die Kinder. Jetzt konnte ich mich fallen lassen und Kasimir war da, um mich aufzufangen.

    Kapitel 161: Im Anmarsch




    Der Regen wurde wieder stärker, als ich mich auf dem Weg zurück in die Simlane machte. Vielleicht würde der anhaltende Schauer dafür sorgen, dass die letzten lodernden Brände in der Stadt bald erloschen. Zuhause angekommen versicherte ich Anan, der bei den Kindern geblieben war, dass wir drei in dieser Nacht alleine zurechtkommen würden und schickte ihn nach Hause zu seiner Frau und Dominiks jüngeren Geschwistern. Anschließend ging ich ins Schlafzimmer. Die Kinder schliefen bereits. Ich setzte mich auf den Nachttisch und beobachtete schweigend Sky und Klaudia. Sie sahen so friedlich aus und schienen die Schrecken des Tages fast vergessen zu haben. Und das war auch gut so, denn sie brauchten Kraft für die kommenden Tage. Wer konnte schon wissen, was noch alles auf uns zukäme?




    Klaudia und Sky waren in Sicherheit, zumindest vorerst. Doch ich hatte noch ein weiteres Kind und ich wusste nicht, wie es ihm ging. Ich ging wie mechanisch in Kingas altes Zimmer, in dem nun Sky zuhause war. Vielleicht hoffte ich so, meiner Tochter näher zu sein. Obwohl Orion mir bereits gesagt hatte, dass die Telefonverbindungen unterbrochen waren, nahm ich mein Handy und wählte Joannas Nummer. Ich hatte meine Tochter in die Obhut meiner Schwester gegeben und ich musste mich einfach versichern, dass es ihr gut ging, dass es in SimCity zu keinem Angriff gekommen war und Kinga nicht verletzt wurde. Doch alle meine Versuche waren vergebens. Mein Handy hatte einfach keinen Empfang und das Festnetz war ebenfalls tot.




    Da mir nichts anderes blieb, betete ich zu Gott, dass er Kinga beschützen, dass er seine schützende Hand über uns alle halten möge. Auf einmal übermannte mich die Müdigkeit. Den ganzen Tag hatte ich sie nicht gespürt, doch jetzt merkte ich, dass auch ich am Rande meiner Kräfte war. Ich überlegte erst, mich auf das Sofa zu legen. Doch ich wollte so nah wie möglich bei meinen Kindern sein. Also legte ich mich zwischen die beiden und war eingeschlafen, sobald ich die Augen geschlossen hatte.




    In den ersten Sekunden nach dem Aufwachen hatte ich die vage Hoffnung, dass alles nur ein böser Alptraum gewesen war. Doch der Geruch von verbranntem Holz lag schwer in der Luft und erinnerte mich daran, dass die halbe Stadt Opfer der Flammen wurde. Klaudia musste schon länger wach im Bett gelegen haben, denn sie schlüpfte aus dem Bett, sobald ich die Decke anhob, um selbst aufzustehen. Als wir in die Küche kamen, schlug uns bereits ein unangenehmer Geruch entgegen, und ein Blick in den Kühlschrank genügte um festzustellen, dass einige der Lebensmittel bereits schlecht geworden waren. Das einzige essbare waren die trockenen China-Snacks, die ich auch schon Glinda angeboten hatte.




    "Sky und du, ihr geht heute nicht zur Schule. Ich will euch nicht aus dem Augen lassen", erklärte ich ihr. Klaudia nickte bloß und aß stumm weiter. "Solange wir nicht genau wissen, was geschehen ist, verlasst ihr beide nicht das Haus." Wieder nickte Klaudia. Sie hatte ganz offensichtlich den Ernst der Lage erkannt. Dann musste ich schlucken, denn ich hatte ihr noch nichts von Tristans Verletzung erzählt. Aber Klaudia war alte genug, um über alles informiert zu werden.




    Sie nahm es besser auf, als ich vermutet hatte. Zwar konnte ich genau erkennen, dass sie geschockt war, aber sie blieb ruhig. Es gab kein Geschrei und keine Tränen. "Aber Onkel Tristan wird wieder gesund, ja?", fragte sie schließlich nach einer längeren Pause, in der wir beide auf unseren trockenen Nudeln herum kauten. "Schwester Mphenikohl ist sehr zuversichtlich", versicherte ich ihr. "Und Frank kümmert sich gut um ihn. Tristan ist also in besten Händen."




    Draußen regnete es immer noch. Doch das änderte nichts daran, dass es immer wärmer wurde. Es war Sommer und wir befanden uns in der Sierra Simlone. Dieses schwülwarme Klima war die ideale Voraussetzung, damit Lebensmittel besonders schnell verdarben. Bevor der Gestank in der Küche noch schlimmer werden konnte, schnappte ich mir einen großen Müllsack und schmiss alles hinein, was in unserem abgetauten Kühlschrank bereits verdorben war oder kurz davor stand zu verderben.




    Die asiatischen Snacks würden erst einmal für eine Weile reichen, aber ich musste mich dennoch dringend nach etwas richtigem zum Essen umsehen. Da weder Herd noch Mikrowelle funktionierten, war der Grill die einzige Möglichkeit, etwas Warmes zuzubereiten. Nur war alles was man hätte grillen können, verdorben. Das fehlende fließende Wasser machte unsere Leben zusätzlich schwierig. Aber immerhin hatten wir noch die Wasserpumpe hinter dem Haus und eine Gießkanne neben der Toilette verrichtete ebenfalls gute Dienste.




    Das Baden in der Holzwanne war hingegen für Klaudia und mich eher unangenehm. Sky hingegen hatte sichtlich Spaß daran. Ich wünschte mir, dass ich die Situation so leicht nehmen könnte wie er es tat. Kinder hatten dafür einfach eine Gabe, die mit dem Alter leider verlorenging.




    Der Tag ging ereignislos vorbei. Ich hatte versucht, im zerstörten Stadtzentrum ein paare Lebensmittel zu besorgen, doch die nicht zerstörten Läden waren bereits restlos ausverkauft. Als die Sonne unterging, stellte ich Kerzen im Wohnzimmer auf, damit wir wenigstens etwas Licht hatten. Klaudia und Sky verbrachten den Abend damit, Schach zu spielen. Und trotz seines jungen Alters war Sky ein ernstzunehmender Gegner für Klaudia.




    Ich machte es mir mit einem Buch auf dem Sofa bequem. Es hätte in idyllischer Abend sein können, wäre am Tag zuvor nicht unsere Stadt angegriffen worden. Ich versuchte erst, einen Roman zu lesen, doch es gelang mir nicht, mich auf das Gelesene zu konzentrieren. Ich las zwar die Worte, aber mit meinen Gedanken war ich ganz woanders. Schließlich legte ich den Roman beiseite und holte ein Geschichtsbuch aus dem Regal. Anan und auch Orion waren überzeugt, das Simnistrien der Angreifer war. Der Krieg zwischen Simnistrien und der SimNation vor 45 Jahren war mir aus meiner Schulzeit zwar noch ein Begriff, aber ich wollte mehr über die Hintergründe erfahren und darüber, wie der Krieg damals geführt wurde. Und die Brutalität, mit der die SimNation damals gegen Simnistrien vorgegangen war, erschreckte mich. Ich konnte nur hoffen, dass die Simnistrier nicht auf Rache aus waren.




    Mit dem nächsten Tag kehrte wieder so etwas wie Normalität ein. Es war Samstag und der seit Tagen andauernde Regen hörte auf. Die letzten Flammen in der Stadt waren bereits letzte Nacht erloschen. Nur auf den Ölfeldern brannte es immer noch, allerdings trieb der Wind die Rauchschwaden weg von der Stadt. Sky nutzte das Wetter, um mal wieder im Pool zu planschen. Ich hielt ihn nicht davon ab. Sollte der Kleine ruhig etwas Spaß haben.




    Klaudia fand ihre eigene Zuflucht. Die Staffelei in ihrem Zimmer benutzte sie schon immer häufig. Doch in diesen Tagen malte sie ununterbrochen, solange das wenige kostbare Tageslicht es zuließ.




    Und für mich wurde es Zeit, mich wieder um die Farm zu kümmern. Die Rinder würden auch gut ein paar Tage ohne mich zu Recht kommen und das Pferd war sicherlich von alleine wieder auf die Weide zurückgekehrt. Durch den Regen der letzten Tage musste ich mir auch keine Sorgen um die Bewässerung der Felder machen. Zum Glück wurden die Wasserpumpen dort alle über einen Dieselgenerator angetrieben. Aber die Bäume auf der Plantage brauchten mal wieder etwas Pflege.




    Ich wusste selber, dass die Arbeit auf der Plantage auch eine Art Flucht für mich war. Sie hielt mich davon ab, mir zu viele Gedanken zu machen. Gedanken, über das, was noch auf uns zukommen mochte, Gedanken über den Tod von Skys Lehrerin und von Benny, Gedanken über die zerstörte Stadt, Gedanken über meine Tochter, von der ich nicht wusste, ob es ihr gut ging, oder nicht und Gedanken über Dominik, der in dem Land war, dass einen Krieg gegen uns angefangen hatte. Hier auf der Plantage, bei strahlendem Sonnenschein, schien die Welt noch in Ordnung.




    Doch das war sie nicht. Das wurde mir wieder bewusst, als ich Gerda völlig außer Atem auf dem Fahrrad die Straße entlang strampeln sah. Sie entdeckte mich in der Plantage und steuerte direkt auf mich zu. Flink sprang sie vom Fahrrad, lehnte es an einen der Orangenbäume und lief die letzten Meter auf mich zu. "Oxana, sie kommen", stieß sie schwer atmend aus. "Langsam, Gerda", beruhigte ich meine Freundin. "Wovon redest du? Wer kommt?" "Die Soldaten", keuchte Gerda. "Ein Konvoi ist unterwegs aus Richtung Süden. Es sind mindestens zwei Transportfahrzeuge. Hans hat sie von unseren Feldern aus gesehen. Und es sind nicht unsere Leute, Oxana. Hans schwört, dass er die Simnistrische Flagge auf den Jeeps gesehen hat."




    Entsetzt weiteten sich meine Augen. Nun war es also soweit. Die Ruhe vor dem Sturm war vorbei, das wusste ich instinktiv. "Hast du eine Ahnung, was sie vorhaben?", fragte ich Gerda, doch sie schüttelte verständlicherweise dem Kopf. Niemand konnte ahnen, was diese Invasoren vorhatten, doch mit Sicherheit war es nichts Gutes. "Gerda, bleibst du bitte bei mir und den Kindern?", fragte ich meine Freundin. "Wenn ich alleine bleibe und sie kommen, weiß ich nicht, was ich tun soll." Gerda verstand meine Ängste und versprach, mich nicht alleine zu lassen.

    Kapitel 160: Opfer




    Anan klang felsenfest überzeugt von seiner Aussage, dass Simnistrien uns angegriffen hätte. Vielleicht stimmt es ja sogar. Zumindest würde es erklären, warum ich seit Wochen Dominik nicht mehr erreichen konnte, der für einen privaten Wachdienst in dem südamerikanischen Land arbeitete. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich nicht bemerkte, dass jemand das Haus betreten hatte. Erst, als der Mann in den Schein des Kamins trat, erkannte ich meinen jüngeren Bruder Orion.




    Sofort sprang ich aus dem Sessel auf und drückte meinen Bruder fest an mich. Ihm ging es gut, und auch Desdemona war bei dem Angriff nicht verletzt worden. Auch der Rest der Kappes war nicht zu Schaden gekommen. Gerda, ihr Mann Volker, Hans, Mika und Elvira hatten alle Zuflucht in einem alten unterirdischen Lagerraum inmitten der Maisfelder gesucht. Die Farm der Kappes, Norman, stand noch unversehrt. Meine Familie hatte bei dieser Katastrophe sehr viel Glück gehabt. Gott musste seine schützende Hand über uns gehalten haben.




    "Können wir kurz ungestört sprechen?", bat mich Orion und winkte mit dem Kopf in Richtung Küche. Ich runzelte die Stirn, nickte aber und wir entfernten uns von Dominiks Eltern, die zwar neugierig hinübersahen, aber keine Fragen stellten. Fragend sah ich meinen Bruder an. "Deine Schwiegereltern wissen doch nichts von Justice?" Darum ging es als! Ich schüttelte den Kopf. "Natürlich nicht. Nicht einmal Dominik weiß Bescheid." Ich senkte meine Stimme, soweit ich es vermochte, dennoch befürchtete ich, dass Glinda und Anan etwas von dem Gespräch aufschnappen können. Besorgt sah ich zu den beiden hinüber. Meine Ex- und Hoffentlich-bald-wieder-Schwiegereltern mussten nicht erfahren, dass meine Schwester die Patin der Mafiaorganisation Justice in SimCity war.




    "Joanna hat mich gewarnt, dass in den nächsten Wochen oder Monaten großer Ärger anstehen könnte", erklärte Orion. "Es gab Gerüchte in der Unterwelt, aber niemand konnte genaueres sagen. Joanna hatte mir bereits Anweisungen gegeben, dich und deine Familie nach SimCity zu bringen, aber der Angriff kam früher als erwartet." "Wer hat uns angegriffen?", fragte ich nun meinen Bruder, denn er schien mehr zu wissen, als wir anderen. "Laut Joannas Informationen, und die sind nun auch einige Wochen alt, plante wohl Simnistrien diesen Überfall. Diese Informationen waren allerdings nicht sehr zuverlässig."




    Also hatte Anan recht. Es war unglaublich befreiend, dem Feind endlich ein Gesicht geben zu können. Gleichzeitig stieg die Angst in mir auf. Wenn der Angreifer wirklich Simnistrien war, dann befand sich die SimNation im Krieg mit ihrem schlimmsten Feind. Und dieser Krieg würde morgen nicht vorbei sein. Er würde vermutlich noch Wochen andauern.




    "Tut mir leid, dass ich keine besseren Nachrichten habe, Oxana", entschuldigte sich mein Bruder bei mir. "Mein Kontakt zu Joanna ist mit den Angriffen abgebrochen. Das gesamte Handy- und Telefonnetz ist zusammengebrochen. Außerdem scheinen die Simnistrier Störsignale auszusenden. Es ist mir nicht gelungen, Fernseh- oder Radionachrichten zu empfangen. Wir sind zurzeit isoliert vom Rest der SimNation und ich habe keine Ahnung, welches Ausmaß diese Angriffe hatten. War nur Sierra Simlone Stadt betroffen? Oder waren es gezielt Angriffe auf alle Stadt der Sierra Simlone oder gar des ganzen Landes? Du solltest in jedem Fall schon mal die notwendigsten Sachen packen. Es könnte sein, dass wir jeden Tag nach Norden aufbrechen und versuchen werden, uns nach SimCity durchzuschlagen. Allerdings können wir nur dich und die Kinder mitnehmen. Dein Mitbewohner Tristan wird hier bleiben müssen."




    Oh Gott, Tristan! Bei all der Aufregung hatte ich meinen Mitbewohner vergessen. Meine Augen weiteten sich vor Entsetzen. "Ich habe Tristan seit dem Angriff nicht gesehen", erklärte ich meinem Bruder, der mich verwirrt anstarrte. "Ich war so in Sorge um die Kinder und so unendlich müde, dass es mir nicht in den Sinn gekommen war, nach Tristan zu sehen. Oh Gott, Orion, er arbeitet doch auf den Ölfeldern, dort wo die Angriffe begonnen haben."




    Ich lief sofort zu Tristans Zimmer und riss die Tür auf. Doch wie nicht anders zu erwarten, fand ich das Zimmer leer vor. Die Bettdecke war noch so zerwühlt, wie Tristan sie am Morgen zurückgelassen hatte. Tristan durfte nichts passiert sein. Das durfte einfach nicht sein! Und was war ich für eine Freundin, die nicht einmal daran dachte sich zu vergewissern, dass ihr Mitbewohner, der nun schon seit 20 Jahren das Haus mit ihr teilte, bei einem verheerenden Angriff auf die Stadt nicht zu Schaden gekommen war?




    Ich musste ihn suchen gehen! "Anan, Glinda, bleibt bitte hier und passt auf die Kinder auf", bat ich meine Ex-Schwiegereltern im Vorbeilaufen und griff nach den Autoschlüsseln, die im Regal neben dem Kamin lagen. "Wo willst du suchen?", fragte Orion. "Auf den Ölfeldern", antwortete ich gehetzt. "Vielleicht liegt Tristan dort irgendwo verletzt. Ich muss einfach nachschauen." Orion überlegte einen Moment, ob er mich aufhalten sollte, doch dann nickte er nur und ich lief hinaus und durch den anhaltenden Regen hindurch zu meinem Wagen.







    Als ich im Auto saß, kam mir der Gedanke, dass Tristan womöglich bei Frank und damit in Sicherheit war. Eilig fuhr ich in die Dustlane, doch niemand reagierte auf mein beharrliches Hämmern gegen die Tür. Offenbar war das Haus verlassen. Also hetzte ich zurück zum Wagen und fuhr eiligst zum Bohrturm Nr. 5, Tristans Arbeitsstelle. Der Anblick der brennenden Anlage verschlug mir die Sprache. Der Bohrturm war in sich zusammengebrochen. Die Gebäude waren zerstört, offenbar direkt von einer Rakete getroffen. Die Hitze schlug mir ins Gesicht und der dichte Qualm nahm mir die Luft zum Atmen.




    Der grelle Schein der Flammen nahm mir die Sicht, sodass ich das Zelt in direkter Nachbarschaft zur brennenden Ruine zunächst nicht bemerkte. Ein Krankenwagen stand daneben und ich erkannte, dass es sich wohl um eine Art Lazarett handeln musste. Eilig lief ich darauf zu. Als ich näher kam, erblickte ich Frank, der zusammengekauert mit gesenktem Kopf vor dem Eingang des Zeltes hockte. Dieser Anblick ließ mich das Schlimmste befürchten und ich wurde unweigerlich langsamer, um die schreckliche Gewissheit noch einige Sekunden länger hinauszögern zu können.




    Er hörte meine Schritte und blickte zu mir auf. Sofort sprang er von der Holzkiste auf. Trotz der Dunkelheit konnte ich genau erkennen, dass er geweint hatte. Oh Gott, nein, das durfte nicht wahr sein. Ich wollte in das Innere des Zeltes hineinschauen, doch Frank hielt mich zurück. "Oxana, es ist etwas passiert", begann er mit bebender Stimme zu sprechen. "Die Rakete...alles explodierte...er…er…"




    Ich konnte nicht länger zuhören, ich musste es mit eigenen Augen sehen. Ich riss mich von Frank los und schaute ins Innere des Lazarettzelts. Und da sah ich ihn. Ich brauchte keinen Arzt um zu wissen, dass er tot war. Niemand konnte solche Verletzungen überlebt haben. Die Tränen schossen mir in die Augen. Die ersten Tränen, die ich an diesem Tag vergoss.




    Benny! Eingetrocknetes Blut bedeckte sein ganzes Gesicht. Niemand hatte offenbar bis jetzt die Zeit gefunden, es zu waschen. Aber immerhin waren seine Augen geschlossen. Ich streckte meine Hand aus und strich eine Haarsträhne zurück, die sich auf seine Stirn geklebt hatte. Doch ein schauer durchfuhr meinen Körper, als ich seinen kalten Leichnam berührte. Benny musste sofort beim ersten Angriff ums Leben gekommen sein.




    Nun kam auch Frank ins Zelt und legte mir tröstend den Arm auf den Rücken. "Ich glaube nicht, dass er lange leiden musste", versuchte er mich zu beruhigen. Vermutlich stimmte das sogar, doch das war kein Trost für mich. Ich hatte Benny geliebt, auch wenn das nun schon viele Jahre zurück lag. Er war der erste Mann für mich gewesen und unsere Trennung war schmerzhaft verlaufen, insbesondere für ihn. Wir hatten nie die Gelegenheit gehabt, uns auszusprechen und ein freundschaftliches Verhältnis aufzubauen. Wie schon bei meinen Vätern hatte ich die Chance zur Wiedergutmachung verpasst.




    "Ich hab ihn direkt neben Tristan gefunden", erklärte Frank, "aber ich konnte nichts mehr für ihn tun. Ich bin zu spät gekommen." "Tristan, was ist mit ihm?", bedrängte ich Frank, da ich noch immer nichts über das Schicksal meines Mitbewohners in Erfahrung gebracht hatte. "Er ist schwer verletzt, aber er lebt. Ich konnte ihn gerade noch aus den Trümmern ziehen, bevor der Turm über ihm zusammenbrechen konnte. Er liegt gleich hinter dem Vorhang."




    Frank schob mich mit seiner Hand auf meinem Rücken um den Vorhang herum. Und dort lag mein Mitbewohner, leichenblass, aber das langsame Heben und Senken seiner Brust verriet eindeutig, dass er noch am Leben war. Doch auch er zeigte deutliche Spuren von Verletzung im Gesicht und ein Schlauch steckte in seiner Nase, um ihm das Atmen zu erleichtern. Frank beugte sich zu Tristan hinüber und küsste ihn auf die Stirn. Tristan versuchte die Augen zu öffnen, doch mehr als ein kurzes Flackern gelang ihm nicht und er verlor umgehend wieder das Bewusstsein.




    Landschwester Mphenikohl trat an uns heran. "Bitte, Herr Linse braucht jetzt sehr viel Ruhe. Es ist sehr schön, dass es so viele Menschen gibt, die um ihn besorgt sind, aber wenn er wieder zu Kräften kommen soll, dann muss er sehr viel Schlafen. Viel mehr kann ich für ihn nicht tun. Er müsste ins Krankenhaus, aber das wird in der jetzigen Situation nicht möglich sein. Wir haben versucht mit dem Krankenwagen zum Hospital nach Seda Azul zu fahren, doch die Brücke über den Rio Seco wurde ebenfalls von Raketen zerstört. Wir mussten wieder umkehren und haben dann dieses Lazarett hier errichtet."




    "Ich wünschte bloß, Dr. Reichardt wäre in der Stadt. Aber er befand sich zum Zeitpunkt des Angriffes offenbar im Krankenhaus von Seda Azul. Ich bin eine einfache Landschwester und meine Fähigkeiten sind für eine solche Katastrophe einfach nicht ausreichend. Aber ich werde tun, was in meiner Macht steht, um ihren Freund und den anderen verletzten zu helfen. Gehen sie nach Hause, Kindchen. Gehen sie zurück zu ihren Kinder, denn die werden sie jetzt dringender brauchen, als Herr Linse. Und er ist ja nicht alleine." Mit einem Nicken deutete sie auf Frank und lächelte. Ich nickte schweigend. "Danke, Schwester Mphenikohl. Möge Gott sie beschützen." Ich verabschiedete mich noch von Tristan und Frank und fuhr dann auf direktem Weg zurück in die Simlane.

    Kapitel 159: Staub, Ruß und Gestank




    Ich wusste nicht, wie lange wir in diesem Keller ausgehart hatten. Ich hatte mein Zeitgefühl vollkommen verloren. Das Licht im Keller blieb aus. Immer wieder hörten wir dumpfe Einschläge, mal weiter weg, mal näher und von Zeit zu Zeit erbebte das gesamte Gemäuer. Doch dann blieb es still. Wir warteten lange, sehr lange, bis wir uns ins Freie wagten. Und ich wünschte mir fast, wir wären im Keller geblieben, denn der Anblick der Stadt verschlug mir die Sprache und trieb mir fast die Tränen in die Augen.




    Um uns herum brannte es lichterloh. Dichter Qualm durchzog die Straßen und nahm uns den Atem. Die Schule war zum Glück weitestgehend unbeschädigt geblieben. Lediglich direkt vor dem Klassenzimmer von Sky befand sich ein tiefer Krater in der Straße. Die Scheiben der Fenster waren zersprungen und Asphaltstücke hatten sich in das Gebäude gebohrt. Doch die Schule war aus Stein erbaut worden. Ein der Raketen hätte direkt in das Gebäude einschlagen müssen, um es ernsthaft zu beschädigen. Die kleinen Geschäfte aus Holz in der Umgebung der Schule hatten hingegen sofort Feuer gefangen und die Flammen griffen rasend schnell um sich. Entsetzt blickten meine Kinder und ich auf den brennenden Friseursalon, der einstmals Ingrid, Skys leiblicher Mutter gehört hatte. Selbst wenn die Feuerwehr sofort einträfe, das Gebäude war nicht mehr zu retten.




    "Los Kinder, steigt schnell in den Wagen", wies ich Klaudia und Sky an, nachdem ich mich wieder halbwegs gefasst hatte. Mein Pickup war wie durch ein Wunder unbeschädigt geblieben. Ich konnte den Anblick der brennenden Stadt kaum ertragen. Der Langhorn-Saloon, das Café, das Stadtzentrum... alles stand in Flammen. Klaudia weinte hemmungslos. Die Stadt in der sie geboren wurde, sie lag in Trümmern.




    Heute Morgen war Klaudia noch durch eine heile Kleinstadt zur Schule gefahren und diese Stadt gab es auf einmal nicht mehr. Sie wurde überraschend und ohne Vorwarnung von einem unbekannten Feind in Schutt und Asche gelegt. Der Regen prasselte unaufhörlich auf die Erde herab, versuchte mit aller Kraft, die Flammen zu löschen, doch es war ein aussichtsloser Kampf. In mir wuchs die Angst. Was war mit Grünspan? Stand mein kleines grünes Haus noch oder war es wie der Rest der Stadt denn Flammen zum Opfer gefallen?





    Ich drückte aufs Gaspedal. Die Geschwindigkeitsbegrenzungen interessierten mich nicht mehr, ich wollte nur noch zu meinem Haus. Ein tiefer Seufzer der Erleichterung entfuhr meiner Brust als ich sah, dass die Außenbezirke der Stadt offenbar nicht von Raketen getroffen worden waren. Das Haus meines Bruder, das Haus von Klaudias und Skys Großeltern und auch Grünspan, sie alle standen unversehrt.




    Doch meine Freude währte nur kurz. Ich war noch nicht ganz aus dem Auto gestiegen, als ich Sky Schreien hörte. "Feuer! Es brennt!" Klaudia und ich liefen in seine Richtung. Entsetzt schrie ich auf und raufte mir panisch die Haare, als ich die Flammen erblickte, die an der Veranda züngelten. "Oxana, einen Feuerlöscher, schnell", hörte ich meine ebenfalls panische Nachbarin Sandra Monschau brüllen. Es war offensichtlich, aber genau diese Worte hatte ich gebraucht, um mich aus meiner Panik zu reißen.




    Ich rannte ins Haus und riss den Feuerlöscher aus dem Küchenschrank unter der Spüle. In mir stieg die Wut auf. Dieses Feuer würde nicht mein Haus zerstören. Es würde mir und meinen Kindern nicht das Zuhause nehmen. Ich richtete den Schaumstrahl auf die Flammen und schrie all die Angst, das Entsetzen und die furchtbare Wut, die sich in mir aufgestaut hatte, aus mir heraus. Ich schrie noch lange weiter, selbst als die Flammen bereits erloschen waren.






    Die Sonne ging langsam unter. Mit der einkehrenden Dunkelheit wurde deutlich, dass der Strom nicht nur im Schulkeller ausgefallen war. Auch in unserem Haus gab es kein Licht. Sky ist fast augenblicklich in einen tiefen Schlaf gefallen, sobald wir endlich die Sicherheit unserer vier Wände erreicht hatten. Klaudia hatte sich wieder beruhigt, aber sie wollte um keinen Preis allein sein. Und ich wollte meine Kinder nicht aus den Augen lassen, also beschlossen wir, alle gemeinsam in meinem Zimmer zu übernachten. Doch bevor es ins Bett ging, brauchte ich dringend eine Dusche. Der Geruch von Pferden, Rindern, Schweiß und Feuer klebte an mir und ich wollte nur noch raus aus diesen Klamotten.




    Klaudia legte sich zu Sky ins Bett und war eingeschlafen, noch ehe ihr Kopf das Kissen richtig berührte. Ich ging hinüber ins Badezimmer. Automatisch tastete ich nach dem Lichtschalter, bis mir wieder einfiel, dass es keinen Strom gab. Ich ließ die Tür zum Wohnzimmer offen, um wenigstens etwas Licht in den fensterlosen Raum zu bekommen, zog mich aus und stellte mich unter die Dusche. Doch das ersehnte Nass kam nicht. In den Leitungen ertönte ein lautes Gurgeln, gefolgt von einigen Spritzern trüben Wassers. Dann blieb es trocken. Der Stromausfall betraf natürlich auch die Wasserpumpen. Somit hatten wir nicht nur kein Strom, sondern auch kein Wasser mehr.




    Wütend schlug ich mit der Faust gegen die Fliesen. Doch dann fiel mir die manuelle Wasserpumpe ein, die hinter dem Haus installiert war. Die Wanne wurde sonst nur zum Baden von Goya benutzt, aber das war mir in diesem Augenblick egal. Ich pumpte so lange, bis die Wanne voll war und stieg in das, zugegebenermaßen kalte, Wasser um mich von Staub, Ruß und Gestank zu befreien.




    Anschließend war ich sauber, aber ich war so müde, dass ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Ich wollte zu den Kindern ins Schlafzimmer und mich auf das Sofa legen. Ich verzichtete darauf, meinen Schlafanzug anzuziehen und zog stattdessen normale Kleidung an. Wer konnte wissen, was in dieser Nacht noch alles gesehen würde? Vielleicht wurde es nötig, dass wir das Haus schnell verließen? Ich wollte auf alles vorbereitet sein.




    Da klopfte es an der Tür. Erschrocken riss ich den Kopf zur Seite. Doch vor der Tür stand kein Feind, sondern Anan, Dominiks Vater, den ich durch die Scheibe der Eingangstür hindurch erkannte und der ins Haus hinein lugt. Erleichtert lief ich ins Freie und warf mich dem Großvater meiner Kinder in die Arme.




    Doch Anan, der mich nach meiner Scheidung von Dominik immer noch wie seine eigene Tochter behandelt hatte, war nicht allein gekommen. Auch Dominiks Mutter Glinda war da. Uns beide verband ein schwieriges Verhältnis. Ihrer Meinung nach war ich nie gut genug für Dominik gewesen und sie hatte unserer Ehe keine Träne nachgeweint. Doch zum ersten Mal in all den Jahren, in denen ich diese Frau schon kannte, schien sie sich ernsthaft darüber zu freuen, mich wohlauf zu sehen.




    "Den Kindern geht es gut", versicherte ich den beiden, noch ehe sie fragen konnten. Ich konnte sehen, wie ihnen ein Stein vom Herzen fiel. Schnell führte ich sie ins Wohnzimmer und zündete ein Feuer im Kamin an, damit wir wenigstens ein wenig Licht hatten. Glinda bat um etwas zu Essen. Ich konnte ihr allerdings nur eine Packung trockener Asia-Snacks anbieten, die sie dennoch dankbar annahm. Dann berichtete ich von den Ereignissen des heutigen Tages und wie die Kinder und ich uns im Schulkeller versteckt hatten. "Und euch ist nicht passiert?", fragte ich besorgt. "Wurde niemand verletzt?"




    "Uns geht es allen gut", antwortete Glinda. "Mark und Kira haben uns sofort ins Auto gescheucht, als die ersten Raketen in der Nähe der Stadt einschlugen. Wir haben uns so schnell und so weit es ging von den Bohrtürmen und der Stadt entfernt und haben uns draußen in der Wüste versteckt. Siana und ihr Mann und auch Dennis, Stev und die Kinder haben sich selbst in Sicherheit gebracht. Es ist zum Glück niemanden etwas passiert. Allerdings haben Dennis und Stev kein Dach mehr über dem Kopf. Ihr Haus ist komplett niedergebrannt." Ich keuchte entsetzt auf. Wie viele meiner Freunde hatten wohl noch ihr Zuhause verloren? Auch Glinda wirkte unglaublich müde und erschöpft. Sie schien in den letzten Stunden um Jahre gealtert und wirkte nun wie eine gebrochene, alte Frau.




    "Aber wer waren diese Aggressoren?", fragte ich weiter. Es war eine Frage, die mich schon seit Beginn des Angriffes beschäftigte. "Wer hätte einen Grund unsere friedliche Stadt ohne Vorwarnung anzugreifen und zu zerstören?"




    Ich hatte nicht mit einer Antwort gerechnet, aber Anan überraschte mich und antwortete sofort. "Simnistrien!" Ich runzelte zweifelnd die Stirn. "Simnistrien ist tausende Kilometer weit entfernt auf der anderen Seite des Atlantiks. Ich glaube wirklich nicht..." Doch Anan ließ mich nicht weiter aussprechen. "Ich sage dir Oxana, das war das Werk von Simnistrien." Um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen, schlug er mit seinen Mittel- und Zeigefinger in seine offene linke Handfläche. "Simnistrien hasst uns, seit dem Krieg zwischen unseren beiden Nationen vor über 40 Jahren. Die SimNation mag diesen Krieg inzwischen überwunden haben, aber in Simnistrien ist kein Tag vergangen, an dem die Regierenden dieses Landes nicht Rache geschworen hätten."




    "Ach, Anan", unterbrach ihn seine Frau müde. "Für dich ist Simnistrien doch am gesamten Leid der Welt schuld. Selbst wenn unser Hund schief Pupst, dann war es Simnistrien. Wir sollten erst einmal den morgigen Tag abwarten. Lass die von der Regierung kommen und alles gründlich aufklären. Es bringt doch nichts, wenn wir wild mit haltlosen Anschuldigungen um uns werfen." Obwohl ich Glindas Hunde-Bemerkung mehr als unpassend fand, musste ich ihr doch zustimmen. Wir wussten einfach zu wenig, um die Ereignisse beurteilen zu können.




    "Es war Simnistrien", schrie Anan nun wütend. Ich zuckte erschrocken zusammen, denn ich war eine solch heftige Reaktion von meinem Ex-Schwiegervater nicht gewohnt. Er erkannte seinen Fehler und senkte die Lautstärke seiner Stimme wieder. Dennoch blieb er hoch erregt. "Ich habe vor 40 Jahren in Simnistrien gekämpft. Es war ein furchtbarer, sinnloser Krieg, und ich schäme mich dafür, dass die SimNation diesen Krieg damals heraufbeschworen hat. Aber dadurch kenne ich das simnistrische Militär. Genau diese Hubschrauber haben sie auch schon vor 40 Jahren eingesetzt. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass Simnistrien uns angegriffen hat. Und nach all den Spannungen zwischen unseren Ländern in den letzten Jahren, überrascht es mich nicht einmal."

    Kapitel 158: Der Wahnsinn beginnt




    Mit Vollgas raste ich die Landstraße entlang nach Sierra Simlone Stadt. Die Regentropfen auf der Scheibe nahmen mir fast vollständig die Sicht, denn der leichte Sommerregen war in einen kräftigen Schauer übergegangen. Doch ich kannte nur ein Ziel. Ich musste zu meinen Kindern, zu Klaudia und Sky, und sie in Sicherheit bringen. Mit quietschenden Reifen bog ich auf den Bürgersteig vor der Schule ein und sprang aus dem Wagen. Und im selben Moment hörte ich einen ohrenbetäubenden Knall aus Richtung der Bohrtürme. Ich musste mich beeilen.




    Ich hastete den Schulgang entlang und riss ohne anzuklopfen die Tür zu Skys Klassenzimmer auf. In der Klasse herrschte ein heilloses Durcheinander. Einige der Kinder liefen wild umher, andere saßen wie angewurzelt auf ihren Plätzen und starten hilfesuchend ihre Lehrerin an. Ein Junge versteckte sich sogar unter der Schulbank.




    Skys Lehrerin stand regungslos mit dem Rücken zur Tafel. Ihr Mund stand leicht offen und ihre Augen sprachen deutlich von der Verwirrung, der Angst und der Hilflosigkeit, die in ihr vorgehen mussten. Es war ihr erstes Jahr als Lehrerin. Der normale Unterricht brachte sie schon oft genug an den Rand der Verzweiflung, aber diese Situation überforderte sie in Gänze.




    "Mami!", schrie Sky laut, sprang von seinem Platz auf und lief auf mich zu, sobald er mich erkannte. "Mami, was ist hier los? Was ist das bloß für ein Lärm? Ich hab solche Angst", quickte er. Seine Augen spiegelten das blanke Entsetzen wider. "Dir wird nichts passieren, Liebling", versicherte ich ihm. "Mami wird nicht zulassen, dass dir etwas passiert."




    Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, gab es einen gewaltigen Knall. Entsetzt riss ich meinen Kopf zum Fenster. Die Explosion war viel näher, als die Vorherigen. Es hörte sich fast so an, als ob diesmal nicht nur einer der Bohrtürme getroffen wurde. Nein, die Explosion muss ganz in der Nähe stattgefunden haben, mitten in der Stadt. Die Kinder schrien alle noch lauter als zuvor. Waren sie vorher nur verängstigt, so brach jetzt offene Panik aus. Ich musste Sky hier rausbringen und Klaudia und all die anderen Kinder. Aber wohin?




    Ich lief zu Skys Lehrerin hinüber, die immer noch apathisch an der Tafel stand. "Frau Jolowitz! Frau Jolowitz!" Ich packte die junge Frau an den Schultern und schüttelte sie kurz aber heftig. Benommen starrte sie mich an, als ob sie gerade aus einem Traum erwacht wäre. "Frau Jolowitz, wir müssen die Kinder in Sicherheit bringen. Die Stadt wird gerade bombardiert! Wir sind alle in Gefahr. Hat die Schule einen Keller? Sie müssen uns hinführen!"




    Doch die Frau wirkte immer noch benommen. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie verstanden hatte, was ich gerade zu ihr sagte. Dann begann sie langsam mit dem Kopf zu schütteln. "Nein, wir dürfen das Klassenzimmer nicht verlassen. So steht es in der Schulordnung. Die Kinder müssen bis zum Gong in diesem Raum bleiben. Ja, so steht es in der Schulordnung." Ich konnte meinen Ohren kaum glauben. "Frau Jolowitz, das hier ist keine normale Situation. So etwas ist in der Schulordnung nicht vorgesehen. Wir müssen sofort alle hier raus." Doch die junge Lehrerin wollte nicht hören. Besser gesagt, sie konnte es nicht. Der Schock über die Ereignisse saß zu tief. "Die Schulordnung verbietet es", sagte sie immer wieder leise auf und wiegte sich mechanisch vor und zurück.




    Eine erneute Explosion in unmittelbarer Nachbarschaft machte mir deutlich, dass ich schnell handeln musste. "Alle weg vom Fenster und versteckt euch unter den Tischen", schrie ich. Offenbar hatten die Kinder nur auf eine klare Ansage gewartet, denn plötzlich kehrte halbwegs Ordnung ein und alle Kinder folgten ausnahmslos meiner Aufforderung. Ich versicherte mich, dass alle Kinder unter den Tischen kauerten und kroch anschließend selbst zu ihnen. "Frau Jolowitz", forderte ich die junge Lehrerin auf, "kommen sie auch zu uns hinunter."




    Doch die junge Frau schien meine Worte nicht einmal gehört zu haben. Anstatt sich unter den Schulbänken zu verstecken, schritt sie zum Fenster und starte ausdruckslos auf die Straße. Sie beugte sich gerade vor, als eine Rakete direkt vor der Schule einschlug. Die Druckwelle lies die Scheiben bersten. Glasscherben und Holzsplitter flogen durch die Luft und gruben sich in den Körper der Frau, die quer durch den Raum geschleudert wurde.




    Die Kinder schrien vor Angst und Entsetzen laut auf. Und auch ich konnte das Gesehene kaum ertragen. "Schaut weg Kinder", wies ich sie an, doch sie konnten den Blick von ihrer schwer verletzten Lehrerin nicht abwenden.




    Ich krabbelte unter dem Tisch hervor und auf Frau Jolowitz zu. Es war ein furchtbarer Anblick. Aus zahlreichen durch die Glasscherben verursachten Wunden floss Blut, doch die junge Frau rührte sich nicht. Zitternd streckte ich meine Hand aus und suchte nach der Hauptschlagader an ihrem Hals. Doch ich fühlte keinen Puls. Skys Lehrerin war tot.




    Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und eine Frau um die Fünfzig blickte völlig außer Atem in das Klassenzimmer. Sie musste hierher gerannt sein. Entsetzt entdeckte sie die Leiche vor meinen Füßen, während ich mich wieder aufrichtete. Es war die Direktorin der Schule. "Christina!", keuchte sie. "Wir brauchen sofort einen Notarzt." Doch ich blickte sie traurig an und schüttelte kaum merklich mit dem Kopf. Und die Direktorin verstand, dass jede Hilfe für ihre Kollegin zu spät kam.




    Doch anders als Skys junge, unerfahrene Klassenlehrerin geriet die Direktorin nicht in Panik. "Draußen herrscht das totale Chaos. Die Kinder sind hier nicht länger sicher. Unter der Schule befinden sich einige Kellerräume. Ich habe die anderen Schüler schon runter geschickt. Das hier ist die letzte Klasse." Diese Nachricht ließ mich wieder hoffen. Vielleicht konnten die Kinder doch noch in Sicherheit gebracht werden.




    "Los, alle schnell raus hier", wies ich die unter den Tischen hockenden und wimmernden Kinder an. Sofort krochen sie unter den Schulbänken hervor und liefen in die Richtung, in die die Direktorin sie wies. Ich versicherte mich ein letztes Mal, dass alle den Raum verlassen hatten und lief dann gemeinsam mit der Direktorin zur Kellertür.




    Es waren zwar nur wenige Meter bis zum Eingang zum Keller, doch dieser Weg erschien mir unendlich weit. Ich rechnete in jedem Moment damit, dass eine Rakete das Schulgebäude traf. Aber wir kamen alle sicher an. Ich stieg als Letzte die Leiter in den Kellerraum hinab. Unten waren bereits die Schüller und Lehrer versammelt. In kleinen Grüppchen verteilt hockten sie in den Ecken zwischen alten Büchern und staubigen Kisten. Es herrschte eine angespannte Stille, die nur von einem gelegentlichen Flüstern unterbrochen wurde.




    "Mama!" Klaudia sprang sofort auf und lief auf mich zu, als sie mich die Leiter hinunter steigen sah. Erleichtert fiel sie mir um den Hals. Sie hatte Angst, wie wir alle und war den Tränen nah. Und mir erging es nicht besser. Bis jetzt war ich stark, weil ich es sein musste. Doch hier, in der Sicherheit des Kellers überkamen auch mich die Hoffnungslosigkeit und das blanke Entsetzen. Ich konnte nicht mehr tun als sie zu halten und ihr auf diese Weise Trost zu spenden. Aber auch ich schöpfte aus dieser Berührung neuen Mut.




    "Was ist denn da draußen los? Was geht da vor sich?", drang meine Tochter mit Fragen auf mich ein. Doch darauf konnte ich ihr keine Antwort geben. Ich berichtete, was ich von den Weiden aus beobachten konnte, wie die Hubschrauber plötzlich aus dem Süden auftauchten, direkt auf die Stadt zuflogen und mit der Bombardierung der Bohrtürme begannen. Ich merkte, dass nicht nur Klaudia zuhörte, sondern dass auch die Blicke der übrigen älteren Schüler und der Lehrer auf mich gerichtet waren.




    Meine Erzählung wurde Sekunden später von einem Raketeneinschlag unweit der Schule unterbrochen. Die Wände des Kellers vibrierten und Putz rieselte von der Decke herab. Erschrocken blickten wir alle in Richtung des Kellereingangs, aber offensichtlich hatte die Rakete nicht das Schulgebäude selbst getroffen. Zumindest schien über uns alles noch zu stehen. Es wurde mucksmäuschenstill in dem Raum. Selbst das leise Flüstern verstummt jetzt.




    Ich zog mich mit Klaudia und Sky in eine Ecke des Kellers zurück. Mein Sohn zitterte am ganzen Körper, fest umschlossen von meinen Armen. Aber ansonsten blieb er ganz ruhig. Alle Kinder blieben erstaunlich ruhig. Von Klaudias Schulkameraden hätte man das erwarten können, aber viel der Kinder waren gerade einmal sechs oder sieben Jahre alt. Und nur meine Kinder hatten das Glück, dass sie in dieser Situation nicht alleine waren, sondern ihre Mutter bei sich hatten.




    Einige Minuten lang blieb es ruhig, sodass fast eine entspannte Situation aufkam. Doch dann gab es wieder einen Knall, lauter, als alles was wir bis dahin vernommen hatten. Die Regale im Keller zitterten und einige der Bücher fielen heraus. Diesmal hörte man vereinzelte Schreckensschrei, die sich auf alle Anwesenden ausweiteten, als Sekunden später das Licht im Keller ausfiel. Selbst Direktorin Bartelt konnte einen entsetzten Aufschrei nicht unterdrücken. Überall rückten die Schüler enger zusammen, nahmen Jungs ihre Freundinnen in den Arm oder gaben sich zwei Freunde gegenseitig halt. Die nun herrschende Dunkelheit nahm uns die Sicht, doch sie konnte das leise Wimmern und Schluchzen aus allen Ecken nicht verbergen.




    Auch Klaudia, Sky und ich rückten näher zusammen. Klaudia konnte ihre Tränen nicht länger unterdrücken und schluchzte leise. Sky blieb tapfer, vermutlich, weil ihm nicht ganz klar war, was um uns herum geschah. Aber er spürte instinktiv, dass etwas überhaupt nicht in Ordnung war. Ich drückte meine Kinder fest an mich und betete. Ich betete dafür, dass wir gesund aus diesem Keller kamen, dass Frau Jolowitz das einzige Opfer dieses Wahnsinns bliebe und das wir noch ein Zuhause hätten, in das wir zurück kehren konnten, wenn wir diesen Keller verließen.

    Was bisher geschah:
    (Zusammenfassung der vorherigen Aufgaben)




    Vor 20 Jahren hatte ich eine Affäre mit Albert, einem verheirateten Mann und Vater von vier Kindern. Diese Affäre blieb nicht ohne Folgen und bald schon merkte ich, dass ich schwanger war. Da ich Alberts Ehe und Familie um keinen Preis zerstören wollte, erzählte ich ihm nichts von dem Kind und das, obwohl ich ihn schon damals über alles liebte. Stattdessen suchte ich mir einen Ersatzvater für mein ungeborenes Kind. Geplant war, dass Dominik mich verließ, wenn er von meiner Schwangerschaft erfuhr.



    Doch Dominik dachte nicht einmal daran. Er freute sich auf das Kind, unser Kind, und unsere gemeinsame Zukunft. Also wurde meine Tochter Kinga in eine scheinbar glückliche Familie hinein geboren. Doch ich liebte Dominik nicht und auch meiner Tochter konnte ich nicht die Liebe entgegenbringen, die sie verdient hätte. Ich fühlte mich einfach zu schuldig für die Affäre, aus der sie hervorgegangen war.



    Viele Jahre bleib ich bei Dominik, doch meine Gefühle für Albert waren nie erlöschen. Schließlich konnte ich sie nicht länger unterdrücken und Albert und ich waren bereit, uns von unseren bisherigen Partnern zu trennen und eine gemeinsame Zukunft zu beginnen. Doch meine Träume wurden jäh zerstört, als Albert in einem Autounfall ums Leben kam. Kurz nach seinem Tod stellte ich zudem fest, dass ich erneut schwanger war. Ob Alber oder Dominik der Vater meines Kindes waren, vermochte ich nicht sagen.



    Vor Verzweiflung und Trauer fiel ich in ein tiefes Loch. Dominik versuchte zwar, mir wieder auf die Beine zu helfen, aber er kam kaum an mich heran, weil er nicht wusste, wie es in meinem Herzen aussah. Ich floh zu meiner Großmutter nach Warschau, die mir schließlich den Rat gab, Dominik zu heiraten. Da ich Dominik inzwischen sehr schätzte und mein ungeborenes Kind nicht ohne Kind aufwachsen sollte, folgte ich ihrem Rat und wurde Dominiks Frau. Und wir wurden eine glückliche Familie, Dominik, Kinga, meine zweite Tochter Klaudia und ich. Zwar liebte ich Dominik nach wie vor nicht, aber ich war dennoch zufrieden mit meinem Leben.



    Bis zu dem Zeitpunkt, als meine Zwillingsschwester Joanna auftauchte und mir offenbarte, dass sie der Kopf einer Verbrecherorganisation war und meine Hilfe bei einem ihrer finsteren Pläne benötigte. Sie erpresste mich mit dem Wissen um Kingas wahren Vater und schickte mich auf eine Mission, die mich beinah das Leben kostete. So schrecklich dieses Ereignis auch war, dadurch merkte ich, wie sehr ich meine Familie und auch meine Mann liebte. Endlich konnte ich ihm all die Liebe entgegenbringen, mit der ich seit Jahren von ihm überhäuft wurde.



    Alles wäre wunderbar gewesen, wenn Dominik nicht durch einen dummen Zufall erfahren hätte, dass er nicht Kingas Vater war und dies auch Klaudia fraglich blieb. Dominik konnte mir nicht länger vertrauen und verließ mich. Kinga verkraftet den Verlust ihres Vaters nicht und entwickelte einen tiefen Hass auf mich und auch auf ihre kleine Schwester Klaudia, die sich doch als Dominiks leibliches Kind entpuppte. Dominik heiratete erneut und bekam einen Sohn. Auch ich hatte mehrere Beziehungen, bis ich schließlich mit Kasimir einen neuen Mann fürs Leben fand.



    Die Krankheit meiner Großmutter wirbelte mein Leben wieder durcheinander. Ich musste nach Warschau und auf Wunsch meiner kranken Großmutter begleitete mich Dominik. Dort kamen mein Exmann und ich uns wieder näher. Es ging sogar so weit, dass Dominik mir seine Liebe offenbarte und mich bat, erneut seine Frau zu werden. Ich liebte ihn, aber ich brauchte Zeit für eine Entscheidung. Zudem warteten Zuhause größere Probleme auf mich. Kinga war nicht nur wütend auf mich, nein, sie versuchte auch ihre Wut mit Alkohol, Sex und Drogen zu unterdrücken. Da ich keinen anderen Ausweg mehr sah, bat ich meine Schwester Joanna um Hilfe. Sie verfügte über die notwendigen Mittel, um meine Tochter wieder auf einen rechten Pfad zu bringen.



    Ich erkannte, dass ich zu Dominik gehörte und trennte mich von Kasimir. Nun waren Klaudia, Sky, Dominik und ich eine große glückliche Familie und ich war mir sicher, dass eines Tages auch Kinga wieder zu dieser Familie gehören würde. Unser Familienglück wurde allerdings auch eine harte Probe gestellt, als eine dramatische Wirtschaftskrise uns an den Rand des Bankrotts trieb. Und noch schwerer wog Dominiks Entscheid für einige Monate als Sicherheitsmann in Simnistrien, einem Ölstaat in Südamerika, zu arbeiten.




    Kapitel 157: Unerreichbar





    "Die Leitungen sind überlastet. Bitte probieren Sie es später noch einmal." Ich atmete schwer. Obwohl ich mir vorgenommen hatte, mich nicht zu beunruhigen, stieg so langsam aber sicher Furcht in mir auf. Seit zwei Wochen probierte ich vergebens, Dominik zu erreichen. Aber jedes Mal ertönte nur die immer wieder gleiche Ansage vom Band. Ich hatte es schon zu allen möglichen Tages- und Nachtzeiten probiert, aber ohne Erfolg. Auch jetzt um 5 Uhr morgens, in Simnistrien musste es gerade 22 Uhr gewesen sein, schaffte ich es nicht, meinen Ex-Mann und Verlobten zu erreichen.





    Ich beschloss, dass es keinen Sinn machte, mich jetzt noch ins Bett zu legen. Bei all den Gedanken, die mir im Kopf herumschwirrten, war an Schlaf ohnehin nicht zu denken. Stattdessen legte ich mich aufs Sofa und versuchte wenigstens, mich etwas zu entspannen. Dominik war nun schon seit über zwei Jahren als Wachmann in Südamerika tätig. Es war allerdings das erste Mal, dass er unerreichbar blieb. Zwar fiel das Telefonnetz in Simnistrien immer mal wieder aus, allerdings noch nie über einen solch langen Zeitraum. Was mir besondere Sorgen machte war die Tatsache, dass Dominik zuvor von einer zunehmenden Verschärfung des Konfliktes zwischen den Simnationalen Ölgesellschaften, für die er arbeitete, und der Simnistrischen Regierung berichtet hatte.





    Irgendwann muss ich dann aber doch eingeschlafen sein. Erschrocken fuhr ich zusammen, als die Tür zum Schlafzimmer aufgerissen wurde. Hastig setzte ich mich auf und erkannte, dass Sky in meinem Zimmer stand. "Mami, du musst aufwachen!", rief er aufgeregt. "Der Schulbus kommt gleich und wir sind noch nicht fertig. Schnell!"





    Es war nicht meine Art einfach so zu verschlafen. Dies führte mir noch einmal deutlich vor Augen, wie sehr mir die Sorge um Dominik an die Substanz ging. Ich gab Sky einen Kuss auf die Stirn und bereitete Omeletts zum Frühstück vor. Klaudia versicherte mir, dass sie das auch selbst hingekriegt hätte, immerhin war sie schon 15. Aber ich hätte ohnehin aufstehen müssen. Auf mich wartete noch ein Tag voller Arbeit draußen auf den Weiden bei den Rindern.





    Dass ich verschlafen hatte, war für Sky keine große Sache. Bereits beim ersten Biss von seinem Omelett hatte er die ganze Geschichte wieder vergessen. Anders sah das bei Klaudia aus. Ich erkannte, dass ich ihr nicht länger etwas vormachen konnte. Sie spürte genau, wenn mich etwas bedrückte oder ich mich sorgte. Und diesmal erkannte sie auch sofort den Grund. "Irgendetwas stimmt nicht mit Papa." Es war eine Feststellung, keine Frage. Ich überlegte kurz, ob ich sie anlügen sollte, um sie nicht weiter zu beunruhigen. Als ich jedoch ihren Blick sah, wusste ich genau, dass sie alt genug war, um die Wahrheit zu erfahren.





    "Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, wie es deinem Vater geht. Ich kann ihn seit gut zwei Wochen nicht mehr erreichen." Klaudia nickte stumm. "Ich hab es auch schon probiert, aber angeblich sind die Leitungen belegt", gestand sie schließlich. Natürlich. Ich hätte mir denken können, dass Klaudia selbst versuchen würde, mit ihrem Vater zu sprechen.





    Dann lächelte sie jedoch. "Es wird schon alles in Ordnung sein, Mama. Das Telefonnetz in Simnistrien ist uralt. Papa geht es sicherlich gut und er ist froh, dass es mal zwei Wochen Ruhe von uns hat." Unweigerlich musste ich ebenfalls grinsen. Klaudia hatte vermutlich recht und das technische Problem würde schnell behoben werden. "Nun aber ab zum Schulbus", sagte ich und scheuchte sie Richtung Straße. "Der Fahrer sieht schon ganz finster aus, weil du dir so lange Zeit lässt und das penetrante Hupen weckt sonst die halbe Nachbarschaft."







    Doch ganz so entspannt, wie ich mich Klaudia gegenüber gab, war ich nicht. Während ich mich für die Arbeit bei den Rindern umzog, kam mir der Gedanke, dass Dominik sicherlich auch seit zwei Wochen versuchte, mich zu erreichen und nicht durchkam. Vielleicht hatte er ja einen Brief geschickt? Ich steig in den Pickup und machte einem Umweg zum Stadtzentrum. "Hi Alexa", begrüßte ich das Mädchen hinter der Theke unseres Gemischtwarenladens, der zugleich auch als Postamt fungierte. "Ist vielleicht ein Brief für mich angekommen?"





    "Ich schaue mal nach", erwiderte Alexa und begann in den Regal hinter der Ladentheke herumzustöbern. Sie schaute einige Briefe durch, doch ganz offensichtlich war keiner an mich adressiert. "Es tut mir sehr leid, Frau Brodlowska." Ich nickte. "Schon gut, Alexa. Aber könntest du mich bitte sofort benachrichtigen, wenn ein Brief von Herrn Blech ankommen sollte?"





    Alexa versicherte mir, sofort Bescheid zu geben. Obwohl ich jetzt auch nicht viel mehr wusste als zuvor, hatte sich das ungute Gefühl in mir verstärkt. Dominik hätte doch sicher versucht mir zu schreiben, wenn schon keine Kommunikation über das Telefon möglich war. Wenn ihm bloß nichts passiert ist. In der gleichen Sekunde, in der mir dieser Gedanke gekommen war, verfluchte ich mich auch schon dafür. Man sollte den Teufel nicht an die Wand malen. Und vielleicht hatte Dominik ja geschrieben, aber der Weg von Südamerika nach Simropa war lang. Sicherlich war der Brief noch unterwegs.







    Es blieb mir nichts anderes übrig als abzuwarten und zu hoffen. Ich fuhr hinaus auf die Weiden und parkte das Auto bei den Stallungen. Dort sattelte ich mein Pferd und ritt hinaus zum Wasserloch, um die Rinder zu zählen und nach den neuen Kälbern zu schauen. Seit einigen Tagen nieselte es immer wieder und heute wurde der Regen stärker. Aber ich empfand das als sehr angenehm, da es trotz des Schauers immer noch sehr heiß war und der Regen eine willkommene Abkühlung bot.





    Plötzlich begann mein Pferd zu scheuen. Im ersten Moment wusste ich nicht, was der Grund dafür sein konnte. Doch dann wurden auch die Rinder unruhig und schließlich hörte auch ich das dumpfe Drohnen in der Ferne, welches immer lauter wurde. Ich blickte zum Himmel und erblickte mehrere Punkte am Horizont, die sich schnell als sehr tief fliegende Hubschrauber entpuppten. Der Lärm war ohrenbetäubend und die gesamte Rinderherde, die ich zuvor mühsam zusammengetrieben hatte, flüchtete in alle Himmelsrichtungen. Ich verfluchte die Idioten, die so tief am Boden flogen, doch dann viel mein Blick auf die Raketen, die deutlich sichtbar außen an den Hubschraubern befestigt waren.





    Und sie flogen direkt auf die Stadt zu! Ich gab meinem Pferd die Sporen und galoppierte mitten in das Rapsfeld hinein, immer den Hubschraubern hinterher. Das Feld endete an einem seichten Hügel, von dem aus man einen guten Blick über das Tal hatte, in dem Sierra Simlone Stadt, mein Zuhause, lag. Und ich hatte mich nicht geirrt, die Hubschrauber hielten direkt auf die Stadt zu. Ich war den Hubschraubern nicht nur aus Neugierde gefolgt. Mich hatte bei ihrem bloßen Anblick ein ungutes Gefühl beschlichen. Und diesem Gefühl wurde Rechnung getragen, als plötzlich helle Lichter an den Hubschraubern aufblitzten, sich kleine Objekte lösten und einen schwarzen Schweif hinter sich her ziehend auf die bei der Stadt gelegenen Ölbohrtürme zurasten. Ich schrie vor blankem Entsetzen.





    Ich sah die grell Explosion, sah, wie die hohen Metallkonstruktionen zu schwanken begannen, sah den dicken, schwarzen Qualm, der aufstieg und vom Wind nach Norden geweht wurde. Der gewaltige Knall der Explosion erreichte mich erst einige Sekunden später. Vor Schreck gaben meine Knie beinah nach. Mein Pferd ging nun endgültig durch und galoppierte in die entgegengesetzte Richtung. Ich verschwendete nicht einen Gedanken daran, ihm hinterher zu jagen.





    Der furchtbare Anblick vor mir zog mich zu sehr in seinen Bann. Wieder blitzten die Lichter an den Hubschraubern auf und der nächste Bohrturm wurde getroffen. Ich zitterte am ganzen Körper und über mir vernahm ich das Getöse weiterer Hubschrauber, die auf Sierra Simlone Stadt zuhielten.





    Ich lief. Ich lief so schnell ich konnte. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, aber ich kannte nur ein Ziel. Ich musste in die Stadt, ich musste zu meinen Kindern. Klaudia und Sky waren in der Schule. Sie waren diesen unbekannten Angreifern schutzlos ausgesetzt. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, ehe ich die Stallungen und mein dort geparktes Auto erreichte. Goya folgte mir dicht. Meine Lunge brannte vor Anstrengung, aber ich ließ es nicht zu, langsamer zu werden. Der Lärm der einschlagenden Raketen trieb mich immer weiter an. Ich musste zu meinen Kindern! Ich musste sie retten.

    Kapitel 156: Familie



    Der Wachmann zerrte sie zu einem Wagen, der einige duzend Meter weit von der Baracke entfernt stand, gerade so weit, dass man ihn von der Holzhütte aus nicht bemerken würde. Durch die verdunkelten Scheiben konnte Kinga nicht nach draußen sehen, aber als der Wagen hielt, wurde die Tür geöffnet und Kinga höflich aufgefordert auszusteigen. Der Wachmann nahm ihr die Handschellen ab und als sie sich umblickte, sah sie ein großes Backsteingebäude auf einer Wiese. Und davor stand Hajo, der einladend die Arme ausbreitete. "Herzlich willkommen, Kinga!"


    Kinga war so überrascht ihren alten Freund wiederzusehen, dass es ihr die Sprache verschlug. Hajo nahm sie an der Hand und führte sie über die Brücke, die den Graben um das Backsteingebäude überspannt. Erst als sie durch die riesige Eingangstür ins Innere des Gebäudes kamen, konnte Kinga wieder klar denken. "Hajo, was ist das hier? Wo sind wir", fragte sie, überwältigt von den Eindrücken, die auf sie eindrangen.


    "Das hier ist die zentrale Verwaltung des Lagers, in dem du die letzten zwei Jahre verbracht hast", erklärte Hajo. "Von hier aus werden die neuen Studenten eingeteilt, die Lehrer und Aufseher erhalten von hier ihre Befehle. Und von hier aus können wir auch beobachten, was die Studenten so treiben. Das Lager wird um die Baracken herum eigentlich vollständig Abgehört und Video-Überwacht." Immer noch konnte Kinga nicht so recht glauben, was sie hörte. "Und was soll ich hier?", fragt sie schließlich. "Hier arbeite", antwortete Hajo knapp. "Senora Ewa hat dich hierher versetzen lassen. Du wirst also ein paar Wochen bei uns verbringen."


    Kinga fühlte sich so dumm, weil sie wirklich gedacht hatte, dass ihrem Freund Hajo etwas Schreckliches angetan worden war. Dabei war er nur hierher in die Verwaltung versetzt worden. Und sie erfuhr, dass auch Rabea lediglich in ein anderes Lager verlegt worden war. Kinga erhielt eine Uniform, wie all die anderen sie auch trugen, und wurde in die Arbeit in der Verwaltung eingeführt. Die Arbeit war nicht sehr aufregend. Hauptsächlich war sie damit beschäftigt, die Akten von Jugendlichen aus aller Welt durchzugehen und darunter die Interessanten heraus zu suchen. Insgeheim hoffte sie, dass sie nicht allzu lange hier bleiben würde.


    Etwas Abwechslung bot nur die Arbeit an der Maschine zum Geldfälschen. Kinga dachte es sei ein Witz, als man ihr auftrug Falschgeld zu drucken. Aber anscheinend gehört das zu ihren zukünftigen Job. Das Falschgeld sah erstaunlich echt aus und das bisschen würde sicherlich keinem weh tun. Nur war die Arbeit furchtbar anstrengend. Die Maschine war gut und gerne fünfzig Jahre alt und wurde von Hand bedient. Immerhin musste Kinga so nicht noch zusätzlich trainieren.


    Nachdem Kinga fast einen Monat in der Verwaltung verbracht hatte, tauchte Senora Ewa auf und wollte sie sprechen. "Was kann ich für sie tun, Senora Ewa?", fragte sie ihre Großtante. "Du wirst noch heute das Lager verlassen", erklärte diese. "Ein Wagen wartet draußen auf dich."


    "Ein Wagen? Und wohin soll ich fahren? Und was ist mit meinen Freunden hier im Lager? Romina, Tabea und all die anderen, kann ich mich gar nicht mehr von ihnen verabschieden?", fragte Kinga überrascht. Und was war mit Olek? Würde sie ihn auch nie mehr wiedersehen können? Kinga bildete sich ein, dass Senora Ewas Mundwinkel bei der Erwähnung von Tabeas Namen seltsam gezuckt hätte. "Du wirst sie sicherlich irgendwann wieder sehen", erklärte sie lediglich. "Es bleibt keine Zeit, um noch mal ins Lager zu fahren. Wenn du willst, kannst du dich von den Leuten hier verabschieden, aber beeil dich. Wir haben nicht viel Zeit".


    Der einzige Mensch, von dem Kinga sich hier verabschieden wollte, war Hajo. "Ich wollte nicht einfach so verschwinden, wie du damals aus meinem Leben verschwunden bist", erklärte sie. Und aus einem Impuls heraus, küsste sie ihn, ungeachtet dessen, was Senora Ewa sagen würde, die sich mit einer Mitarbeiterin ganz in der Nähe unterhielt. "Wenn wir an einem anderen Ort gewesen wären und die Umstände nicht so, wie sie nun mal sind, dann hätte ich dich vielleicht lieben können, Hajo", beteuerte King. "Sssch, Kinga. Denk nicht darüber nach was hätte sein können. Und nun solltest du los. Senora Ewa guckt schon sehr böse zu uns rüber."






    Im Wagen lagen neue Kleider für Kinga bereit. Ihre Uniform musste sie zurücklassen und auch sonst durfte sie nichts mit sich nehmen. Der Wagen mit den verdunkelten Scheiben brachte sie in ein Lagerhaus, das ungefähr zwei Fahrstunden von ihrem letzten Aufenthaltsort entfernt lag. Von dort aus ging es mit einem gewöhnlichen Lieferwagen weiter. Die Fahrt führte nur über Feldwege und Landstraßen und Kinga erkannte erst, dass sie nach SimCity unterwegs war, als sie die Stadt bereits erreicht hatten. Nach einer fast 20 Stündigen Fahrt setzte der Fahrer sie vor dem Gebäude der "Sky Meal" ab. Ohne ein Wort zu sagen, fuhr er wieder weg. Kinga kratzte sich ratlos am Kopf und sah sich um, konnte aber niemanden entdecken. Also entschied sie sich, das Gebäude einfach mal zu betreten.


    Noch bevor sie die Dame am Empfang ansprechen konnte, blickte diese von ihrem Computer auf. "Willkommen, Miss Blech. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise. Senora Ewa erwartet Sie bereits. Ihr Büro liegt im zweiten Stockwerk. Zimmer 203."


    Sichtlich verwirrt stieg Kinga in den Fahrstuhl. Wieder einmal ergab alles keinen Sinn. Warum hatte ihre Großtante denn ein Büro bei bei "Sky Meal"? Und woher wusste die Empfangsdame, wer sie war? Senora Ewa würde ihr dafür sicher eine Erklärung liefern können, also klopfte Kinga beherzt an die Tür und trat ein, ohne ein Antwort abzuwarten. "Wieso sind Sie auch hier?", war das Erste, was Kinga fragte. "Hätten wir dann nicht gemeinsam hier her kommen können. Ganz offensichtlich kennen Sie eine schnellere Art zu reisen. Und ich vermute, auch eine deutlich bequemere."


    "Bitte setzt dich Kinga", forderte Senora Ewa sie auf. "Es war nötig, hier vor deiner Ankunft noch einige Dinge zu regeln. Es geht dabei um deine Mitbewohnerin Tabea." "Wenn es um die Party geht, das war meine Idee. Tabea trifft keine Schuld", unterbrach Kinga sie. "Die Party hat uns nie interessiert, Kinga. Ihr seid kurz ausgebrochen und danach brav zurückgekehrt. Es hatte keine Auswirkungen auf eure Leistungen, als ging es uns nichts an. Nein, Kinga, es ist etwas viel Ernsteres passiert. Tabea wurde zu ihrem ersten Einsatz geschickt, ähnlich dem, den du mit Romina hattest. Aber sie ist nicht wieder gekommen. Tabea ist tot, Kinga."


    "Was?", keuchte Kinga. "Das kann nicht sein. Das ist doch nicht möglich." "Doch Kinga, das ist es. Unser Beruf ist mit vielen Gefahren verbunden. Tabea kannte das Risiko." "Aber...aber was ist passiert. Warum habt ihr nicht auf sie aufgepasst? Es war ihr erster Einsatz!" Senora Ewa umfasste die Armlehnen ihres Stuhls, sodass ihre Knöchel weiß hervor traten. "Nein, dass hätte nicht passieren dürfen. Und sei dir versichert, dass Tabeas Kontaktmann bereits zur Verantwortung gezogen worden ist. Er hat nicht aufgepasst und zugelassen, dass sie erschossen wurde."


    "Aber was viel wichtiger ist, wir haben das Schwein gefasst, dass Tabea erschossen hat", fuhr Senora Ewa fort. "Er befindet sich hier im Gebäude." Kinga sprang von ihrem Stuhl auf und ballte wütend die Faust. "Ich will zu ihm!", forderte sie. "Ich will den Mistkerl in die Augen sehen, der meine Freundin auf dem Gewissen hat." "Und genau deshalb bist du hier, Kinga. Aber bist du wirklich schon bereit, ihm jetzt gegenüber zu treten?" Kinga nickte.




    Senora Ewa erhob sich von ihrem Schreibtisch und gab Kinga zu verstehen, ihr zu folgen. Sie gingen zum Fahrschule und die rothaarige Frau hielt eine Chipkarte an ein Lesegerät an der Tafel mit den Etagen-Tasten und betätigte die ansonsten deaktivierte Taste für die dritte Etage. Als die Fahrstuhltür sich öffnete, schritt Senora Ewa hinaus, hielt aber noch einmal inne. "Der Kerl befindet sich dort hinter." Sie deutete auf eine schäbige Tür vor ihnen. "Das ist deine letzte Chance umzukehren." Doch daran dachte Kinga nicht einmal. Ohne weiter zu überlegen nahm sie die Chipkarte aus Senora Ewas Hand und öffnete damit die Tür.


    Der Mann blinzelte, als die Tür aufschwang und das grelle Sonnenlicht in die finstere Zelle flutete. Er saß gefesselt auf einem Stuhl und sein Gesicht war gekennzeichnet von zahlreichen Kratzern und blauen Flecken. So wie es aussah, hatte man sich seiner schon angenommen.


    "Und wer bist du?", fragte er und spuckte dabei Blut. "Schicken sie jetzt kleine Mädchen um mich zum Reden zu bringen? Das letzte kleine Mädchen habe ich wie ein Flieg zerquetscht." "Halt dein Maul, Mistkerl!", brüllte Kinga ihn an. Er fing an zu lachen. "Warum hast du sie umgebracht? Warum musste Tabea sterben? Warum?!" "Weil das klein Flittchen dachte, sie kann mich austricksen", spie er durch zusammengekniffen Zähne hindurch. "Sie dachte, sie kann einfach so bei mir einbrechen, meine Hunde töten und ungeschoren davon gekommen. Und dafür musste diese Hure sterben. Ich hab sie einfach abgeknallt, aus nur einem Meter Entfernung, mitten auf einem Parkplatz. Ihr dummes Gesicht, als sie blutend zu Boden sank, war die ganze Mühe fast schon wieder wert gewesen."


    Als er wieder anfing zu lachen konnte Kinga nicht mehr länger an sich halten und schlug in mit geballter Faust ins Gesicht. Sein Kopf schleuderte nach hinten und schlug heftig gegen die Wand. "Wag es ja nie wieder, so über sie zu sprechen, du Hurensohn!"


    "Mach dir deine Hände doch nicht schmutzig, Kinga." Kinga zuckte zusammen, als sie die Stimme ihrer Großtante hinter sich hörte. Sie hatte völlig vergessen, dass sie auch im Raum war. Sie stoppte damit, weiter auf Tabeas Mörder einzuprügeln. Senora Ewa schritt auf sie zu und legte ihr etwas in die Hand. Kinga blickte überrascht hinunter und sah die Pistole. Langsam blickte sie auf und sah ihrer Großtante in die Augen. Und diese nickte. "Bring dieses Schwein um. Er hat es nicht anderes verdient."



    Senora Ewa strich Kinga beim Vorbeigehen über den Rücken und verließ den Raum. Die Tür schloss sich hinter ihr und Kinga war alleine mit dem Mörder ihrer Freundin und einer Pistole in der Hand. Der Typ grinste immer noch. "Du wirst doch eh nicht abdrücken", spottet er. Kinga hatte noch nie auf einen Menschen geschossen. So viel Male hatte sie an der Zielscheibe geübt oder auch Tier gejagt, aber noch nie musste sie die Waffe gegen einen Menschen einsetzen. Gedankenversunken entriegelte sie die Waffe und plötzlich verschwand das Grinsen des Typen. "Mädchen, komm schon, die Kleine ist bei mir eingebrochen. Was hätte ich den tun sollen? So ist nun mal das Geschäft." "Ja, so ist nun einmal das Geschäft", pflichtet Kinga ihm bei. Und sie drückte ab.


    Senora Ewa hörte den Schuss. Es vergingen ein, zwei Minuten, bis die Tür aufging und eine sehr blasse Kinga auf wackligen Beinen ins Sonnenlicht trat. Noch immer hielt sie die Pistole in den Händen. "Er ist tot", flüsterte sie. Senora Ewa schritt auf sie zu und nahm ihr behutsam die Waffe aus der Hand. "Komm, Kinga, es wartet noch jemand darauf dich zu sehen."


    Kinga fühle sich wie in Watte gepackt. Alls drang nur dumpf und undeutlich zu ihr durch. Es war ein wenig so, als wenn sie wieder high wäre. Sie folgte Senora Ewa eher unbewusst. Und als diese die Tür zu einem Büro öffnete, erkannte sie die Frau, die dort saß nur langsam. Doch dann gefror sie zu einer Salzsäule. "Mutter", keuchte sie. Die Frau in dem bequemen Sessel vor einem großen Schreibtisch saß, begann zu lachen. "Nein King, nicht deine Mutter. Nur ihre Zwillingsschwester."


    Erst jetzt erkannte Kinga, dass dort ihre Tante Joanna im Sessel saß. Sie erhob sich graziös und schritt langsam auf Kinga zu, die verwirrt zu Senora Ewa hinüber blickte. "Darf ich vorstellen, Donna Joanna, der Kopf unsere Organisation." Inzwischen war Donna Joanna bei Kinga angekommen und umfasste die Arme ihre Nichte. Sie beugte sich vor und hauchte Kinge einen Kuss auf die Wange. "Willkommen Kinga. Willkommen in deiner neuen Familie. Willkommen bei "Justice".


    Gedanken:


    „Willkommen in deiner Familie“. Kinga hatte nicht geglaubt, dass sie diese Worte jemals wieder hören würde und sie ihr irgendetwas bedeuten würden. Doch das taten sie. Sie fühlte sich tatsächlich so, als ob sie endlich zu ihrer Familie gefunden hätte. Sie gehörte nicht zu dem Mann, der sie aufgezogen, aber doch nicht ihr Vater war, nicht zu dem kleinen Mädchen, die sie als ihre Schwester bezeichnete und schon gar nicht zu der Frau, die ihre Mutter sein wollte, aber nicht einmal in der Lage war sie zu lieben. Nein, Sie gehörte hier her, zu „Justice“. Hier war sie zuhause. Zweieinhalb Jahre hatte sie unter erbärmlichen Bedingungen gelebt. Sie hatte sich quälen und demütigen lassen. Aber das alles diente nur dazu, damit sie endlich zu ihrer Familie fand. Diese Erkenntnis entschädigte für alle Strapazen.


    Sie hatte alle Aufgaben gemeistert. Trotz der anfänglichen Ausrutscher gab es keinen Zweifel mehr daran, dass sie bereit und würdig war, ein Teil der Organisation zu werden. Und auf ihrem Weg dorthin hatte sie viel Menschen kennengelernt, die ihr mehr ans Herz gewachsen waren, als ihre wahre Familie in der Sierra Simlone es je könnte. Romina war ihre engste Vertraute und Tabea eine verwandte Seele. Ihr Tod würde Kinga noch lange beschäftigen, aber es verschaffte ihr Genugtuung, dass sie Tabeas Tod rächen konnte. Und auch ihre weiteren Mitbewohner, Heidemarie, Gertrude, Willi, Peter und Linda würde sie nie vergessen, ebenso wie Vroni und Igor, zwei weitere Kommilitonen, die sie entscheidend geprägt haben.

    Sie waren schon eine tolle Truppe gewesen. Kinga war sich sicher, dass eine Baracke wie ihre nicht alle Tage vorkam. Sie hoffte, ihre Mitbewohner und Kommilitonen in naher Zukunft wieder sehen zu können. Aber wer wusste schon genau, was das Schicksal für sie bereit hielt? Hätte ihr jemand vor drei Jahren gesagt, dass sie in ein Lager gesperrt und zur Agentin ausgebildet werden würde, sie hätte ihn ausgelacht. Aber das Schicksal ging manchmal seltsame Wege und man konnte nur verlieren, wenn man versuchte sie vorauszusehen.

    Kapitel 155: Schicksen-Freundschaft


    Romina und Peter, Heidemarie und Willi, überall gedieh die Liebe...oder zumindest das sexuelle Verlangen. Und auch Kinga fand jemanden. Ab und an verschwand sie für einige Stunden in den Wald und traf sich mit Olek. Es hatte sich irgendwann einfach so ergeben. Sie und er waren alleine im Auto unterwegs gewesen und ehe Kinga richtig begriff, was los war, lagen die beiden schon knutschend auf der Rückbank. Seitdem genoss sie die Treffen mit dem rund 15 Jahre älteren Mann. Als er sie sah, zog er sie besitzergreifend an sich. "Du bist ja ganz nass", bemerkte sie. Olek musste schon länger im Regen gewartet haben. Doch er zuckte nur mit den Schultern. "Es ist doch Sommer. Außerdem wirst du mich sicherlich gleich wärmen."


    Damit hatte er recht. Niemand durfte etwas von ihren Treffen erfahren, also blieb ihnen auch nur wenig gemeinsame Zeit. Schnell waren die Kleider vom Körper gefallen und die beiden liebten sich unter dem freien Himmel. Der warme Sommerregen prasselte auf ihre überhitzten Leiber und für einen kurzen Moment vergaßen sie alles um sich herum.

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    Kinga küsste liebevoll seine Schulter und lehnte anschließend ihre Stirn gegen seine. "Hast du denn deiner Mutter geschrieben?", fragte er. "Oder deinem Vater? Du weißt, dass du das seit Monaten machen kannst. Meinst du nicht, dass sie ein Lebenszeichen von dir hören wollen." Olek hatte einen wunden Nerv getroffen, aber in seinen Armen gelang es Kinga, selbst in dieser Situation ruhig zu bleiben. "Ich bin mir sicher, dass ihr meine Erzeugerin wissen lasst, dass ich noch nicht abgekratzt bin. Mehr muss sie nicht wissen. Und jetzt genug davon. Wir haben nicht mehr viel Zeit und die sollten wir nutzen." Anstatt seine Schulter noch einmal zu küssen, biss Kinga hinein, stark genug, dass ein lustvoller Schmerz Olek durchzuckte. Er würde den Tag ganz sicher noch auskosten.



    Der Sommer ging vorüber und es folgte ein erneut harter Winter, der durch intensives Lernen geprägt war. Doch die acht Bewohner der Baracke unterstützten sich, wo sie konnten. Das Wohnzimmer war ein idealer Treffpunkt für alle, nicht zuletzt, weil es der einzige Raum war, der über einen Ofen verfügte.



    Der Schnee schmolz, Schneeglöckchen blühten und verblühten wieder. Die Tage wurden länger und schon bald war wieder Hochsommer. Nach dem Unterricht legten Kinga und Romina sich ins Gras und beobachteten verträumt die vorbeiziehenden Wolken. "Guck doch, die Wolke über uns", sagte Romina, "die sieht doch genau so aus wie der Scheich, den ich in Algerien angraben sollte." Kinga stieß sie grinsend mit dem Ellbogen in die Rippen, was Romina ein empörtes "Aua!", entlockte. Ein lautes Getöse am Himmel unterbrach die ansonsten herrschende Stille. "Da schau, wieder drei Kampfjets", bemerkte Kinga und zeigte in die Richtung, in die die Flugzeuge davonjagten. "Sind bestimmt schon die dritten, die wir heute sehen. Und gestern ging das auch schon so." "Bestimmt irgendeine Übung", vermutete Romina. Kinga zuckte nur mit den Schultern und suchte sich die nächste Wolke, in die man das Gesicht irgendeines Scheichs hinein deuten konnte.


    Aber so gemächlich wie an diesem Tag ging es nicht oft zu. Tabea trieb die anderen Mitbewohner regelmäßig dazu an, etwas für ihren Körper zu tun. Oft gingen sie rüber zur Lehrbaracke, um die dortigen Geräte zu nutzen, und mit Joggen, Gymnastik und Seilspringen konnten die jungen Frauen sich vor Ort fit halten.


    Doch auf Dauer boten das ständige Lernen und die körperlichen Betätigungen nicht wirklich Abwechslung. Kinga hatte noch ihre Romanze mit Olek, aber Tabea verbrachte Tag ein Tag aus ihre Zeit immer mit denselben Menschen, sei es nun während des Unterrichts oder auch daheim in der Baracke. Und das Kotzte sie an. Sie war nicht der Mensch, der lange an einem Ort blieb. Sie brauchte die Abwechslung, immer Aktion um sich herum. Die Streitereien mit Heidemarie arteten deshalb immer weiter aus, weil sie einfach kein anderes Ventil fand, um ihre angestaute Energie los zu werden. Der Höhepunkt war erreicht, als beide Frauen aufeinander losgingen.


    Kinga wusste, dass es so zwischen den beiden nicht weiter gehen konnte. Der Winter hatte fast wieder Einzug gehalten. Zwar sendete die Sonne noch ihre letzten wärmenden Strahlen auf die goldgefärbten Wälder, aber bald würden sie wieder nur noch im Haus hocken können. Und unter der angespannten Situation war ein erneuter Ausbruch regelrecht vorprogrammiert. Da bot ausgerechnet Tabea eine Lösung. "Ich hab gehört, auf so einer Lichtung im Wald würde ne Party steigen. So richtig mit Musik, ein paar neuen Gesichtern und sogar Alkohol soll‘s da geben. Irgendeine Baracke hat sich wohl ´ne Destille gebastelt. Bitte Kinga, lass uns da hin gehen!"


    Eigentlich hielt Kinga das für gar keine gute Idee. Sie konnte sich noch lebhaft daran erinnern, was das letzte Mal passiert war, als sie bei einer solchen Party war. Hajo und Rabea, zwei Kommilitonen zu denen sie gerade Kontakt geknüpft hatte, waren anschließend wie vom Erdboden verschluckt. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was mit den beiden passiert war. Und trotzdem versprach sie Tabea mit zu kommen. "Wir müssen uns aber nachts raus schleichen. Die anderen dürfen nicht mitbekommen, dass wir weg sind. Ich werde nur Romina einweihen, damit sie uns im Notfall decken kann. Wenn wir erwischt werden, dann ist hier aber der Teufel los, das kannst du mir glauben." Vielleicht übertrieb Kinga ein wenig, aber sie wollte sicher gehen, dass Tabea sich des Risikos bewusst war.



    Kinga bat Heidemarie, ihr Bett für eine Nacht mit Tabea zu tauschen. Diese war zwar nicht wirklich begeistert. Stimmt aber zu. So konnten sich Tabea und Kinga aus dem Dreierzimmer raus schleichen, so dass nur Romina etwas davon mitbekam. Als sie bei der Lichtung eintrafen, war die Party bereits im vollen Gange. Aus dem Ghettoblaster schallte Rock-Musik und ein paar Leute standen Head-bangend davor. Tabea schloss sich ihnen umgehend an und fühlte sich gleich wie Zuhause. Wäre Barbie-Püppchen Lydia nicht auch da gewesen, hatte Tabea sich sicherlich noch besser amüsiert. Auch Kinga musste sich eingestehen, dass sie es vermisst hatte, Party zu machen.



    Die Geschichte mit dem Alkohol stellte sich als wahr heraus. Hinter einer aufgestellten Kiste, die gleiche, die schon bei Kingas letztem Besuch als Bar diente, befanden sich einige Flaschen Selbstgebrannten. King war vorsichtig, schließlich hatte sie keine Lust, am nächten Morgen blind aufzuwachen. Anderseits hatten die anderen Studenten das Zeug sicherlich schon vorher mal probiert. "Man, habe ich das vermisst", seufzte Tabea, als sie einen kräftigen Schluck von ihrem Drink nahm und die anderen beim Tanzen beobachtete.


    "Na, wäre der Typ hinter mir nicht was für dich", zog Kinga ihre Freundin auf. Diese verzog beim Anblick des langnasigen Rothaarigen angewiderte das Gesicht. "Bah, doch nicht so ein Waschlappen. Mein Oberarm ist ja fast dicker als sein Oberschenkel. Ich brauche schon einen richtigen Mann. Oder auch eine richtige Frau." Plötzlich wurde sie ernst und sah Kinga tief in die Augen. Diese überkam die Panik. "Du...also...ich. Ich hab viel Spaß mit dir, aber..."


    Sie hörte auch zu stammeln, als Tabea in wildes Gelächter ausbrach. "Oh man, Kinga, deine Fresse hättest du gerade sehen sollen. Du bist blass geworden, wie ein Bettlacken. Mädel, das war doch nur ein Scherz." Erleichtert atmete Kinga durch und schüttelte grinsend den Kopf. "Und jetzt", sagte Tabea und leert ihr Glas, "mache ich mich an den rothaarigen mit den viele Tattoos ran. Der ist schon eher meine Kragenweite."


    Und setzte dies gleich in die Tat um. Den Rest des Abends bekam Kinga die beiden nicht mehr zu sehen. Einmal im Wald verschwunden, ließen die beiden sich erst Stunden später wieder blicken. Die Zeit nutzte Kinga aber dazu, ein paar neue Gesichter kennen zu lernen. Im Frühjahr waren eine ganze Reihe neuer Leute im Lager aufgetaucht und bis jetzt kannte sie nur einen Bruchteil davon.


    Mit Müh und Not gelang es Kinga, Tabea von ihrer rothaarigen Eroberung und der Party wegzuzerren. Aber der Weg zurück zur Baracke war lang und es würde bald Morgen werden. Als sie vor der Tür standen, fiel Tabea Kinga überraschend um den Hals. "Ich danke dir, dass du mit mir gekommen bist. Ich fasse kaum, dass ich das jetzt sage, aber du bist echt so etwas wie eine Freundin für mich. Und glaub mir, dass konnte noch keine andere Schickse vor dir von sich behaupten." Tabea lachte zwar, aber Kinga konnte genau die Träne sehen, die über ihr Gesicht lief. Anstatt zu antworten, drückte sie sie einfach.



    Zunächst hatte Kinga große Angst gehabt, dass ihr Wegschleichen Konsequenzen nach sich ziehen würde. Sie wartete, dass irgendetwas passierte, dass einer ihrer Mitbewohner verschwand, dass sie bestraft wurde. Aber nichts dergleichen geschah. Nicht am nächsten Tag, am übernächsten nicht und als auch nach zwei Wochen immer noch nichts passiert war, begann Kinga den Vorfall zu vergessen. Längst schlief sie wieder beruhigt und genoss es, die letzten Tage im Freien zu verbringen, bevor der Winter endgültig Einzug hielt.


    Deshalb war sie vollkommen überrascht, als genau einen Monat nach der Party plötzlich ein Wachmann in den Waschraum stürmte, grob ihre Arme packte und ihr Handschellen anlegte. "Denk bloß nicht daran zu schreien!", warnte er sie. Aber das hätte auch wenig Sinn gehabt. Die Waschräume lagen weit von den restlichen Zimmern entfernt. Wahrscheinlich würde sie nicht einmal jemand hören können.


    Wie konnte sie nur so dumm gewesen sein und glauben, dass es ohne Konsequenzen blieb, wenn sie sich davon stahl und zu einer Party ging? Ihr wurde doch so oft klar gemacht, dass sie das nicht durfte. Und was würde aus Tabea werden? Was würden die bloß mit ihrer Freundin machen. Beim ersten Mal war Kinga noch mit einem blauen Auge davon gekommen. Zwar waren Hajo und Rabea verschwunden, aber für sie hatte die erste Party auf der Lichtung im Wald keine Folgen gehabt. Diesmal sah es eindeutig anders aus.

    Kapitel 154: Borkenkäfer




    Wenn fünf Frauen unter einem Dach leben, dann kommt es unweigerlich dazu, dass sie sich irgendwann an die Gurgel gehen. In diesem Fall waren es Heidemarie und Tabea. Die beiden waren in ihrem Charakter grundverschieden. Tabea hätte am liebsten jeden gleich eine reingehauen, der sie nur schief anguckte und Heidemaries herzallerliebste, vor Schleim fast schon triefende Art ging ihr gehörig auf den Zeiger.



    Und auch das herzerweichende Weinen ihre Mitbewohnerin ging ihr am A**** vorbei. "Jetzt hör mit diesem gekünstelten Gejammer auf, Püppchen!", setzte Tabea eins drauf. "Nur weil wir unter einem Dach leben, müssen wir keine besten Freundinnen sein, kapiert. Lass mich mit deinem Getue zufrieden und wir haben beide kein Problem miteinander." So wie es aus sah, hatte selbst Heidemaries Charme seine Grenzen.



    Als der Frühling kam, lebten somit fünf Frauen in der Baracke. Romina, Kinga, Gertrude, Tabea und Heidemarie. Kinga hatte nie eine Rückmeldung bekommen, ob ihre Entscheidung, die drei aufzunehmen, richtig war. Da sich aber niemand beschwerte, ging sie davon aus, dass alles im Lot sei. Dafür fanden die fünf Frauen immer wieder sperrmüll vor der Hütte und hatten sich ihre Baracke bald auch recht gemütlich eingerichtet.


    Eines Nachmittags kam Gerd, ein Typ, mit dem sich Tabea frühere eine Baracke geteilt hatte, wütend aus dem Wald gelaufen und ging auf sie los. "Du dumme Kuh, du hast mich doch bei Prof. Elena verpetzt! Aber das werde ich dir heimzahlen!"



    Wenn man bei jemandem mit falschen Anschuldigungen vorsichtig sein sollte, dann war es Tabea. Sie brauchte gar nichts zu sagen, sondern ballte lediglich ihre Fäuste und knurrt Gerd wütend an. Der wich erschrocken zurück und hob beschwichtigend die Hände. "Ist ja gut, ist ja gut. Vielleicht...vielleicht hab ich mich ja auch geirrt. Das kann doch passieren. Ich hau dann mal lieber wieder ab."


    Romina beobachtet die ganze Szene schmunzelnd. Tabea konnte sich wirklich behaupten. Im Stillen bewunderte sie ihre Mitbewohnerin dafür. "So, jetzt aber wieder an die Arbeit, Mädels", wies sie Tabea und Gertrude an, die beide ihre Schaufeln wieder in die Hand nahmen und das Grundstück umgruben. Den genauen Sinn dieser Arbeit verstand selbst Romina nicht, aber eines Morgens standen zwei Schaufeln an die Wand gelehnt neben dem Eingang mit dem Hinweis "benutzen" drauf. Und jetzt durften Tabea, Gertrude und Heidemarie abwechselnd die Erde neben der Baracke umbuddeln.



    In den Wintermonaten war der Unterricht in der Lehrbaracke wie üblich verlaufen. Kinga und Romina besuchten, die gewohnten Fächer, bekamen intensives Sprachtraining. Und auch die abendlichen Lektionen in Glücksspiel wurden fortgesetzt. Gelegentlich beteiligten sich auch potenzielle Bewerber, wie etwa Vroni an den Lehrveranstaltungen, was den beiden Frauen die Möglichkeit gab, sich auch außerhalb ihrer Baracke besser kennen zu lernen.


    Doch sobald es wärmer wurde, änderte sich das Programm für die beiden. Unter der Anleitung von Professor Don wurde nun auch dafür gesorgt, dass Kinga und Romina körperlich fit wurden. Stundenlang trieb Prof. Don sie durch den Hindernis-Parcours, ließ sie im Staub kriechen und Holzwänden hinaufklettern, die kaum Halt boten.


    Romina hatte mit dieser Art des Trainings sichtlich mehr Schwierigkeiten, als beim Lösen von mathematischen Gleichungen und dem Erlernen neuer Fremdsprachen. Auch Kinga wurde an ihre Grenzen getrieben. Doch schon lange hatte sie der Ehrgeiz gepackt, das alles bestehen zu wollen. Sie würde sich nicht unterkriegen lassen. Niemals! Und so biss sie die Zähne zusammen und holte das Äußerste aus sich heraus. Und dabei stellte sie mit jedem weiteren Tag fest, dass sie ihre Grenzen noch nicht annähernd erreicht hatte.



    Doch auch Romina gab ihr Bestes. Der Einsatz in Algerien spornte sie weiterhin an. Und sie wusste, nur wenn sie alles gab, dann hatte sie überhaupt eine Chance bei "Justice" zu bestehen. Und so prügelte sie mit aller Kraft, mit aller Geschicklichkeit auf den Boxsack ein, wenn es von ihr verlangt wurde, mit einer solchen Leidenschaft, als ob ihr Leben davon abhing.



    Und dass ihr Leben von diesem Training abhängen konnte, wusste sie bereits seit ihrer Flucht aus dem Casino in Batna. Nocheinmal bewusst wurde ihr dies, als Prof. Don sie in einen bis dahin verschlossenen Teil der Lehrbaracke führte und ihnen eine 9 mm Halbautomatik in die Hand drückte. "Den rechten Arm komplett durchstrecken! Spannt eure Muskeln an und atmet in dem Moment aus, in dem ihr abdrückt. Der Rückstoß wird euch vermutlich trotzdem nach hinten werfen. Zielt auf die Scheiben vor euch...und abdrücken!" Beim ersten Mal hätten beide Mädchen fast die Waffe wieder fallen lassen. Doch mit jeder weiteren Trainingseinheit wurden sie sicherer und sicherer. Und es gefiel ihnen.


    Daraufhin hielt Romina die Zeit für gekommen, Willi zu bitten, bei ihnen einzuziehen. Er war ein helles Köpfchen und würde sich sicher gut einbringen können. Und seit seinem letzten Annährungsversuch, denn Romina eindeutig abgewiesen hatte, hat er nicht weiter versucht, ihr in irgendeiner Form zu nahe zu kommen.


    Der Computer neigte leider dazu, sehr häufig den Geist aufzugeben, was eine Reparatur alle paar Wochen erforderlich machte. Da sowohl Gertrude als auch Kinga schon fest schliefen, versuchte Tabea alleine ihr Glück...und wurde prompt von einem Stromschlag durchzuckt. Ganz zur Freude von Heidemarie, die nur zu gerne mitansah, wie de Frau, die sich nach wie vor ständig drangsalierte, zu leiden hatte. Zum Glück passiert weiter nichts Schlimmes und Tabea erholte sich von dem Schrecken.


    Linda erwies sich für Romina als echte Hilfe. Die beiden jungen Frauen spornten sich bei Diskussionen über mathematische Fragestellungen und physikalische Quantengesetze gegenseitig an. Und gemeinsam kamen sie auch Ideen und Lösungen, auf die sie alleine nicht gekommen wären. Aus diesem Grund war es für Romina klar, dass sie Linda endlich bei sich aufnehmen musste.


    Und auch Peter wurde ein häufiger Gast in der Baracke. Er brachte sogar eine Konsole mit. Und auch wenn diese bloß eine billige Nintendo-Fälschung aus den frühen 90er war, so hatten Romina und er gemeinsam doch sichtlich Spaß damit. Romina hätte ihn so gerne gebeten, bei ihnen einzuziehen, aber sie kämpfte noch immer mit ihren Gefühlen. Sie wusste, dass sie ihm nicht lange widerstehen konnte, wenn er erst einmal hier lebte.


    Aber schließlich bat sie ihn doch, zu ihr und den anderen in die Holzhütte zu ziehen. Und so bekam das ohnehin schon beengte zweite Schlafzimmer noch einen fünften Mitbewohner. Immerhin fühlte Willi sich auf diese Weise nicht mehr so allein unter den ganzen Frauen.



    Und auch wenn sie es gar nicht wollt, so könnte Romina gar nicht anders, als ihre Zeit mit dem sympathischen jungen Mann aus Simbirien zu verbringen. Sie wollte ihn behandeln, wie jeden anderen Bewohner auch, aber dafür möchte sie Peter viel zu sehr.



    Und es kam, wie es kommen musste. Was hatte Romina denn auch anderes erwartet, wenn sie mit Peter nachts unter dem freien Sternenhimmel spaziert, hinter der Baracke, weit ab von ihren Mitbewohnern. Er ergriff ihre Hand und sah ihr fest in die Augen und dann sagte er mit seinem harten simbirischen Akzent: "Ich liebe dich, Romina." Alle Vorsätze waren bei diesen Worten wie weggeblasen. "Ich liebe dich auch, Peter", hauchte sie zur Antwort.



    Peter legte seinen Arm um Rominas Hüfte und zog sie eng an sich. Rominas Herz schlug wild. Noch nie war sie einem Mann so nah gewesen, wie in diesem Augenblick. Aus Angst, dass er sie in letzter Sekunde von sich stoßen könnte, klammerte sie sich noch fester an ihn und ließ ihm kaum Raum zum Atmen. Aber er ließ sie nicht los, sondern küsste sie so voller Gefühl, dass kein Zweifel an seinen Worten blieb.



    Doch die traute Zweisamkeit wurde jäh unterbrochen. Romina hörte, wie sich ihnen jemand nährte und stieß Peter hastig von sich weg. Das hatte zur Folge, dass Heidemarie und Willi die beiden zwar nicht in flagranti erwischten, die Situation aber doch sehr offensichtlich war. "Wir...wir sehen uns nur die Borkenkäfer in der Holzwand an. Nachts sind die besonders aktiv", versuchte Romina sich herauszureden.



    Willi verzog zwar die Augenbraue, sagte aber nichts weiter. Heidemarie lächelte dagegen vielsagen. "Ok, ihr beiden, dann wünsche ich euch noch viel Spaß bei der 'Untersuchung'. Willi und ich werden dann etwas weiter dort drüben 'die Borkenkäfer beobachten'". Sie zwinkerte Romina zu und ging dann Hand in Hand mit Willi weiter. Romina und Peter sahen ihnen mit offenstehenden Mündern hinterher, bis sie in der Dunkelheit nicht mehr zu erkennen waren. Anschließend brachen beide in Gelächter aus.

    Kapitel 153: Verwirrtes Herz


    Als Heidemarie in den nächsten Tagen wieder bei der Baracke auftauchte, wies Kinga sie an, sich um das Haus zu kümmern. Geschirrspülen, Bettenmachen, Fegen, Wischen, Müllrausbringen. Das volle Haushaltsprogramm eben. Da sie wusste, dass es um ihre Aufnahme ging, zeigte Heidemarie keinerlei Widerstand und erledigte jede gestellte Aufgabe anstandslos.


    Und auch Romina zwang Willi zu diesen Arbeiten. Aber es tat ihr schon leid, ihn Putzen und Schrubben zu sehen. Irgendwie kam es ihr nicht richtig vor. Er war ohnehin schon so durcheinander. Vielleicht schmiss er einfach alles hin, wenn er weiter so drangsaliert wurde? Aber vielleicht war das genau das Ziel dieser Aufgabe? Vielleich sollte erst einmal getestet werden, wie weit die einzelnen Kandidaten zu gehen bereit waren?



    Tabea und Kinga verstanden sich super und für Kinga war schnell klar, dass sie Tabea einziehen lassen wollte. Sie rief wieder bei dem mysteriösen Mann an und der teilte ihr nur mit, dass sie diese Entscheidung allein treffen sollte. Also benachrichtigte sie Tabea am nächsten Abend, dass dies nun hier wohnen würde. Auf die Idee, Tabea überhaupt zu fragen, ist sie gar nicht erst gekommen. Und so zog Tabea ein. Romina hatte sich noch lange nicht entschieden, ob jemand bereit war, einzuziehen. Und mit Vroni hatte sie bereits einen dritten, potenziellen Einzugskandidaten.



    Draußen wurde es immer kälter. Die goldenen Blätter fielen von den Bäumen und eines Morgens war die gesamte Landschaft von einer dünnen Schneedecke überzogen. Das allein war schon Grund genug zur Freude für Romina, die sich noch gut an die Winter in Moldawien erinnern konnte. Nicht alles war dort schlecht gewesen...aber doch das meiste. Überrascht stellte sie fest, dass vor dem Haus einige verschlissene Sofas herumstanden, deren Zustand sie durch wildes darauf Herumhüpfen überprüfte. Just in diesem Moment tauchte ein weiterer Anwärter vor der Baracke auf.


    Peter war ein Waisenkind, genau wie Romina auch. Und auch er kam aus Ost-Simropa, genauer aus Simbirien. Romina fand ihn auf Anhieb sehr sympathisch und bat ihn, öfter vorbei zu kommen. Sie hatte das Gefühl, dass er der Richtige sein könnte, um hier einzuziehen. Zudem hoffte sie, dass sie ihn ein wenig aufheitern konnte, denn Peter fiel es nicht leicht, sich zurechtzufinden. Su unglaublich es für Romina klang, aber er vermisste sein altes Leben im Waisenhaus und da halfen auch Rominas aufmunternden Worte wenig.


    Ein Brand in der Küche versetze die Mädchen und die anwesenden Besucher in helle Aufregung. Kinga war aber geistesgegenwärtig genug, den Feuerlöscher aus dem Küchenschrank zu greifen und das Feuer schnell zu ersticken. Hätte sie nur wenige Sekunden gezögert, dann wäre womöglich die ganze Holzhütte in Flamen aufgegangen. Und diese Bracke war zu ihrem Zuhause geworden, dem einzigen Zuhause, das sie noch besaß.



    Nach diesem Schrecken gönnten sich Kinga und Romina einen Tag im Schnee. Es gab keinen Unterricht, keine Besucher standen vor der Tür. Also wurden Schneeballschlachten ausgetragen und Schneeengel gemacht.



    Romina versuchte sich auch an einem Schneemann. Mit Möhrennase und Besen in der Hand bewachte er das Haus.




    Peter kam oft vorbei und erledigte alle Aufgaben, die ihm von Kinga und Romina gestellt wurden. Romina war eigentlich so weit, ihn endlich in das Haus aufzunehmen. Doch etwas hielt sie zurück. Jedesmal, wenn sie Peter sah, wurde ihr ganz anders und dieses Gefühl verwirrte sie. Peter war nicht gerade das, was man einen hübschen Mann nennen würde, und dennoch, Romina fühlte, wie sie mehr und mehr ihr Herz an ihn verlor. Und genau da lag das Problem. Beziehungen unter den Studenten wurden hier im Lager nicht gern gesehen. Und ganz sicher würden sie nicht in ein und derselben Baracke geduldet werden.


    Als wartete sie mit ihrer Entscheidung und hängte sich umso mehr in ihre Ausbildung rein. Mit den Möbeln, die eines Nachts vor der Hütte standen, hatten Kinga, Romina und Tabea eine Art Wohnzimmer eingerichtet. Als dann auch noch ein Fernseher vor der Tür stand, war die Freude groß. Allerdings konnte man damit nur zu bestimmten Zeiten und nur ganz bestimmt Sendungen empfangen. Trotzdem war dies besser als nichts und Kinga versüßte sich ihre Fitnessübungen, indem sie zur Musik von "Dance TV" seilhüpfte.


    Da Heidemarie alle Aufgaben ohne zu murren erledigt hatte, entschloss Kinga sich dazu, auch sie aufzunehmen. Heidemarie fiel ihr daraufhin überglücklich um den Hals. Kinga kam diese Freude etwas gestellt vor, aber so erging es ihr bei vielen Dingen, die Heidemarie tat und sagte. Und trotzdem, Heidemarie hatte die Fähigkeit Menschen um ihren Finger zu wickeln und sie auf sehr subtile Weise zu manipulieren. Mit ein bisschen mehr Übung würden selbst bei Kinga die letzten Zweifel an ihrer Aufrichtigkeit verschwinden...und das bereitete ihr ein klein wenig Unbehagen.



    Inzwischen machten Kinga die Aufnahmetests mit den neuen Studenten richtig Spaß. Und der harte Winter bot da viele Möglichkeiten, um die Bewerber bis an ihre Grenzen zu treiben. Gertrude für über eine halbe Stunde barfuß und bis zu den Knien im Schnee versunken einen dämlichen Tanz aufführen zu lassen, gehörte sicherlich dazu. Aber Gertrude meisterte diese Prüfung mit Bravour und beklagte sich nicht, obwohl sie sich zum Teil heftige Erfrierungen an den Zehn holte. Für diese Leidensfähigkeit bewunderte Kinga ihre Kommilitonin. Ja, Gertrude war ganz sicher auch bereit, zu ihnen in die Hütte zu ziehen.


    Zudem machten sich ihre handwerklichen Fähigkeiten im Haushalt sehr gut. Anders als in der Sierra Simlone, konnte man hier, mitten im nirgendwo, nicht einfach den Handwerker rufen, wenn etwas kaputt war. Gertrude zeigte sich sehr geschickt darin, solche Dinge wieder in Ordnung zu bringen.



    Und Kinga konnte eine Menge von ihr lernen. In Zukunft würden kaputte Computer sie nicht mehr zur Verzweiflung bringen, sondern sie konnte selbst zum Schraubenzieher greifen und den Schaden beheben.



    Während Kinga nun schon drei neue Mitbewohner in die Barke eingeladen hatte, hatte Romina sich noch immer für niemanden entschieden können. Linda war einfach sehr distanziert. Immer in ihre Bücher vertieft, drang selbst Romina nicht zu ihr durch. Außer, es betraf irgendwelche wissenschaftlichen Fragestellungen. Dann redete Lind wie ein Wasserfall. Und Willi? Nun, da gab es das nächste Problem. Ganz eindeutig sah er mehr in Romina, als nur eine nette Kommilitonin und Mitbewohnerin.




    Und auch wenn Romina sich durchaus geehrt fühlte, so musste sie seine Annährung doch zurückweisen. Sie konnte nicht abstreiten, dass sie ihn möchte, vielleicht sogar mehr, als sie sollte, aber ihre Gefühle für Peter gingen noch weit darüber hinaus. Aber diese Gefühle waren ohnehin bedeutungslos. Egal ob Peter oder Willi, eine Beziehung war einfach nicht denkbar. Und das teilte sie Willi behutsam, aber dennoch bestimmt mit.

    Kapitel 152: Niemals aufgeben



    Auf dem Rückflug von Algerien schliefen die beiden wie zwei Steine. Doch kaum waren sie in ihrem kleinen Bunker im Wald angekommen, war alle Müdigkeit wie weggeblasen. "Das war der absolute Hammer!", schwärmte Kinga immerzu. "Und ich dachte wirklich, die beiden Typen würden uns abknallen. Peng, peng! Ich bin im Leben noch nicht so schnell gerannt. Und das in Heels!"



    "Glaubst du...glaubst du, Senora Ewa wird uns noch auf weitere Missionen schicken? Sie ist doch deine Tante, du musst mit ihr reden! Ich hab mich noch nie so lebendig gefühlt, wie in diesen wenigen Stunden." "Sie wäre dumm, wenn sie uns nicht wieder los schicken würde. Immerhin hat alles problemlos geklappt. Wir haben die Daten besorgt. Damit kann "Justice" sicher einigen Gaunern das Handwerk legen. Und wir haben dazu beigetragen! Ich kann es immer noch nicht ganz begreifen."



    So ging das die ganze Nacht hindurch, bis die Mädchen dann schließlich doch den Weg in ihre Betten fanden. Am Morgen wurde Kinga vom Klopfen an der Tür geweckt. Verschlafen öffnete sie und fand ihre Großtante, Senora Ewa, vor. Diese Betrat den Bunker einfach, ohne auf eine Einladung zu warten. Auch Romina wurde langsam wach und Kinga begann sofort aufgeregt von ihrem Einsatz zu berichten.



    "Der Bericht lag heute Morgen auf meinem Schreibtisch", unterbrach sie ihre Nichte. "Und für euren ersten Einsatz habt ihr beide euch sehr gut geschlagen." "Erster Einsatz? Soll das heißen, es warten weitere Aufgaben auf uns", palpperte Kinga einfach dazwischen. Senora Ewa lachte. "Aber natürlich! Nur nicht jetzt, eure Ausbildung ist noch lange nicht abgeschlossen. Ihr müsst diesen Einsatz eher als einen kleinen Vorgeschmack darauf sehen, was euch in Zukunft bei "Justice" erwarten kann. Aber dafür müsst ihr euch beide anstrengen. Ihr dürft nicht mit halbem Herzen dabei sein. Wir verlangen euren vollen Einsatz."



    "Und den wird die Organisation von mir auch bekommen", versicherte Kinga ohne zu zögern. "Ich...ich habe diesen Ort gehasst, als ich hier her kam, weil ich nicht verstand, was ich hier sollte. Ich dachte, es wäre nur, damit meine Mutter mich einfach wie ein Stück Abfall entsorgen kann. Aber ich habe mich geirrt. Ich hasse meine Mutter nach wie vor, aber es verschafft mir Genugtuung, dass ich durch sie nur noch stärker geworden bin."



    "Hass ist eine sehr starke Emotion, Kinga. Bewahre ihn dir, denn er kann dir eine Quelle der Kraft sein. Aber sei vorsichtig, dass er dich nicht übermannt. Sonst zerstört er dich und es wäre wahrlich eine Schande, wenn "Justice" dich verlieren würde", warnte Senora Ewa sie eindringlich und hoffte, dass Kinga die volle Tragweite ihrer Worte verstand.




    "Aber ich bin noch wegen einer anderen Angelegenheit hier", erklärte Senora Ewa. "Ich möchte, dass ihr Eure Sachen zusammen packt. Ihr werdet noch im Laufe des Tages in ein anderes Haus umziehen. Es wird nicht mehr Luxus bieten, als diese hier, aber es ist näher an der Lehrbaracke gelegen und ihr beide werdet nicht länger isoliert werden. Versucht Kontakte zu euren Kommilitonen zu knüpfen. Es kann nicht schaden, wenn ihr früh eure zukünftigen Kollegen bei "Justice" kennen lernt." "Natürlich, Senora Ewa", pflichtete Romina ihr bei und konnte sich ein Kinga gewidmetes verstohlenes Lächeln nicht verkneifen.







    Am Nachmittag kam Olek vorbei und holte die wenigen Sachen ab, die die beiden jungen Frauen besaßen. Mitfahren durften die zwei allerdings nicht. So brachen die beiden zu Fuß zu der Holzhütte auf, die ihnen Olek beschrieben hatte. Wie der Bunker, lag auch diese mitten im Wald, der sich inzwischen in goldenen Herbstfarben präsentierte, aber zur Lehrbaracke waren es gerade einmal 20 Minuten Fußweg.



    Neugierig blickten die beiden sich in ihrem neuen Zuhause um. Und auch wenn es groß war, viel großer als ihr winziger Bunker, fand sich darin doch keine Menschenseele. "In unserem Schlafraum steht noch ein drittes Bett, aber es sieht noch vollkommen unbenutzt aus", verkündete Romina, als sie zu Kinga in den Gemeinschaftsraum kam. "Hier lag ein Zettel", erklärte diese. "Wir sollen unter dieser Nummer hier anrufen." Kinga blickte sich in dem Raum um und entdeckt gleich ein uraltes Telefon an der Wand.



    "Na ob das alte Ding noch funktioniert?" Romina betrachtete den Apparat skeptisch. Aber ein Signal war zu hören. Wählen konnte sie trotzdem nicht. "Du Kinga, da sind gar keine Tasten und auch keine Drehscheibe. Wie soll ich denn da anrufen?" "Hör mal, ob sich jemand meldet", riet Kinga ihr und tatsächlich hörte sie nach wenigen Augenblicken eine Stimme. "Mit wem soll ich verbinden?" Schnell winkte Romina Kinga zu sich und wies sie an, ihr den Zettel zu zeigen. "Verbinden sie mich mit der Nummer..."



    Romina wartete, dann meldete sich ein Mann. Ohne sich vorzustellen, finge er an zu reden. "Fräulein Gordienko, Fräulein Blech, Sie werden sich um die neuen Studenten kümmern, die wir ihnen in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten vorbei schicken werden. Sorgen sie dafür, dass sie sich hier gut zurechtfinden und machen sie sie mit den hier üblichen Methoden vertraut. Sie entscheiden, wann die Studenten bereit sind, bei ihnen einzuziehen. Kein Wort über "Justice", keine wilden Partys, keine Ausschweifungen. Sie tragen jetzt die Verantwortung. Die ersten Studenten werden noch in dieser Woche eintreffe. Wir verlassen uns auf sie." Und dann legte er auf, ohne dass Romina noch irgendetwas erwidern konnte.






    Und bereits im Verlauf der Woche kamen zwei junge Frauen vorbei und standen ratlos vor der Baracke. "Nun, dann machen wir uns mal an die Arbeit", sagte Kinga zu Romina und die beide traten vor die Hütte. Tabea entsprach sowohl von ihrer Kleidung, als auch von ihrem Verhalten her, eher Kinga, deshalb nahm sie sich ihrer an. "Was geht ab? Du bist also neu hier?", sprach sie Tabea direkt an. Romina dagegen versuchte es bei Linda erst einmal auf die höfliche Art.



    Dumm war nur, dass weder Romina und Kinga genau wussten, was von ihnen erwartet wurde. Wie sollten sie wissen, dass die beiden jungen Frauen bereit waren hier einzuziehen? Ein Gespräch konnte auf alle Fälle nicht schaden, also wurden beide in die Hütte gebeten. Schnell zeigte sich, dass Linda ein eher verschlossener Mensch war, der sich lieber hinter einem Buch versteckte und den Kontakt zu Menschen mied. Damit war sie Romina gar nicht unähnlich, was augenblicklich eine Verbundenheit zwischen den Mädchen erzeugt. Tabea war hingegen sehr redselig.



    Sie kam ziemlich direkt darauf zu sprechen, wie sie in diesem Lager gelandet war. "Meinen Vater hab ich nie kennengelernt. Wird wohl ein Freier meiner Mutter gewesen sein. Nach meiner Geburt hat sie für eine kurze Zeit aufgehört anzuschaffen, aber der Job als Putzfrau war nix für sie. Also begann sie wieder damit, Männer mit nach Hause zu bringen. Als ich 11 war, hatte ich keinen Bock mehr darauf, meine Mutter jeden Morgen betrunken im Bett vorzufinden und sie wieder aufzupäppeln. Außerdem merkte ich schon damals, dass ihre Freier viel zu viel Interesse an mir zeigten. Also bin ich abgehauen, lebte mal auf der Straße, mal im Heim und mal bei Pflegeltern. Manchmal war‘s gar nicht übel, aber die kamen nie damit klar, dass ich mir nichts sagen ließ und ab und an gerne meine Fäuste sprechen lasse. Tja, und jetzt bin ich hier. Mal schauen, wie lange es mich hier hält."




    So schnell wirst du hier nicht wegkommen, dachte Kinga, behielt es aber für sich. Sie hatte ja selbst die Erfahrung gemacht, dass man nicht so leicht aus diesem Lager verschwinden konnte. Inzwischen fand sie es aber auch nicht mehr so schlimm hier. Ihre neue Behausung erlaubte ein recht angenehmes Leben und isoliert wurden Romina und sie auch nicht mehr länger, was bedeutete, dass sie sich öfter mal nach dem Unterricht mit irgendwelchen Kommilitonen treffen konnte. Sogar Pizza war plötzlich drin, die ab und an am Haus abgestellt wurde...wenn auch zu unmöglichen Zeiten.




    Die Wochen zogen ins Land und immer wieder kamen neue Anwärter vorbei. Heidemarie hatte bereits gehört, dass sie aus ihrer baufälligen Baracke hierher wechseln könne, wenn Kinga sie aufnahm. Allerdings war dieser immer noch nicht klar, was genau ein Bewerber erfüllen musste, um aufgenommen zu werden? Da halfen auch Heidemaries schmeichelnde Worte nicht.




    Romina begrüßte derweil einen jungen Mann, der unsicher vor dem Haus auf und ab lief. "Hallo, kann ich dir helfen?", fragte sie ihn und er blickte sie aus großen, verschreckten Augen an. "Ich...ich weiß nicht", stotterte er. "Ich bin so verwirrt. Ich wollte doch nur zum College und das Angebot dieser Frau hörte sich so gut an. Keine Studiengebühren, exzellente Ausbildung. Und jetzt bin ich hier mitten im Wald in Holzhäusern. Ich darf nicht telefonieren, nicht ins Internet. Was denken meine Eltern bloß? Sie machen sich bestimmt furchtbare Sorgen. Ich...ich will hier wieder weg."




    Er drehte sich um und wollte zurück in den Wald rennen, in die Richtung, aus der er gekommen war. Doch Romina hielt ihn auf. "Deine Eltern sind beruhigt", log sie. "Die Leitung hier hat sie über alles in Kenntnis gesetzt." Natürlich wusste Romina nicht, ob Senora Ewa oder jemand anderes so etwas getan hatte, aber sie ging stark davon aus. Wie sonst sollten sie das Verschwinden eines jungen Mannes verheimlichen können? "Glaub an dich…" Romina stoppte, weil sie den Namen des verängstigten Jungen nicht kannte. "Willi, Willi Kaster!", stellte er sich schnell vor. "Glaub an dich, Willi", Romina gab ihm die Hand, die er lächeln annahm. "Du kannst hier sehr viel lernen. Gib nicht auf."





    "Meinst du, wir sollen die Neuen testen, bevor wir sie aufnehmen?", fragte Kinga, als die beiden nachts in ihren Betten lagen. "Kann schon sein", entgegnete Romina. "Wir können es ja ausprobieren." "Gut, dann übernehme ich Heidemarie". "Und ich Willi", flüsterte Romina und wurde dabei ein klein wenig rot im Gesicht.

    Kapitel 151: Gelob sei Allah



    Zielstrebig ging die Tochter des Botschafters auf die Mitarbeiter des Casinos zu. "Sorgen sie dafür, dass dieses blonde Flittchen umgehen aus dem Casino verschwindet", forderte sie die beiden Männer auf und die Art ihres Auftretens ließ keinen Zweifel daran, dass sie eine umgehende Reaktion ohne Widerworte erwartete. Ein Moment zögerten die Männer, doch als ihnen bewusst wurde, dass hier die Tochter eines Botschafters vor ihnen stand, zögerten sie keine Minute länger.



    Wenig sanft schoben sie den Scheich und einige weitere gaffende Männer zur Seite. "Madame, verlassen sie umgehend diese Gebäude. Ihr verhalten ist hier weder angebracht, noch erwünscht." Die Blondine blickte überrascht drein und wollte protestieren, doch einer der Wachleute packte sie unsanft an den Schultern und drehte sie herum, um sie zum Ausgang zu begleiten.



    Doch während er das tat, war deutlich das Geräusch von reißendem Stoff zu hören. Der Wachmann hielt inne und die Blondine bemerkte, dass ein Träger ihres Tops durch seine unsanfte Behandlung gerissen war. Augenblicklich wurde sie hysterisch und fing an zu schreien und weinen. "Mein Top ist zerrissen! Wie soll ich den jetzt auf die Straße gehen. Ich bin doch halb nackt! So kann ich niemals raus gehen! Was werden die Leute bloß denken?"



    Um nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sie zu lenken, führte der andere Sicherheitsmann die hysterische Frau, deutlich sanfter als sein Kollege, in das Sekretariat des Casino-Managers im ersten Stock des Gebäudes. Hier würde sie die übrigen Gäste nicht länger belästigen und er konnte eine der Köchinnen aus dem Restaurant beauftragen, der Simropäerin etwas Neues zum Anziehen zu besorgen.



    Derweil beschwerte sich die Tochter des Botschafters energisch über die Zustände, die im Casino herrschten. Und dabei ging es ihr nicht um die unsanfte Behandlung der Blondine, denn in ihren Augen hatte diese nichts anderes verdient. "Ein solches Flittchen wie die hätte dieses Haus überhaupt nicht betreten dürfen. Wo sind denn Klasse und Exklusivität geblieben? Wird hier jetzt jeder Hure der Zutritt gewährt? Ich will auf er Stelle mit dem Manager des Casinos sprechen. Auf der Stelle!"



    Eine hysterische Frau pro Tag war dem Wachmann eindeutig genug. Also rief er umgehend seinen Chef an und teilte ihm mit, dass eine unzufriedene Kundin unten im Casino wartet. Sollte sein Boss sich darum kümmern, immerhin war das sein Job. Widerstrebend erhob sich der Casinomanager aus seinem gepolsterten Korbsessel und verließ sein Büro. Er nahm die weinende Frau im Vorzimmer kaum wahr, als er hindurch schritt und die Tür zu seinem Büro in ihr elektronisches Schloss fiel.




    Jetzt musste alles schnell gehen, denn es bleiben nur wenige Minuten Zeit. Die Tür war hinter dem Casinomanager kaum ins Schloss gefallen, da hatte die Blondine, Kinga, ihren hysterischen Heulkrampf längst wieder vergessen und kramte aus ihrer winzigen Handtasche eine Kreditkarte hervor. Nur war dies gar keine Kreditkarte, sondern eine Karte zum überbrücken von Sicherheitsschlossern. Sie schob die Karte in das elektronische Schloss an der Wand neben der Tür zum Büro des Managers und konnte beobachten, wie in wenigen Sekunden, eine Zahl nach der anderen des sechsstelligen Türcodes geknackt wurde. Nach nicht mal 30 Sekunden ertönte ein langgezogener Piepton, und die Tür sprang auf.



    Kinga blickte sich ein letztes Mal um und schlich sich in das Büro des Casinomanagers. Es sah innen genauso aus, wie Senora Ewa es ihr beschrieben hatte. An der rechten Wand befand sich eine Regalwand mit dem eingelassenen Tresor. Anstelle eines Schlosses oder Zahlenrades befand sich in der Mitte des Safes aber ein kleines Display mit einem Mikrofon. Nur die Stimme des Managers selbst würde den Tresor öffnen und nur, wenn er dazu das richtige Codewort sprach. Aber für diesen Teil war Romina zuständig. Sie konnte nur angespannt vor dem Tresor warten, bis ihre Partnerin sich meldete.



    Der Casinomanager war inzwischen bei der Tochter des Botschafters eingetroffen, die niemand anderes als Romina war. Immer noch gab sie sich entrüstet über die Zustände in dem Casino. Der Manager war bemüht sie zu beschwichtigen, aber sie ließ nicht mit sich reden. "Sorgen sie dafür, dass so eine wie DIE, nie wieder einen Fuß in dieses Casino setzt. Wenn nicht, dann erzähle ich meinem Vater, dass hier nicht nur Glückspiel betrieben wird, sondern auch noch Alkohol ausgeschenkt und Stripperinnen geduldet werden. Er ist sehr gut mit dem Imam von Batna befreundet. Es wird ihn sicher interessieren, was hier so passiert."



    Jetzt bekam es der Manager mit der Angst zu tun. Wenn der Imam ganz offensichtlich auf das nicht ganz legale Treiben im Casino aufmerksam wurde, dann konnte er gar nicht anders handeln, als den Laden hoch gehen zu lassen. Und dann wäre er, der Casinomanager, ganz sicher seinen Job los. Nein, das wollte er nun wirklich nicht riskieren. "Seinen sie versichert, dass so etwas nie wieder vorkommen wird. Ich werd meine Sicherheitsmänner anweisen, mehr darauf zu achten, wer hier Zutritt bekommt." "Gelobt sei Allah!", erwiderte Romina und so wie sie es geplant hatte, hob der Casinomanager seine Hand zu Himmel und pries den Allmächtigen. "Gelob sei Allah!"



    Das war der Code! Über ein Mikrofon in Rominas Ausschnitt wurde die Stimme des Casinomanagers aufgezeichnet und augenblicklich zu Kinga im ersten Stock übermittelt. "Voice Identification Successful" erschien im Display des Tresors und er öffnete sich mit einem lauten Klick.



    Im Safe befanden sich eine Menge Bargeld, Wertpapiere, Dokumente und eine DVD. Und genau auf diese DVD hatte Kinga es abgesehen. Schnell schob sie den Datenträger in das Laufwerk des PCs des Managers und schloss ihren USB-Stick, der geschickt im inneren ihres Lippenstiftes verborgen war, an den Computer an. Die Datenübertragungsgeschwindigkeit des Sticks übertraf alles, was momentan frei auf dem Markt erhältlich war und so wurden die Daten von der DVD, Angaben über die Kunden des Casinos, die hier nicht nur dem Glücksspiel frönten, sondern den Ort auch für illegale Geldwäsche nutzten, in wenigen Augenblicken auf den USB-Stick kopiert.



    Und dennoch schaffte Kinga es gerade im allerletzten Augenblick, den PC auszuschalten, die DVD wieder im Tresor einzuschließen und das Büro des Casinomanagers zu verlassen. Gerade als die Tür ins Schloss viel, trat auf schon der Manager in das Vorzimmer. Die Überraschung war Kinga deutlich ins Gesicht geschrieben. Doch sie überspielte sie schnell mit einem schrillen Lachen. "Hahaha, ich Dummchen hab so einen Aufstand gemacht, dabei ist gar nichts passiert. Sehen sie, ich hab den Träger einfach zusammen geknotet. Ist jetzt fast wie neu. So, ich geh dann jetzt auch, ich will mich ja noch an den Strand legen. Also, ciaaao!"



    Winkend ging sie an ihm vorbei. Kopfschüttelnd beobachtete der Casinomanager, wie die seltsame Blondine die Treppe hinunter stieg. Frauen, wer würde sie jemals verstehen können? Er zuckte mit den Schultern und ging dann zurück in sein Büro. Die Pause hatte er sich verdient.



    Kinga hatte große Mühe damit, nicht sofort los zu laufen. Doch kaum war sie um die nächste Straßenecke gebogen, riss sie sich die blonde Perücke vom Kopf und eilte zu dem vereinbarten Treffpunkt mit Romina. Diese wartete bereits auf sie und hatte sich ebenfalls schon des Abendkleides entledigt. Überglücklich viel Kinga ihrer Partnerin um den Hals "Sch**** war das geil! Wir haben es tatsächlich geschafft! Jetzt müssen wir nur noch darauf warten, dass wir abgeholt werden. Wir haben unseren ersten Auftrag gemeistert!"




    Doch leider hatten sich die beiden zu früh gefreut. Plötzlich hörten sie einen Tumult hinter sich und als sie über die Schulter blickten, sahen sie die beiden Wachmänner mit Pistolen in der Hand auf sie zurennen. "Da sind die beiden Diebinnen!", schrei einer von ihnen und noch bevor Kinga und Romina genauer darüber nachdenken konnten, waren sie auf der Flucht.




    Schüsse fielen. Kinga legte ihre Hände schützend um ihren Kopf, bis ihr dann bewusst wurde, dass das kein Stück gegen eine Kugel helfen würde. Zudem verfluchte sie sich dafür, dass sie immer noch die hochhackigen Stiefel trug. Die beiden Frauen hasteten durch die engen Gassen Batnas, mitten hindurch durch Menschenmassen und Basarstände. Doch die beiden Wachmänner blieben ihnen auf den Fersen und holten immer weiter auf.




    Es würde Kinga auf ewig ein Rätsel bleiben, wie sie trotz der Angst und der Schüsse den richtigen Weg zum vereinbarten Treffpunkt gefunden hatten. Aber der grüne Lieferwagen wartete bereits auf sie und ihr Kontaktmann erkannte sofort die brenzlige Situation und ließ augenblicklich den Motor laufen. "Springt in den Wagen und dann nichts wie weg hier!", rief er den Mädchen zu und das ließen sie sich kein zweites Mal sagen. Erst als das Fahrzeug in sichere Entfernung war, fielen die beiden sich weinend in die Arme. Jetzt hatten sie es wirklich geschafft.

    Kapitel 150: Klasse



    Eindringlich blickte sie von einem Mädchen zum anderen. "Ihr beide seid ausgesucht worden, für eine Organisation zu Arbeiten. Eine Organisation, die nur die besten Männer und Frauen der ganzen Welt auswählt und selbst unter diesen nur die wenigsten bestehen lässt: "Justice". Ich muss euch nicht erklären, dass diese ganze Organisation streng geheim ist. Das geschieht zum Schutz von "Justice", zu eurem Schutz und zum Schutz unseres Landes. Ihr werdet mir vertrauen müssen. Wenn ihr dazu nicht bereit seid, dann habt ihr jetzt die Gelegenheit zu gehen. Ihr könnt durch diese Tür marschieren, eure Sachen packen und noch heute Abend werdet ihr nach Simtropolis gebracht. Die Entscheidung liegt bei euch."


    Beide Mädchen senkten den Blick bei diesen Worten. Kinga ließ sich die Worte ihrer Tante genau durch den Kopf gehen. Sie konnte von hier verschwinden. Sie konnte ihre Sachen packen und in Simptropolis ein neues Leben beginnen. Ein Leben ohne dieses scheiß Lager, ohne ihre verlogene Mutter, frei, so wie sie es immer wollte. Aber letztendlich blieb sie sitzen. Die Neugier siegte. Was würde ihre Tante noch alles offenbaren? Was genau war "Justice"? Und was war ihre Rolle darin? Die Aussicht auf Antwort auf diese Fragen reizte sie mehr, als die Aussicht auf Freiheit.


    Auch Romina blieb sitzen. Keine der jungen Frauen wollte aufgeben, jetzt, wo es begann interessant zu werden. Zum ersten Mal lächelte Senora Ewa wirklich. "Mit keiner anderen Entscheidung habe ich gerechnet. Romina, Kinga, ihr werdet diese Entscheidung nicht bereuen. Ihr brecht noch heute Abend auf und eure Reise führt euch nach....




    …..Batna in Algerien."

    Der Kontaktmann vor Ort holte die beide vom Flughafen ab. Nach einem kurzen Aufenthalt in einem sicheren Haus vor Ort konnte die Mission beginnen.




    Im Zentrum der Stadt befandt sich ein angesehenes Casino. Der Kontaktmann beschrieb den Weg dorthin genau, aufgrund des pompösen Eingangsbereichs aus grünem Marmor war das Gebäude allerdings kaum zu verfehlen.



    Also die hübsche junge Frau das Casino betrat, drehte sich so mancher Mann nach ihr um. Das war nicht verwunderlich, denn immerhin war sie die einzige Frau hier. Das Lächeln auf ihren Lippen wirkte zurückhalten, strahlte gleichzeitig aber Selbstbewusstsein aus. Und das kam nicht von ungefähr. Als Tochter des algerischen Botschafters in Frankreich behandelte man sie immer mit dem Respekt, der ihrem Stand und Reichtum entsprach.




    "Darf ich mich anschließen, meine Herren?", fragte sie in perfektem Französisch und die beiden Männer am Pokertisch stimmten ohne Umschweife zu. Verspielt strich sich die Botschaftertochter eine Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelte die beiden an. "Ich hoffe doch, das Glück verlässt mich heute nicht."



    Ein dritter Mann schloss sich ihnen an, dann konnte das Spiel beginnen. Die Tochter des Botschafters wusste, dass die Männer sie unterschätzen würden. Das war einer der großen Vorteile, wenn man so schüchtern wirkte. Niemand traute einem etwas zu. Um so leichter fiel es ihr, dass Spiel mit geschicktem Bluff für sich zu entscheiden. Zunächst die erste, runde, dann die zweite und selbst die dritte schien sie erneut gewinnen zu können. So langsam sah sie den Frust in den Gesichtern der anderen Männer.




    Im Nu hatte sich das Glück der jungen Botschaftertochter im Casino herumgesprochen und eine Traube neugieriger Männer bildete sich um den Pokertisch. "Ja ist es denn zu glauben, schon wieder ein Full House", rief sie erfreut aus und entschied erneut das Spiel für sich. Die umherstehenden Casinobesucher gratulierten ihr anerkennend und machten Witze über die drei armen Kerle am Tisch, die mit jeder weiteren Runde unglücklicher dreinblickten. Und dabei spielte die Frau noch nicht einmal mit getürkten Karten. Ein fundierter Pokerunterricht erlaubte ihr einfach, auf bewährte und statistisch begründete Strategien zurückzugreifen und ihr sehr gutes Gedächtnis für Zahlen aller Art machte sich in diesem Moment bezahlt.




    Und ihre Taktik ging auf. Der Reihe nach schieden ihre männlichen Mitspieler aus, bis sie am Ende mit einem Bluff das Spiel für sich entschied. Freundlich bedankte sie sich bei den drei Herren, die ob ihres zauberhaften Lächelns sofort besänftigt schienen. Ums Geld war es ihnen ohnehin nicht gegangen. Davon hatten sie mehr als genug. Als sie sich von ihrem Stuhl erhob, kam ein Scheich auf sie zu. "Darf Scheich Mahomaed sie zu einem Drink einladen?", fragte er höflich. Erneut zeigte die Botschaftertochter ihr zauberhaftes Lächeln. "Sicher doch, aber selbstverständlich nur einen Alkoholfreien. Allah sei gepriesen."




    Der Scheich führte die junge Frau an die Theke, und bestellte, ihrem Wunsch entsprechend, für sie lediglich eine Feigen-Soda. Er selbst ließ es sich aber nicht nehmen, einen Brandwein zu bestellen.
    Für einen Moslem war es verboten, Alkohol zu trinken. Die Botschaftertochter wusste dies, der Scheich wusste das. Und trotzdem kümmerte sich kaum einer im Casino um dieses Gebot. Der Alkohol floss hier genauso, wie in jedem Casino in SimVegas, Monte Carlo oder sonst wo auf der Welt. Und wenn man es genauer betrachtete, dann war das Glücksspiel an sich schon verboten.




    Die Botschaftertochter unterhielt sich angeregt mit dem Scheich. Erstaunlicherweise erwies er sich als sehr angenehmer Gesprächspartner. Dadurch viel es ihr umso leichter, ihn um ihren Finger zu winkeln, indem sie immer schön zu seinen Witzen lachte, sich öfter eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich oder wie ganz zufällig immer wieder mal ihr eigenes Dekollete berührte. Doch plötzlich bemerkte sie, dass der Scheich ihr gar nicht mehr zuhörte, ja sie nicht einmal mehr ansah. Sein Blick war auf etwas hinter ihr fixiert.



    Die junge Frau drehte sich um und erblickte ein Ausländerin in einem kurzen Minirock, einem Top, das kaum ausreichte, um ihren Busen zu bedecken, hohen schwarzen Stiefeln und Haaren, die eindeutig zu stark gebleicht worden waren. "Du meine Güte, das ist aber ein großer Raum. Wie soll ich mich hier bloß zurechtfinden?", fragte die Blondine und sah sich hilflos in dem Raum um. "Hoffentlich hilft mir jemand." Die Botschaftertochter verdrehte genervt die Augen. Nicht nur das die Frau aussah wie ein billige Hure vom Straßenstich, ihr Art zu Sprechen ließ keinen Zweifel daran, dass in ihrem Kopf nicht mehr als drei Hirnzellen die Wasserstoffbehandlung überlebt hatten.



    Aber leider schien dies keiner der Männer im Raum bemerkt zu haben, denn sofort wurde die Blondine umringt von einer ganzen Schar von Männern, die ihr nur zu gerne ihre Hilfe anboten. Zur Verärgerung der Botschaftertochter war auch Scheich Mahomaed, der vor wenigen Minuten noch ihr seine ganze Aufmerksamkeit gewidmet hat, darunter.



    Er nahm die Tochter des Botschafters nicht einmal mehr wahr, als er die übrigen Männer von der Blondine wegscheuchte und sie mit an die Bar führte, um ihr einige, eindeutig alkoholhaltige, Drinks auszugeben und sich ihr dämliches Gequatsche anzuhören. Die dunkelhaarige Frau konnte lediglich zusehen und ihre Lippen zu einem Schmollmund verziehen.



    Die Blondine wurde dann vom Scheich an einen Poker-Tisch geführt. Verwirrt betrachtete sie die Jetons und kratzte sich am Kopf. "Hat es etwas zu bedeuten, dass dies Plättchen unterschiedlich Farben haben?", fragte sie und blickte die Männer am Tisch mit ihren großen, grauen Augen an. Diese lachten herzlich. "Keine Angst, mein goldenes Täubchen", säuselte der Scheich und strich dabei der Blondine unter dem Tisch über das Knie, "Ich erkläre dir das Spiel schon." "Okay", antwortet diese lang gezogen und ließ dabei eine Kaugummiblase platzen. Anstalten, etwas gegen die Hand auf ihrem Knie zu unternehmen, machte sie aber nicht.



    Die Botschaftertochter beobachtete das Spektakel von der Theke aus und wurde zunehmend wütender auf diese blonde Flittchen. Was fiel dieser unverschämten Person ein hier einfach aufzutauchen und ihr die Show zu stehlen? "Ach!", kreischte die Blondine schrill. "Ich habe schon wieder gewonnen." Sie klatschte vergnügt in die Hände. "Dabei dachte ich, dass diese komische Karte mit dem A drauf gar nichts wert ist. Ich Dummchen ich, hihihi." Beim Klang ihrer dümmlichen Lache wäre der Tochter des Botschafters fast der Hals geplatzt. Zum Glück für die Blondine kam gerade der Kellner und brachte ihr die nächste Flasche Champagner von Scheich Mahomaed mit.



    Doch irgendwann hatte die Botschaftertochter genug. Als die dreiste Blondine auch noch anfing sichtlich angetrunken lasziv für die Männer im Casino zu tanzen, reichte es ihr. Es fehlte nur noch eine Stange und die Botschaftertochter hätte meinen können, sie sei in irgendeinem Bordell am Stadtrand. Immerhin war dies ein Ort, an dem Klasse vorausgesetzt wurde. Und Klasse war das letzte, was diese billige Flittchen aus dem Westen besaß.

    Kapitel 149: Veränderung




    Ich wünschte, die Feiertage hätten nie zu Ende gehen müssen. Den ersten Weihnachtsfeiertag verbrachten wir bei Dominiks Eltern, den zweiten zusammen mit meinem Bruder erneut bei uns. Die anschließende Nacht blieb dann Dominik und mir ganz allein. Doch der Morgen kam viel zu früh. "Wir müssen langsam aufstehen, Brodlowska", hauchte Dominik. Doch ich schmiegte mich nur noch enger an seine Schulter und gab vor fest zu schlafen, nur um mich nicht von ihm trennen zu müssen.






    Doch es half nichts. Mir mussten aufstehen und uns für die Fahrt zum Flughafen nach SimVegas vorbereiten. Die Kinder kamen natürlich auch mit, um sich von ihrem Vater zu verabschieden. "Pass gut auf deine Schwester und deine Mama auf, Sky", flüsterte Dominik seinem Sohn zu. "Du bist jetzt der Mann im Haus." Natürlich versprach Sky im das. Und der Junge wirkte relativ gelassen. Ich glaubte allerdings, dass dies nur daran lag, weil er nicht begriffen hatte, für wie lange sein Vater fort bleiben würde.




    Bei Klaudia sah das schon ganz anders aus. Und obwohl sie sich fest vorgenommen hatte nicht zu weinen, konnte sie die Tränen nicht unterdrücken, als Dominik sich auch von ihr verabschiedet hatte und mir einen letzten Kuss gab. "In spätestens einem halben Jahr bin ich wieder bei dir, Brodlowska. Und ich werde dich jeden Tag anrufen." Ich nickte stumm und strich seinen Hemdkragen glatt. "Wir werden jeden Tag auf deine Rückkehr warten, Dominik. Und wenn du erst einmal wieder zurück bist, dann werden wir heiraten."




    Der letzte Aufruf für den Flug nach Simnistrien ertönte. Dominik tätschelte Klaudias Arm, wuschelte Sky durch die Haare und ging dann hinaus zur Gangway. Die Kinder standen am Fenster und winkten ihrem Vater zu. Der Lächelte sie kurz an und bestieg dann hastig das Flugzeug. Ich wusste, dass er es nie zugeben würde, aber ich hatte genau die Tränen in seinen Augen glitzern sehen. Zu dritt beobachteten wir, wie die Treppe beiseite geschoben wurde und das Flugzeug zur Startbahn rollte und in die Lüfte zu seinem weiten Weg nach Südamerika abhob.


    Gedanken:


    Wann würde ich Dominik wieder umarmen können? Wann würde mein Mann wieder bei mir sein? Niemand konnte mir diese Frage beantworten, doch ich ahnte bereits, dass Dominik und ich für lange Zeit von einander getrennt bleiben würden. Und dabei hatten wir gerade erst wieder zueinander gefunden. Aber er hatte Recht, als aufrichtiger Christ, nein als rechtschaffener Mensch überhaupt konnte er nicht in aller Seelenruhe tatenlos zu sehen, wie unsere Mitbürger in Simnistrien litten.


    Wenigstens hatte ich meine beiden Kinder um mich herum. Klaudia war inzwischen alt genug, um mir in dieser schweren Zeit ein wahrer Halt zu sein und Sky würde mich ein wenig von meinen Sorgen ablenken können.


    Sky war ein sehr offener, netter und aufgedrehter Junge. Gut er konnte schon ziemlich chaotisch sein und hinterließ sein Kinderzimmer am Abend oft so, als ob ein Tornado hindurch gefegt wäre, aber welches Kind tat dies nicht? Außerdem erschien er mir manchmal sehr ernst. Aber das lag womöglich daran, dass seine leibliche Mutter ihn einfach verlassen hatte. Solch ein tragisches Ereignis konnte an keinem Kind spurlos vorbei gehen. Und dass Dominik nun auch auf unbestimmte Zeit fort war, machte es nicht leichter für ihn.


    Auf dem Konto sah es nämlich nicht sehr rosig aus. Die Börse befand sich nach wie vor auf Talfahrt. Die Krise bei der SimÖl zog langsam aber sicher immer mehr Firmen mit in den Abgrund. Das merkten so langsam alle Bewohner der SimNation, denn die Preise für Benzin und Heizöl, aber auch chemische Erzeugnisse, Lebensmittel, ach, eigentlich für alle Produkte, stiegen von Tag zu Tag. Auch hatte Dominik bei seinem Einzug kaum Geld mitgebracht. Auch er hatte den größten Teil seiner Ersparnisse in Aktien der SimÖl angelegt und wie wir alles verloren. Dominik würde Dank seiner Arbeit in Simnistrien bald wieder Geld verdienen, aber wann Tristan wieder eine Einstellung fand, stand noch in den Sternen.


    Aber die anhaltende Krise hatte den Vorteil, dass ich endlich wieder ein paar Freundschaften auffrischen konnte, um die ich mich zuvor zum Teil jahrelang nicht gekümmert hatte.




    Und an einem unbekannten Ort...




    Rabea und Hajo tauchten nicht mehr auf. Der Sommer verstrich und es begann bereits, merklich kühler zu werden. Mit jedem Tag wechselte das satte Grün des Waldes mehr zu einem Farbenspiel aus Rot und Gelb. Kinga hatte sich damit abgefunden, dass es ihr nicht gestattet war, ihre Zeit hier mit etwas anderem als der Schule zu verbringen. Und um sich gar nicht erst in Versuchung zu bringen, mied sie den Kontakt zu ihren Mitschülern. Sie ging zur Schule, machte ihre Aufgaben. Der einzige Luxus, den sie sich gönnte, waren die von Hass erfüllten Gedanken an ihre Mutter vor dem Einschlafen. Und so hätte ihr Leben noch Monate lang weiter gehen können, wäre sie eines Tages nicht in ihren Bunker heimgekehrt und hätte plötzlich ein zweites Bett darin vorgefunden.



    Zunächst war sie geschockt. Der Bunker war für eine Person schon fast zu klein, wie sollte es dann erst mit zwei Menschen funktionieren? Bevor sie sich weitere Gedanken machen konnte, hörte sie schon das Quietschen des Tores und sie schaute durch die Tür. "Hallo, Kinga", begrüßte Olek sie. "Du hast sicher schon gemerkt, dass du eine Mitbewohnerin erhältst. Das hier ist Romina." Er zeigte auf ein junge Frau Anfang Zwanzig, die sich schüchtern hinter dem Tor versteckte.



    Kinga wollte noch protestieren, aber Olek stellte einfach Rominas Koffer in den Bunker und verschwand wieder, so wie er es immer tat. Kinga konnte nicht verbergen, dass sie keineswegs froh war, dass diese Fremde nun ihre Unterkunft mit ihr teilen sollte. Unsicher beobachtet Romina, wie Kinga sich frustriert die Haare raufte und sich mit den Handflächen gegen die Stirn schlug. Auch sie hätte sich ihre Ankunft gerne anders vorgestellt.




    Kinga hatte keine Lust sich mit Romina zu beschäftigen und ignorierte sie den kompletten ersten Abend lang. Sie legte sich einfach ins Bett und Romina tat es ihr schweigend gleich. Ebenfalls schweigend machten sie sich auf den Weg zur Schule und schwiegen sich auch auf dem einstündigen Rückweg an. Erst als sie wieder am Bunker waren, war Kinga bereit, sich ihrer neuen Mitbewohnerin zu öffnen. Sie setzte sich aufs Gras und machte Romina deutlich, dass sie dies auch tun sollte. "Ich bin Kinga", stellte sie sich zum ersten Mal richtig vor. "Ich weiß", antwortet das Mädchen schüchtern und klammerte sich an ihrem Knie fest. "Olek hat es mir erzählt. Es tut mir leid, dass ich dir Unannehmlichkeiten bereite. Das wollte ich nicht."




    Kinga war überrascht, dies zu hören. Sie hatte sich bis jetzt noch gar keine Gedanken darüber gemacht, dass dieses Mädchen mit der Wohnsituation genau so unglücklich sein könnte wie sie. "Und was hast du angestellt, dass du in diesem Drecksloch gelandet bist? Diebstahl? Drogen? Knast?", fragt Kinga, nun da ihr Interesse geweckt war. Romina schüttelte entsetzt den Kopf. "Ich habe gar nicht gemacht", beteuerte sie. "Ich bin sogar sehr froh, dass ich hier sein darf. Ich bin in einem Weisenhaus in Moldawien aufgewachsen und vor einigen Tagen kam eine sehr nette Frau zu mir und teilte mir mit, dass meine Schulleistungen so gut seien, dass ich in ein spezielles Förderprogramm in der SimNation aufgenommen werde. Ich bin hier um zu lernen."




    Kinga wusste selbst nach Monaten noch nicht, was sie eigentlich hier machte. Aber wenn eines klar war, dann dass das hier kein Förderprogramm für hochbegabte Waisenkinder aus Moldawien war. Aber sie sie entschied sich, dies ihrer Mitbewohnerin nicht mitzuteilen. Erstens würde sie ihr wahrscheinlich eh nicht glauben und zweitens spielte es auch keine Rolle. Sie waren nun hier und kamen nicht weg. Ändern ließ es sich so oder so nicht.




    Sie unterhielten sich noch bis tief in die Nacht. Auch Kinga erzählte Romina ihre Geschichte, wie sie von ihrer Mutter jahrelang belogen und um den Vater gebracht worden war und wie sehr ihre Mutter sie hasste und sie hierher bringen ließ. Romina war bestürzt, allerdings hauptsächlich über die Wut, die sie aus der Stimme ihrer Mitbewohnerin heraus hörte. Sie war nämlich nach wie vor dankbar, endlich dem Waisenhaus entkommen zu sein und auf eine bessere Zukunft hoffen zu können. Jeweils in ihre eigenen Gedanken versunken schliefen die beiden Mädchen ein.






    Auch in der Lehrbaracke änderte sich mit dem Eintreffen von Romina für Kinga so Manches. Prof. Elena bat die beiden, nach dem Unterricht noch zu bleiben. "Ihr werdet ab morgen Sonderunterricht bekommen", verkündete sie. "Kinga, welche Sprachen sprichst du?" "Simlisch, Englisch und etwas Polnisch", antwortete diese. "Und du, Romina?", fragte Professor Elena weiter. "Rumänisch, Russisch und Simlisch." "Ihr werdet in all diesen Sprachen ab jetzt gemeinsamen Unterricht erhalten. Ich erwarte, dass ihr euch gegenseitig unterstützt. Zusätzlich werdet ihr Spanisch und Französisch lernen. Kinga", fuhr Prof. Elena fort, "du wirst nur noch den Politik- und Erdkundeunterricht besuchen. Romina, du kommst zu Mathematik und Physik. Das war dann alles."




    Der Sprachunterricht dauerte oft bis in den späten Abend. Und er unterschied sich stark von dem, was Kinga aus der Schule kannte. Professor Rainer war alles andere als Zufrieden mit den bereits vorhandenen Kenntnissen und so musste Kinga, aber auch Romina, noch einmal ganz bei Null beginnen. Und nicht nur, dass Prof. Rainer extremen Wert auf Grammatik legte, noch viel wichtiger war ihm die Aussprache, mit der er nie, aber auch nie, zufrieden schien, egal wie sehr Kinga sich auch bemühte.




    Und dann gab es da auch noch diese ganz seltsamen Lektionen in Billard, Darts und Glücksspiel. "Kinga, ich sehe auf den ersten Blick, dass du kein gutes Blatt hast", musterte Prof. Elena sie scharf. "Du hast immer noch nicht gelernt, wie man richtig blufft. Wir üben das nun schon seit Wochen!" Es war nicht so, dass Kinga sich keine Mühe gegeben hätte. Aber die Schauspielerei war ihr offenbar nicht in die Wiege gelegt worden. Und zum anderen verstand sie beim besten Willen nicht, was das ganze sollte. Warum zum Teufel sollte sie Pokern können?!





    Sie war froh, als sie nach weiteren 1 1/2 Stunden voller Zurechtweisungen von Prof. Elena die Baracke verlassen konnte. Wutgeladen schnappte sie sich eine Axt und schleuderte sie, begleitet von einem Schrei, der den Tiefen ihrer Seele entsprang, auf die hölzerne Zielscheibe. "Ich verstehe nicht, was diese ******* soll!", schnaubte sie und warf die nächste Axt und Fluchte lautstark, als sie die Zielscheibe gerade eben traf. "Wir ackern, paucken hier wie bescheuert hundert Sprachen auf einmal, knobeln an hirnrissigen Rätseln und spielen Poker! Und keiner erklärt uns, was das ganze soll. Also ich hab langsam echt die Schnauze voll!"





    "Nun, dann sollst du deine Erklärung bekommen". Kinga zuckte panisch zusammen und ließ vor Schreck fast die Axt fallen. Sie hatte nicht bemerkt, wie die rothaarige Frau zu Romina und ihr herüber geschritten war und sie bereits eine ganze Weile beobachtet und belauscht hatte.




    Der ersten Überraschung folgte sogleich die zweite. Kinga stellte langsam die Axt ab und betrachtete eingehend die Frau, die vor ihr stand. War das möglich? Konnte es sein, dass..."Tante Ewa?", fragte sie schließlich. Die Frau vor ihr zog kaum merklich die Mundwinkel hoch, was wohl ein Lächeln andeuten sollte. "Ab heute bin ich für dich nur noch Senora Ewa. Wir mögen verwand sein, aber für solche Gefühlsduselei ist hier kein Platz." Kinga konnte es immer noch nicht fassen. Vor ihr stand ihre Großtante, die Schwester ihres Großvaters Arkadiusz Brodlowski.






    Bevor Kinga etwas erwidern konnte, kam auch schon Romina auf die beiden zu. "Diese Frau...diese Frau ist deine Tante?" fragte sie ungläubig. "Es war nämlich sie, die mich aus dem Weisenhaus in Moldawien geholt hat. Senora Ewa, ich möchte ihnen dafür danken, tausend Mal! Ich bin so froh, dass ich hier sein darf." Wieder zuckten die Mundwinkel der Frau leicht nach oben. "Du brauchst mir nicht zu danken, Romina. Du wirst Gelegenheit bekommen, uns deine Dankbarkeit zu erweisen...und zwar schon in kürze."



    "Wir können das aber nicht hier draußen besprechen". Senora Ewa schritt voran und führte die beiden jüngen Frauen ins innere der Barake. Mit einer Geste gab sie Prof. Elena zu verstehen, den Unterricht augenblicklich zu beenden und das Klassenzimmer zu räumen. Ganz offensichtlich stand Senora Ewa in der Hirarchie über den Lehrern. Romina und Kinga nahmen auf dem Boden vor der Tafel Platz und dann eröffnete Senora Ewa ihre Erklärung. "Alles, was ihr in den letzten Wochen und Monaten gelernt habt,diente der Vorbereitung für die kommende Aufgabe..."

    Kapitel 148: Freud und Leid




    Nach dem Gottesdienst verabschiedete ich mich von all meinen Freunden und Verwandten und beeilte mich, mit Siana schnell in die Simlane zurückzukehren und die restlichen Vorbereitungen für den Heiligen Abend zu treffen. Derweil machte Dominik mit seinem Bruder Dennis, Stev und den Rest meiner Familie einen Spaziergang zum Haus von Stev und Dennis und holten deren beide Töchter Lena und Emma ab.




    Siana und ich hatten das Essen inzwischen vorbereitet. Der traditionelle Weihnachtskarpfen stand dampfend auf dem gedeckten Tisch. Doch dafür hatten die Kinder gar keine Augen. Sky stürzte sich sofort auf den Weihnachtsbaum, unter dem sich die Geschenke türmten. Klaudia war da schon etwas zurückhaltender, aber auch ihre Augen glitzerten voller Vorfreude. Und Dominiks beide kleinen Nichten Emma und Lena interessierten sich mehr für das bunte Geschenkpapier als für den Inhalt der vielen Päckchen.




    Da es unfair gewesen wäre, die Kinder noch länger auf die Folter zu spannen, begannen wir direkt mit der Bescherung. Dass Essen würde auch noch ein paar Minuten länger warm bleiben. Sky freute sich wahnsinnig, als Dominik ihm sein Geschenk überreichte.




    Natürlich riss Sky sofort das Geschenkpapier herunter und packte seinen neuen ferngesteuerten Hubschrauber aus. Da Dominik selbst wissen wollte, wie das Ding sich so flog, durfte Sky es auch gleich ausprobieren. Und so sauste ein Hubschrauber über unsere Köpfe hinweg, während wir uns zum Essen an den Tisch setzten. Lena war begeister von dem fliegenden Ungetüm und lief dem "Huschaba" glucksend hinterher. Ihre Schwester Lena hatte hingegen hatte nur Augen für ihren neuen Teddybär.




    Der Karpfen war köstlich. Ich hatte ihn nach dem Rezept meiner Großmutter zubereitet, ebenso wie die Suppe aus Rotebeeten, die es als Vorspeise gab. Tristan haute rein, als ob er seit Tagen nichts gegessen hätte. Wie gut, dass im Kühlschrank noch genügend Essen auf uns wartete.




    "Ein Lob auf unsere Köchin!", warf Dennis in den Raum und alle Stimmten mit ein. Ich merkte, wie meine Wangen rot anliefen. "Stev und ich müssen uns übrigens noch einmal vielmals bei dir bedanken, Oxana", setzte er fort. "Wenn du uns nicht die Agentur für Leihmütter vermittelt hättest, dann hätten wir heute nicht unsere wunderbaren Mädchen. Vielen Dank." Dafür mussten sie mir nun wirklich nicht danken. Ich hatte gern geholfen und den beiden lediglich die Unterlagen der Agentur rausgesucht, die meinen Vätern auch meine leibliche Mutter vermittelt hatte.




    Nach dem Essen folgten wir einer weiteren polnischen Tradition. Jeder erhielt ein Stück einer geweihten Oblate, die mir meine Tante Kasia aus Polen zugeschickt hatte. Und damit ging man nun reihum von Person zu Person, brach ein Stück der Oblate des Gegenübers ab und sprach sich gegenseitig Glückwünsche für das kommende Jahr aus.




    Anschließend räumte ich mit Siana die dreckigen Teller vom Esstisch und wir zogen uns ins Wohnzimmer zurück, wo aus unserem Schneemann-Weihnachtsradio schon den ganzen Abend diverse Weihnachtslieder erklangen. Und dort hatte ich auch eine kleine Falle aufgestellt. "Schau mal nach oben, Dominik. Ist das etwa ein Mistelzweig?"




    "Und du weißt, was das bedeutet." Ich legte meine Hand unter sein Kinn und führte seine Lippen an meine. Wir teilten einen zarten Kuss miteinander. Am liebsten hätte ich ihn für immer und ewig so weiter geküsst, denn ich wusste, dass er bereits in drei Tagen auf unbestimmte Zeit von mir getrennt sein würde.




    Doch heute wollte ich meine Laune nicht mit solchen Gedanken trüben. Also setzte ich mich zu Siana an den Schachtisch und spielte mit ihr, während Dominik und Klaudia zu "Deck the Halls" ein Tänzchen aufs Parkett hinlegten und Tristan und Stev eine Partie Darts spielten.




    Stev hatte seine kurze, aber nicht erfüllte Liebesbeziehung zu Tristan wohl längst überwunden. Er wirkte wirklich glücklich mit Dennis und seinen beiden Töchtern und dem Bruder von Dominik erging es nicht anders. Immer wieder konnte man sie dabei beobachten, wie sie sich zärtliche Blicke zuwarfen und auch ganz ohne Mistelzweig küssten. Und auch Tristan schien damit keine Probleme zu haben, sondern überlegte, wie man das Bild der beiden am besten einfangen konnte.




    Und zum Ausklang des Abend sahen wir noch die Muppets-Version von "A Christmas Carol" auf DVD an. Klaudia liebte den Film, seit sie ihn das erste Mal vor etlichen Jahren gesehen hatte. Und ich muss gestehen, dass auch ich ihn immer wieder gerne sah. Sky und die beiden ganz Kleinen waren schon längst im Bett und Stev überprüfte, ob es ihnen auch an nichts fehlte.




    Und an einem unbekannten Ort...



    Wie sehr Kinga es doch vermisst hatte, von einem Mann berührt zu werden. Das wurde ihr so richtig bewusst, als sie in der winzigen Nasszelle ihres Betonbunkers stand und das warme Wasser auf ihren Körper niederprasselte. Hajo und sie hatten sich noch ein Stück weiter von der Gruppe entfernt und sich auf dem mit Moos bedeckten Waldboden geliebt. Kinga bereute diese Tat in keinster Weise, auch nicht, als der Alkohol langsam seine Wirkung verlor. Partys, Rauschmittel und Männer, mehr als diese drei Dinge brauchte sie nicht, um glücklich zu sein und sie schämte sich nicht dafür.



    Hajo war ganz sicher nicht Kingas große Liebe. Irgendwie gehörte dieser Platz immer noch Alex, auch wenn sie ihren Freund, oder sollte sie lieber sagen Ex-Freund, gut genug kannte um zu wissen, dass er nicht lange getrauert hat und sicher schon eine Neue hatte. Sie konnte es ihm nicht einmal verübeln. Schließlich würde sie mit Hajo auch ihren Spaß haben, ganz egal, ob sie ihn nun liebte oder nicht. Doch als sie am übernächsten Tag das Klassenzimmer betrat, stellte sie verwundert fest, dass von Hajo weit und breit keine Spur zu sehen war. Und auch Rabea war nirgends zu entdecken.



    Sie fragte ihre Kommilitonen, doch keiner konnte, oder wollte, ihr sagen, wo Hajo und Rabea waren. Von Jasmin wusste sie, dass sie mit den beiden in einer Baracke lebte. Sie musste doch wissen, wo die beiden waren und so bettelte sie so lange, bis Jasmin ihr schließlich doch eine Antwort gab. "Ich weiß auch nichts genaues, aber ich hab durch den Türspalt zufällig mitbekommen, wie Rabea ihre Sachen packte. Ich fürchte, die beiden sind irgendwo anders hin gebracht worden, aber ich habe keine Ahnung wohin." Das Entsetzen war Kinga deutlich ins Gesicht geschrieben, als sie diese Worte hörte.



    Kinga spürte instinktiv, dass Jasmin die Wahrheit sagte. Hajo und Rabea waren weg. Und Kinga kannte auch den Grund dafür. Irgendwer muss den Aufsehern von der Party auf der Waldlichtung erzählt haben. Irgendwer muss sie verpetzt haben. Und was Kinga besonders belastete war der Gedanke, dass im Grund sie der Auslöser gewesen war. Solche Partys hatten schon öfter statt gefunden und bis jetzt war nie etwas passiert. Doch kaum war sie mit dabei, verschwanden zwei Menschen und ausgerechnet die beiden, mit denen sie sich am besten verstand. Das konnte kein Zufall sein. Irgendwer war ganz und gar nicht damit einverstanden, dass sie ihre Zeit mit Feiern und Männern verbrachte. Das Verschwinden von Hajo und Rabea waren sicherlich eine Warnung.

    Kapitel 147: Dinge, die wir vermissen



    Ich liebte das Weihnachtsfest, doch dieses Jahr hätte ich nicht lang genug darauf warten können. Doch die wenigen Wochen, die mir noch mit Dominik blieben vergingen in Windeseile. Und eh ich es mich versah, war Heiligabend. Wie jedes Jahr, gingen wir mit der ganzen Familie um sechs in die Messe. Die Kirche war voll wie immer zu Weihnachten, sodass Dominik und viele andere keinen Sitzplatz mehr bekamen. Während wir auf den Beginn des Gottesdienstes warteten, bewunderte ich die Weihnachtsdekoration, die mir dieses Jahr besonders gut gelungen schien. Aber tief in meinem Herzen musste ich auch an Kinga denken, die mir an diesem Tag mehr denn je fehlte.




    Pfarrer Erding war sichtlich erfreut, sein Haus wieder einmal voller Menschen zu sehen. An den übrigen Sonntagen waren in der Regel nämlich kaum die ersten zwei Reihen besetzt. Die ganze Gemeinde hatte sich heute Abend hier versammelt.




    Dominiks Eltern Glinda und Anan lauschten aufmerksam den Worten des Pfarrers, während Dominiks jüngere Schwester Kira ganz offensichtlich mit einer Nackenverspannung zu kämpfen hatte. Hans und sein Lebensgefährte Mika waren ebenfalls erschienen. Flankiert wurden die beiden von Dominiks beiden Brüdern Kevin und Mark. Als Küken der Familie, Mark war nur drei Jahre älter als Klaudia, hat er sogar noch einen Sitzplatz neben Hans ergattert.




    Tristan war über seinen Sitzplatz aber nicht so glücklich. Warum mussten Kirchenbänke auch so unbequem sein? Egal wie er sich auch wand und drehte, irgendwo drückte es immer noch. Miranda, deren dicker Kugelbauch langsam nicht mehr zu übersehen war, warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu und ihr Ehemann Frank wollte ihn schon zur Ruhe ermahnen, hielt sich aber doch in letzter Sekunde zurück.




    Roland und Brandi waren auch anwesend und sogar Constance war über die Weihnachtsferien zu Besuch gekommen. Eine Pause vom Uni-Stress würde ihr auch gut tun außerdem vermisste sie ihren Vater, ihre Stiefmutter und ihre beiden jüngeren Geschwister Sahra und Nikolas, die aber daheim bei Brandis Eltern geblieben waren. Neben Roland stand mein kurzzeitiger Mitbewohner Stev, der sich beschämt zur Seite drehte, weil sein Lebensgefährte Dennis, Dominiks ältester Bruder, mitten im Gottesdienst seine Hose zurechtzupfte.




    Die schien ihn aber auch wirklich zu zwicken. Mein Bruder Orion grübelte derweil darüber nach, ob auch alles für den Heiligen Abend vorbereitet war, während seine Frau Desdemona in Gedanken schon längst bei der Bescherung war und selig vor sich hin grinste. Dominiks Schwester Siana konnte dagegen den Blick nicht von ihrem Bruder abwenden, der vor lauter Herumgezupfe an seiner Hose fast das Gleichgewicht verlor.




    Elvira war gefesselt von der Predigt von Pfarrer Erding. Gerda hingegen fuhr erschrocken zusammen, als ihr bewusst wurde, dass sie womöglich vergessen hatte, eine Kerze zu löschen, bevor sie mit der Familie zur Kirche aufgebrochen war. Ihr Mann Volker versuchte zwar sie zu beruhigen, doch so ganz wollte es ihm nicht gelingen. Und Dominik bereute in diesem Augenblick, dass er den Fotoapparat zuhause gelassen hatte und diesen Moment nicht auf Film festhalten konnte.




    Pfarrer Erding kam zum Schluss der Messe. "Brüder und Schwestern, ich wünsche euch ein gesegnetes Weihnachtsfest. Öffnet eure Herzen und lasst den Herrn hinein. Schenket einander den Frieden, den es uns im Alltag so häufig mangelt, dann wird uns allen das Wunder von Weihnachten zuteil. Gehet hin in Frieden."




    Die Orgel ertönte und voller Inbrunst sangen alle Anwesenden "Oh du fröhliche". Vor der Kirche ergriff jeder noch die Gelegenheit, seinen Freunden und Nachbarn ein frohes Weihnachtsfest zu wünschen. Inzwischen war es draußen dunkel geworden. Die Zikaden zirpten munter in den Blättern der Palmen und ein warmer Wind wehte vom Meer heran.




    Ich drückte meinen Bruder fest an mich. Heute würde er den Abend mit seiner Frau bei Gerda und ihrer Familie verbringen, aber am zweiten Weihnachtstag hatte ich ihn und die Kappes in die Simlane eingeladen.




    Klaudia unterhielt sich noch mit Constance. Es gab eine Zeit, als Constance sich furchtbar für ihre Asch-graue Haut geschämt hatte, doch seitdem sie auf der Uni war, war sie wie verwandelt und zu einer selbstbewussten jungen Frau herangewachsen. Wehmütig dachte ich an die Zeiten zurück, als Kinga und sie gemeinsame Pläne für ihre Studienzeit schmiedeten. Wie die Zeiten sich doch geändert hatten.




    Auch Dominik wünschte seinen Eltern und Geschwistern ein frohes Weihnachtsfest. Glinda war nicht begeistert gewesen, als sie erfuhr, dass Dominik und ich vorhatten, erneut zu heiraten. Ich musste ihr aber zugutehalten, dass sie mich dieses Mal nicht offen angriff und ihre Einladung den 1. Weihnachtstag bei ihnen zu verbringen, auch mich mit einschloss.





    Und an einem unbekannten Ort...




    Die Unterichtspause dauerte nicht lang. Verärgert stellte Kinga fest, dass sie nicht daran gedachte hatte, etwas zu Essen mit zu nehmen. Immerhin gaben ihr Hajo und Rabea etwas von sich ab, aber zum satt werden reichte das lange nicht. Am Nachmittag ging es dann mit Unterricht in Simlisch, Wirtschaft und Erdkunde weiter. Gegen sechs Uhr wurde der Unterricht beendet und Kinga machte sich mit knurrendem Magen auf den Weg zurück zu ihrer Behausung. Noch einmal würde sie das Essen nicht vergessen. Sie blätterte noch etwas in dem Schulbuch herum, dass sie bekommen hatte, doch erschöpft vom langen Unterricht und dem anstrengenden Fußmarsch, fielen ihre Augen bald zu. Ihre Kraft reicht nicht einmal mehr für hasserfüllte Gedanken an ihre Mutter.




    Zu Beginn stellte der tägliche Unterricht eine willkommene Abwechslung von Kingas bisherigen tristen Tagen in ihrer Beton-Zelle dar. Das Lernen fiel ihr nicht schwer und sie hatte innerhalb kürzester Zeit alles aufgeholt, was ihre Mitstudenten ihr voraus hatten. Dennoch wurde sie von Prof. Elena weiterhin sehr kritisch beobachtet, zumindest erschien es Kinga so. Aber all zu schnell begann sie das Lernen zu langweilen und ihre Gedanken schweiften ab zu ihrer Clique in Sierra Simlone Stadt. Was Alex und Farina jetzt wohl machten? "Sicherlich haben sie jetzt mehr Spaß als ich und versauern nicht in einem öden Klassenzimmer", dachte sie und schnaufte verächtlich.




    Verstohlen blickte sie sich im Klassenzimmer um und betrachtete die anderen Schüler. Es war doch nicht möglich, dass die den ganzen Tag nur lernten. In der Pause nahm sie Hajo, mit dem sie sich in den letzten Wochen recht gut angefreundet hatte, beiseite. "Nun verrat es mir schon, wo steigen hier die Partys? Ich nehme euch das brave Klosterschüler-Getue nicht länger ab."





    Zunächst druckste Hajo herum und wollte nichts verraten. Kinga wurde schon sauer bis sie bemerkte, dass er lediglich darauf wartete, dass die anderen Mitschüler den Raum verließen. Als sie endlich alleine waren, packte er aus. "Rabea, ich und noch ein paar andere treffen uns gelegentlich auf einer Lichtung im Wald. Wenn man weiß wie, dann kann man die Aufpasser schon mal dazu bewegen, dass sie die ein oder andere Flasche Schnaps einschmuggeln und nicht so genau hinsehen, ob wirklich alle in ihren Bettchen liegen. In zwei Tagen ist es wieder soweit. Wenn du Lust hast, kannst du dich uns anschließen". Hajo brauchte nicht ein zweites Mal zu fragen. "Pass nur auf, dass dir niemand folgt", warnte er sie und erklärte ihr dann den Weg zur Lichtung.




    Kinga konnte das Warten kaum ertragen. Am liebsten wäre es ihr gewesen, wenn sie noch am gleichen Abend die Sau raus gelassen hätten. Zu lange hatte sie nicht mehr gefeiert und sich ordentlich gehen lassen. Als sie dann aber alleine durch den dunklen Wald schritt, ließ ihre Begeisterung deutlich nach. Allerdings dauerte dies auch nur so lange an, bis sie den Schein eines Feuers und ein ausgelassenes Stimmengewirr wahrnahm. Und gleich darauf entdeckte sie auch schon Hajo zwischen den Bäumen.




    "Da bist du ja, King", rief er ihr zu. "Komm, setz dich zu uns ans Lagerfeuer." Kinga kam näher und entdeckte auch gleich Rabea. Einige der anderen kannte sie aus dem Unterricht, aber nicht alle. Das erstaunte sie etwas, denn bis jetzt hatte sie gedacht, dass alle Leute, die es in diesen seltsamen, geheimnisvollen Wald verschlagen hatte, auch an den Lehrübungen teilnehmen mussten. Womöglich gab es ja mehr als eine Lehrbarake?





    Sie unterhielten sich eine Weile, bis Bert, der unbekannt mit den blauen Haaren, plötzlich aufstand. "Ich hohle mir 'nen Drink. Will sonst noch jemand?" Kinga fiel wieder ein, dass Hajo Alkohol erwähnt hatte. Sie hatte in den letzten Wochen kaum noch an Alkohol, Gras oder gar Crystal Meth gedacht, aber plötzlich erinnerte sie sich wieder, wie gut sich diese berauschende Gefühl doch anfühlte und so folgte sie Bert und auch Hajo zu einer hochkant aufgestellten Holkiste, die als Bar fungierte und eine interessante Auswahl an alkoholischen Getränken beherbergte. Bert reichte ihr ein gefülltes Glas und Kinga nahm hastig einen tiefen Schluck. "Also so", dachte sie, "kann ich auch noch länger in diesem gottverlassenen Wald bleiben."





    Dem ersten Drink folgte ein zweiter und auch der dritte ließ nicht lange auf sich warten. "Hey, King, lass es doch ein wenig langsamer angehen, die Nacht ist noch jung", ermahnte sie Hajo freundschaftlich und führte sie von der Bar weg. Etwas abseits von der Gruppe ließen sie sich nieder. "Was starrst du denn so?", fragte Kinga unfreundlich, als Hajo nicht aufhörte, sie zu mustern. "Ich stelle einfach nur fest, wie schön du bist, dass ist alles", erwiderte er grinsend. Kinga war froh, dass es so dunkel war, denn unweigerlich röteten sich ihre Wangen. Aber das brauchte Hajo nicht zu wissen.




    Doch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, beugte er sich zu ihr hinüber und küsste sie. Bis zu diesem Augenblick hatte Kinga in Hajo nie mehr als einen Freund gesehen. Und der Alkohol verhinderte, dass sie sich in diesem Moment darüber Gedanken machen konnte. Und deshalb ließ sie es einfach geschehen. Sie hatte es vermisst, geküsst zu werden und obwohl Hajos Drei-Tage-Bart kratzte, empfand sie das alles andere als unangenehm. Oh ja, die körperliche Zuneigung eines Mannes hatte sie wohl am meisten vermisst.

    Kapitel 146: Blindes Vertrauen


    An einem unbekannten Ort...



    Wie erwartet kam Olek am nächsten Tag und neben den üblichen Essensrationen brachte er dieses Mal noch eine weitere Nachricht mit. "Ich werde das Tor heute Abend nicht mehr verschließen. Um dich herum ist nur Wald, selbst wenn du weg laufen würdest, würdest du doch nirgendwo hin können." Kinga wusste, dass er Recht hatte, aber dennoch konnte sie den Gedanken an Flucht kaum zurückdrängen. "Morgen früh nach Sonnenaufgang wirst du der Straße nach Osten folgen. Etwa nach fünf Kilometern triffst du dann auf eine Holzbaracke. Dorthin wirst du ab jetzt jedem Tag gehen." "Und was soll ich dort?", fragte Kinga ihren Bewacher, doch der hob zum Abschied lediglich die Hand und machte sich auf und davon.




    Natürlich hatte sie überlegt, einfach in ihrer Zelle zu bleiben. Doch dann hatte die Neugier gesiegt. Und obwohl es in Strömen regnete, machte Kinga sich auf den Weg, der ihr von Olek beschrieben worden war. Fast eine Stunde war sie unterwegs und obwohl sie ohnehin bis auf die Knochen durchnässt war, lief sie die letzten Schritte zur Holzbaracke.





    Was genau sie im Inneren erwartet hatte, wusste sie selbst nicht, aber ganz sicher war es nicht die Schulklasse, die sie vorfand. Doch endlich traf sie auf Menschen! Nach Wochen der Einsamkeit und nur gelegentlichen Gesprächen mit Olek war dies das Beste, was sie sich vorstellen konnte. "Hi Leute, ich bin Kinga!" stellte sie sich deshalb überschwänglich vor, ohne Rücksicht auf den bereits begonnen Unterricht zu nehmen.




    "Du bist spät!" antwortet eine Frau um die Vierzig mit starkem osteuropäischem Akzent, die hier die Lehrerin zu sein schien. "Der Unterricht beginnt pünktlich um acht. Es wäre gut - gut für dich - wenn du dir diese Uhrzeit einprägen würdest." Die Drohung, die in ihrer Stimme mitschwang war kaum zu überhören. Kinga schluckte schwer. Die anderen Schüler, alle etwa in ihrem Alter, manche etwas jünger, einige etwas älter, warfen ihr neugierige Blicke zu.




    Kinga hatte auf irgendeine Erklärung gehofft, was sie hier sollte, warum sie diese seltsame Schule mitten im Wald besuchte? Doch sie wurde erneut enttäusch. Professor Elena, so wurde die rothaarige Frau von ihren Mitstudenten genannt, fuhr unbeirrt in ihrem Unterricht fort. Erst Geschichte, dann Politik, als nächstes Mathematik. Kinga wurden Papier und Stifte gegeben und sie versuchte so gut es ging, dem Frontalunterricht zu folgen. Anders als in ihrer früheren Schule herrschte absolute Ruhe. Kein Getuschel, kein leises Gekicher. Alle Schüler zeigten perfekte Disziplin und lauschten aufmerksam den Worten der Lehrerin.




    Die erste Pause gab es erst etwa nach vier Stunden. Kingas Kopf rauchte und sie war froh über die Unterbrechung. Außerdem brannte sie darauf, von ihren Mitschülern zu erfahren, wo sie war und was das ganz hier sollte? Rabea und Hajo ließen sich sogleich auf ein Gespräch mit ihr ein, doch leider musste Kinga feststellen, dass sie ihr nicht viel sagen konnten. "Wir sind etwa seit drei Monaten hier. Hin und wieder stößt jemand Neues zu uns, so wie du. Die meisten von uns leben einige Kilometer von hier entfernt zusammen in anderen Baracken", berichtete Rabea.




    "Und wo kommt ihr her? Wie seid ihr hier gelandet?", fragte Kinga weiter. "Ich war im Knast", antwortete Hajo ohne zu zögern. "Eines Tages kam eine Frau zu mir und erklärte mir, dass ich früher entlassen werde, wenn ich mit ihr gehe. Tja und jetzt bin ich hier. Alles ist besser als Knast, also mache ich brav mit, was hier von mir verlangt wird." Kinga war sichtlich überrascht, auch wenn sie versuchte es so gut es ging zu verbergen. Neugierig, ob diese auch solch eine Geschichte zu berichten wusste, blickte sie Rabea an. "Ich hab auf der Straße gelebt, mich mit ein paar Taschenspielertricks über Wasser gehalten. Vor ein paar Monaten kam ein Typ auf mich zu und sagte, dass er mir mehr beibringen könnte. Mit Schulunterricht hab ich zwar nicht gerechnet, aber immerhin hab ich ein Dach überm Kopp. Die anderen hier haben alle ähnliche Geschichten."




    "Aber warum sind wir hier? Wer ist der verantwortliche? Was wird von uns erwartet?", bedrängte Kinga die beiden mit ihren Fragen. Hajo und Rabea zuckten die Schultern. "Wir machen einfach das, was man uns sagt. So machen wir uns keine Schwierigkeiten", antwortete Hajo. "Du hast wahrscheinlich selbst schon gemerkt, dass dir zu viel Fragen oder gar Widerstand nur Ärger einbringen. Wenn es so weit ist, werden wir schon erfahren, was wir hier sollen und bis dahin machen wir einfach das Beste aus der Situation."


    Derweil in der Sierra Simlone...



    Ein paar Tage nach unserem Abendessen bei Hektor und Manuela führte Dominik ein wichtiges Telefonat. "Ja natürlich, ich kann sofort nach den Feiertag anfangen. Seien sie versichert, dass ich der richtige Mann für diesen Job bin", sprach er in sein Handy. "Sobald der Postbote den Vertrag vorbeibringt, bringe ich ihn Ihnen in die Zentrale...Ich hoffe ebenfalls auf eine gute Zusammenarbeit. Auf Wiedersehen."



    Tristan hatte das Ende des Gesprächs mit verfolgt. "Hast du etwa wieder einen Job?", fragte er neugierig. Dominik grinste. "Ja, ich kann wieder bei der SimÖl anfangen. Sie brauchen erfahrene Leute für den Sicherheitsdienst und meine Referenzen haben sie überzeugt. In einem Monat geht es los."



    "Hej, das ist ja super!", freute sich Tristan. "Ich hab gar nicht mitbekommen, dass die SimÖl wieder anfängt zu fördern. Die Bohrtürme gehen also nach Weihnachten wieder in Betrieb? Dann kann ich sicherlich auch endlich wieder zur Arbeit. Langsam wird es nämlich echt öde, so ganz ohne Beschäftigung". Doch Dominik runzelte das Gesicht. "Ähm, ganz so ist das nicht", druckste er herum. "Ich soll nicht hier anfangen. Die wollen, dass ich nach Simnistrien gehe und dort für die Sicherheit der Arbeiter sorge".



    "Wer soll nach Simnistrien?", fragte ich, als ich ins Wohnzimmer trat. Ich hatte das Abendessen zubereitet und ein paar Wortfetzen des Gesprächs der beiden mitbekommen, als ich einige Zutaten zurück in den Kühlschrank stellte. Tristan zuckte zusammen und sah Dominik mit besorgter Miene an. Er wusste genau, dass mir nicht gefallen würde, was Dominik mir zu erzählen hatte.



    "Ich lass euch beide dann lieber mal allein", sagte Tristan und verließ den Raum. "Dominik, was ist hier los?", fragte ich misstrauisch, als er auf mich zukam und allzu liebevoll meine Wange streichelte. "Ich hab einen neuen Job, Brodlowska", erklärte er und bei diesen Worten stieg sofort Freude in mir auf, die allerdings nicht lange währte. "Es gibt da nur ein winziges Problem. Ich muss dafür nach Simnistrien."



    "Sim...Simnistrien?", stotterte ich. Es dauerte einige Sekunden, bis ich die volle Tragweite dieser Worte begriff. Und dann stieg die Wut in mir auf. "Dominik, hat dir die Sonne etwa die letzten Gehirnzellen weggebrannt? Da kannst doch unmöglich ernsthaft in Erwägung ziehen, einen Job in Simnistrien anzunehmen. Das ist Südamerika! Und dir ist schon bewusst, dass Simnistrien das Land ist, das die SimNation hasst wie die Pest und gerade im Moment einfach mal zulässt, dass deren Bürger bedroht und fast umgebracht werden. Du wirst diesen Job nicht annehmen, Dominik Blech! Haben wir uns da verstanden?!"



    "Ich hab mich bereits entschieden, Brodlowska", sagte Dominik im ruhigen Tonfall. "Lass uns später noch einmal darüber reden. Du musst die Neuigkeit erst sacken lassen." Er drehte sich um und ging in die Küche, wo Klaudia meinen Ausbruch besorgt mitverfolgt hatte. Hilflos fasste ich mir an die Stirn. Das konnte doch nicht Dominiks Ernst sein! Wie konnte er nur daran denken, sein Leben in Gefahr zu bringen und mich und die Kinder allein zu lassen? So wichtig konnte kein Job der Welt sein.



    Spät am Abend saß ich alleine im Dunkeln auf der Bank vor dem Haus und starrte auf die verlassene Straße. Ich hörte zwar, dass Dominik sich nährte, aber ich sah ihn nicht an. Ich war immer noch wütend und enttäuscht aufgrund seiner Entscheidung. Schweigend setzte er sich neben mich uns betrachtet das Haus seiner Eltern auf der gegenüberliegenden Straßenseite. "Brodlowska, lass uns vernünftig miteinander reden", durchbrach er schließlich die Stille. "Je früher desto besser. Benimm dich doch nicht so kindisch."



    "Kindisch? Wer von uns beiden benimmt sich hier denn kindisch?!", zischte ich in an und warf meine Hände wütend in die Luft. "Du bist doch derjenige, der plötzlich Dschungelkamp in Südamerika spielen möchte. Aber das ist kein Spiel, Dominik. Dir könnte etwas passieren! Du könntest verletzt werden oder vielleicht noch Schlimmeres. Ich bitte dich Dominik, fahr nicht. Wir brauchen das Geld nicht. Die Farm wirft genügend Gewinne ab. Vielleicht müssen wir den Gürtel etwas enger schnallen, aber das schaffen wir schon."



    "Es geht mir doch nicht um das Geld, Brodlowska", erwiderte Dominik. "Kennst du mich wirklich so schlecht?" In diesem Moment glaubte ich wirklich, ihn nicht zu kennen. Der Dominik den ich kannte, hätte seine Familie nicht aus einer Laune heraus im Stich gelassen. Aber ich sagte nichts dazu und ließ Dominik weiter sprechen. "Unsere Leute in Simnistrien brauchen unsere Hilfe. Meine Hilfe! Die Männer und Frauen die dort arbeiten können nichts dafür, dass die simnistrische Regierung sie zu Feinden erklärt hat. Und ich kann nicht einfach tatenlos zusehen, wie mit Gewalt gegen sie vorgegangen wird. Es ist meine Pflicht zu helfen. Meine christliche Pflicht, wenn du es so sehen willst."



    Oh es war so unfair von ihm meinen Glauben ins Spiel zu bringen, denn so nahm er mir mit einem Schlag alle Argumente. Er tat es für die Bürger der SimNation, die seine Unterstützung in Simnistrien brauchten. Es wäre selbstsüchtig von mir gewesen, ihn davon abhalten zu wollen. Aber ich konnte meine Tränen dennoch nicht zurückhalten. "Ich hab Angst, Dominik, so furchtbare Angst", schluchzte ich. "Ich will dich nicht verlieren, nicht noch einmal." Dominik zog mich an sich heran und legte seine Arme um mich. "Du brauchst keine Angst zu haben, Brodlowska. Die Situation wird sich in wenigen Monaten wieder beruhigt haben und du kannst mich erneut in deine Arme schließen. Versprochen."



    Ich wollte ihm so gerne glauben, aber all seine Worte und Küsse konnten meine Sorgen nicht beiseite wischen. Niemand konnte sagen, was wirklich passieren würde. Und einfach blind darauf zu vertrauen, dass alles gut gehen würde, wäre mehr als naiv gewesen. Aber es bleib mir gar nichts anderes übrig. Dominik hatte seien Entscheidung getroffen und er würde nach Simnistrien gehen. Aber vorher konnten wir noch ein wundervolles Weihnachtsfest verbringen.


    Kapitel 145: Innerer Frieden



    Während ich meinen inneren Frieden im Kloster suchte, fand der Rest meiner Familie seinen im Pool hinter dem Haus. Obwohl es nun bereits November war, hatte die Sonne kaum an Kraft verloren und das Thermometer kletterte immer noch bis auf 30 °C. Sky war vom ersten Tag an begeistert, dass er nun ein Schwimmbad direkt hinter dem Haus hatte und Klaudia genoss es, mit ihrem Bruder und ihrem Vater im Wasser zu planschen.



    Mein Pummelchen war glücklich, wie schon lange nicht mehr. Zwar hatte sie Dominik in den vergangenen Jahren regelmäßig übers Wochenende besucht, aber ihn nun wieder jeden Tag um sich zu haben, war für sie das Größte. Und auch Dominik genoss es sein Zeit mit den Kinder zu verbringen, sei es nun beim gemeinsamen Spielen an der Konsole, einer Runde Minigolf oder einer wilden Wasserbombenschlacht hinter dem Haus.



    In meiner kleinen Welt schien alles fast wieder perfekt, doch mit Sorge musste ich verfolgen, wie sich die Spannungen zwischen der SimNation und Simnistrien weiter verschärften. "Erneut ist es in der simnistrischen Hauptstadt Tirasimpol zu Übergriffen auf Staatsbürger der SimNation gekommen. 12 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Nach Augenzeugenberichten beobachtete die simnistrische Polizei den Vorfall, griff aber nicht ein. Das Auswertige Amt rät dringend von Reisen nach Simnistrien ab", berichtete die Nachrichtensprecherin. Die heutigen Ereignisse waren allerdings nur die Spitze der immer weiter eskalierenden Ereignisse zwischen den beiden Staaten.



    "Unsere Regierung kann sich das doch nicht länger bieten lassen", bemerkte Dominik energisch. "Die Simnistrier tanzen uns schon seit Wochen auf der Nase herum! Die Ölförderung ist fast vollständig zum Erliegen gekommen und die SimÖl steht kurz vor dem Bankrott. Und jetzt werden auch noch unsere Staatsbürger bedroht! Fürst Ferdinant sollte es diesen Mistkerlen so richtig zeigen". Ich konnte Dominiks Verärgerung verstehen. Auch ich beobachtete die Geschehnisse mit wachsender Sorge. Allerdings hielt ich es für falsch, wenn die SimNation sich auf die Provokationen Simnistriens einließ.



    Doch über Politik wollte ich mir keine Gedanken machen. Wegen des Ölförderstopps hatten plötzlich sehr viele Menschen wieder sehr viel Freizeit und so nutzte ich die Gelegenheit, um mich nach langer Zeit mal wieder mit Manuela Bretz zu treffen. Nur hieß sie nicht mehr Bretz, sondern Holz und war mit Hektor verheiratete. Wir trafen uns also im öffentlichen Freibad und während ich Manuelas Mann näher kennenlernte, unterhielt Klaudia sich mit Manuela.



    Wie sich im Gespräch herausstellte, war Hektor der Vater von Timon, dem ersten Freund meiner Tochter Kinga. Zwar hatten die beiden sich schon vor Ewigkeiten getrennt, trotzdem erinnerte sich Hektor noch gut an Kinga. Allerdings kannte er nur die nette Kinga von damals. Ich hielt es nicht für nötig ihn darüber aufzuklären, was aus dem süßen Mädchen von früher geworden war. Außerdem tat es mir selbst gut, mich an die schönen alten Zeiten zu erinnern.



    Hektor hatte bereits zwei Kinder aus erster Ehe, als er Manuela zur Frau nahm. Timon und Marissa waren für Manu aber wie ihre eigenen Kinder, außerdem hatten sie mit Hektor noch eine gemeinsame Tochter. Manu fand den Gedanken ganz herrlich, dass sie beinah Kingas Schwiegermutter geworden wäre. Naja, beinah würde ich das nicht nennen, immerhin waren Kinga und Timon nur ein paar Wochen miteinander gegangen. "Aber du hast ja noch eine hübsche Tochter", zwinkerte sie Klaudia zu. "Die Chance ist also noch nicht endgültig vertan". Trotz des Dampfes und der Dunkelheit konnte ich erkennen, wie Klaudias Wangen tief rot anliefen.



    Es war herrlich mit Manu über alte Bekannte zu tratschen. Als ich gerade frisch in die Sierra Simlone gezogen war, hatte ich öfter etwas mit Manuela unternommen. Leider war unsere Freundschaft irgendwann im Sand verlaufen. Aber sie konnte sich noch gut an die damalige Zeit erinnern und an unsere gemeinsamen Partys mit Roland, Brandi und Benny.



    Wir waren den ganzen Abend eigentlich nur am Kichern. Ich fühlte mich ein wenig wie um20 Jahre in die Vergangenheit versetzt. Und deshalb versprach ich Manuela, nicht wieder so eine lange Zeit bis zu unserem nächsten Wiedersehen verstreichen zu lassen, woraufhin sie mich und Dominik gleich für das nächste Wochenende zu sich und Hektor zum Essen einlud.



    Und natürlich sagte ich zu. Manu hatte sich ein wundervolles, kleines Heim eingerichtet und servierte ein leckeres Essen. Und Hektor war ein unheimlich sympathischer Mann, der sich sehr gut mit Dominik verstand. Ich hoffte, dass wir in Zukunft öfter solche Treffen abhalten würden.



    Manu und Hektor sahen das genau so und gemeinsam stießen wir auf unsere neue Freundschaft an. Manuela schaute ihrem Mann dabei tief in die Augen und man konnte sehen, dass sie immer noch verliebt war, wie am ersten Tag. Aber mir erging es da nicht anders, wenn ich Dominik anblickte. Ich liebte ihn so sehr, Worte konnten dies gar nicht beschreiben.



    Und deshalb wollte ich ihn auch so schnell wie möglich heiraten. Wir hatten zwar noch keinen festen Termin ausgemacht, aber ich plante die Zeremonie irgendwann nach Weihnachten abzuhalten. Am liebsten schon im Januar. Und dafür blätterte ich bereits in verschiedenen Zeitschriften, um mir Anregungen für die Dekoration, Make-up und mein Kleid zu suchen. Doch all zu oft schweiften meine Gedanken zu Dominik und die Zeitschrift wurde vollkommene Nebensache. Ich war so aufgeregt, als ob dies meine erste Hochzeit wäre. Und im Grunde war sie es auch, zumindest würde es die erste Ehe sein, die ich nur aus Liebe einging.



    Währenddessen an einem unbekannten Ort



    Wie sehr hatte sie es vermisst, die Sonne auf der Haut zu spüren. Seit etwa zwei Wochen durfte sie ihr "Gefängnis" verlassen. Nun, gefangen war sie immer noch. Sie hatte nur wenige Quadratmeter, um sich frei zu bewegen, umzäunt von einer hohen Steinmauer. Aber das war immer noch besser, als wochenlang in ihrer kleinen Betonzelle zu sitzen. Sie konnte es kaum glauben, als sie eines Tages die Türklinke herunter drückte, und die Tür ihrer Zelle einfach aufschwang. Flucht war ihr erster Gedanke gewesen und natürlich hat sie es gleich probiert, aber kaum war sie über die Mauer geklettert und hatte sich einige Meter entfernt, lief sie sofort einem Muskel bepackten Mann in die Arme, der sie ohne viel Worte wieder hinter diese tristen Mauern brachte.





    Nun wartete sie seit Tagen, dass etwas passierte. Wie lange war sie überhaupt schon hier? Genau konnte sie es nicht sagen, aber durch das kleine Fenster ihrer Zelle hatte sie beobachten können, wie die kahlen Bäume langsam Blätter bekamen. Und wo sie war, wusste Kinga auch immer noch nicht. Irgendwo im Norden, so viel war klar, aber wo genau, das blieb ihr ein Rätsel. Kinga krallte ihre Finger in das Maschengitter des Tores zu ihrem Käfig und blickte frustriert auf die Straße davor, auf der sich nichts, aber auch wirklich nichts regte. Hier gab es nur Wald und endlose Stille. Und sie war mitten drin. Und wem hatte sie das zu verdanken? Ihrer Mutter, dieser herzlosen Hexe, die dafür sorgte, dass sie hier in diesem Verließ landete. Wie sehr sie diese Frau doch hasste!




    Alleine der Gedanke an ihre Mutter trieb ihr die Zornesröte ins Gesicht und sie ließ sich auf dem Rasen nieder. Irgendwie hatte diese Hexe es geschafft, sie in dieses Drecksloch sperren zu lassen. Mit ihrer Tante Joanna war sie hier her gekommen, doch seitdem hatte sie sie nicht mehr gesehen. Nur dieser Schrank von einem Mann, der sie schon in der Sierra Simlone in den Wagen schleifte sah sie gelegentlich. Die ersten Tage hatte sie gefleht und gebettelt, sogar geweint hatte sie. Sie wollte hier raus, zurück zu ihren Freunden, zu Alex, zu ihrem alten Leben. Am ganzen Leib hatte sie gezittert, wie im Fieberwahn. Es waren die Anzeichen ihres Drogenentzugs gewesen, doch davon wollte Kinga nichts wissen. Für sie war das nur die Antwort ihres Körpers auf die ungerechte Behandlung, die ihr widerfuhr.




    Irgendwann hatte das Zittern aufgehört und diese tiefe Einsamkeit machte sich in ihrem Herzen breit. Immer wieder hämmerte sie gegen die Tür ihrer Zelle und flehte darum, endlich befreit zu werden. Irgendwann wurde sie erhört und ihr Bewacher Olek kam zu ihr. Sie ergriff die Chance, nicht etwa, um seine Gesellschaft zu genießen, sondern um zu fliehen. Auch das gelang ihr nicht. Unsanft schleifte er sie zurück und sie bezahlte ihre Flucht damit, dass sie die nächsten Tage nur noch trockenes Brot zu essen bekam. Doch auch das brachte Kinga nicht dazu, ihren Zorn zu begraben. Ganz im Gegenteil stachelte es sie nur noch mehr an. Sie begann damit, die spärlichen Möbel ihres Zimmers zu zertrümmern, stellte aber schnell fest, dass sie sich damit nur selbst schadete, denn keiner nahm davon auch nur die geringste Notiz.




    Also ging sie auf Olek los. Der Mann kam immer wieder zu ihr, um ihr Essen zu bringen und zu sehen, wie es ihr ansonsten erging. Manchmal sprach er sogar mit ihr, auch wenn er all ihre Fragen ignorierte. Und als sie das Gefühl hatte, ihn so weit gebracht zu haben, dass er ihr vertraute, sprang sie ihn an, schlug auf ihn ein und zerkratze ihm das Gesicht. Mit einer stoischen Ruhe schüttelte er sie ab und warf sie zu Boden. Er ließ nicht eine Sekunde erkennen, dass ihm der Angriff etwas ausgemacht hätte. Doch diesen Angriff bezahlte Kinga mit einem hohen Preis. Zwei Tage später kam er in ihre Zelle, packte sie unsanft, band ihre Hände am Rücken zusammen und schnitt ihr dann mit einer stumpfen Schere gemächlich und leise vor sich hin summend jeden ihrer langen Rasterzöpfe einzeln ab. Kinga flehte ihn an, damit aufzuhören, sie versprach sich zu ändern, bot sogar ihren Körper an, nur damit er aufhörte. Doch das tat er erst, als auch der letzte Zopf auf dem Boden lag. Kinga überfiel selbst heute ein Schaudern, wenn sie daran zurück dachte.




    Sie hatte die ganze Nacht starr auf dem Boden in ihren abgeschnittenen Haaren gelegen. An diesem Tag war etwas in ihr gebrochen. Die Flamme des beständigen Widerstandes war plötzlich erlöschen. Zwei Tage später kam Olek wieder zu ihr und brachte ihr ihr Essen, als ob nie etwas passiert wäre und auch Kinga verlor nie wieder ein Wort über diesen Vorfall. Die Wochen verstrichen, ohne dass sich viel veränderte. Sie lebte vor sich hin, aß und schlief und irgendwie fand sie sich mit ihrer Situation ab. Nur der Zorn auf ihre Mutter erinnerte sie daran, dass sie noch lebte. Und plötzlich wurde ihr klar, dass sie dieses Spiel mitspielen sollte, denn wenn sie es tat, bot sich ihr womöglich die Chance, sich an dieser Hexe zu rächen. Auch Olek bemerkte ihre Veränderung und schnell erhielt Kinga ihre erste Belohnung. Sie erhielt ihr Make-up zurück und auf ihren Wunsch hin, durfte sie sich ihre kurzen Haarstoppeln schwarz färben. Und auch wenn sie sich ihr Abbild nur als Spiegelung in der Spüle sah, wusste sie, dass sie immer noch schön war.




    Und auch wenn sie in ihrer Zelle alleine war, so gab ihr diese Gewissheit doch sehr viel innere Stärke. Nachdem sie ihre Hände von den Rückständen des Grases befreit hatte, machte sie sich etwas zu Essen. Morgen würde Olek wieder vorbei kommen. Sie wartete bereits darauf, denn er war der einzige Gesprächspartner, den sie hatte. Und vielleicht würde sie endlich erfahren, warum sie hier war und was man mit ihr vorhatte. Die offene Tür war der erste Schritt gewesen, dass wusste sie und der zweite Schritt würde sicher bald folgen.