Kapitel 40: Beerdigung
Von Tante Sylvia erfuhr ich den genauen Zeitpunkt der Beisetzung. Ich machte mich schon sehr früh auf den Weg zur Kirche, doch blieb ich draußen stehen und versteckte mich hinter einem Rosenbusch. Ich wollte nicht, dass mich jemand sah. Ich wollte nicht, dass Dad mich sah. Das einzige was ich wollt, war es Paps Beerdigung beizuwohnen und dann wieder nach Sierra Simlone Stadt zu entschwinden. Und dann sah ich sie kommen, die Trauergäste, meine Familie.
Ich wartete, bis alle das Innere der Kirche betreten hatten und setzte mich dann unauffällig in die letzte Bank. Es war wirklich nur die engste Familie anwesend. Meine Schwester Joanna und ihr Mann Tobias, meine Großmutter Stasia und Paps Schwester Kasia. Es überraschte mich ein wenig, dass Lex Ehrmann, der Anwalt meiner Familie hier war. Ihn und Paps verband eine ganze besondere Beziehung. Ich hatte mir so oft gewünscht, dass Paps Dad verlassen und mit Lex glücklich werden würde. Doch Paps konnte sich nicht von Dad loslösen. Bis zum Schluss nicht. Neben Lex saß eine Frau, die ich nicht kannte. Als ich meinen kleinen Bruder Orion in der ersten Reihe erkannte, musste ich unweigerlich anfangen zu schluchzen. Wie gerne hätte ich ihn jetzt in die Arme geschlossen. Und dann war da noch Dad! Und bei seinem Anblick, hätte ich am liebsten die Kirche wieder verlassen.
Doch natürlich blieb ich sitzen. Der Gottesdienst war schön. Er war wirklich schön. Es war alles so, wie Paps es sich gewünscht hätte. Die Musik, die ausgewählten Gebete. Als ich den Sarg sah, konnte ich mir nicht vorstellen, dass Paps darin liegen sollte. Es war alles so unwirklich. Ich weinte, weil mir schmerzlich bewusst wurde, dass ich ihn nie wieder sehen würde. Und ich weinte, weil ich glücklich war, denn hier im Hause Gottes spürte ich, das seine Seele nun bei unserem Herrn war.
Kurz bevor der Gottesdienst endete, schlich ich mich hinaus, um nicht gesehen zu werden. Dad, Tobias, Lex und der Pfarrer trugen gemeinsam den Sarg aus der Kirche und der Rest der Trauergäste folgte ihnen zum Friedhof, der direkt hinter der Kirche lag. Dann wurde der Sarg langsam in die Vertiefung hinabgelassen. Ich beobachtete die Szene weinend aus dem Hintergrund. "Möge der Herr ihn bei sich aufnehmen", endete der Priester schließlich sein Gebet. Er beugt sich hinunter, nahm eine Handvoll Erde und warf sie auf den Sarg. Selbst aus dieser Entfernung konnte ich hören, wie meine Großmutter zu schluchzen begann und von meiner Tante getröstet wurde.
Einer nach dem anderen ging nun zum Sarg, und warf Erde in das Grab hinunter, um so endgültig Abschied zu nehmen. Wenn alle anderen gegangen wären, dann würde auch ich zum Grab gehen und mich von Paps verabschieden. Doch plötzlich riss ein lautes Rufen mich aus meinen Gedanken: "Da ist Xana, da hinten steht Xana!". Entsetzt sah ich, wie mein kleiner Bruder Orion auf mich zugelaufen kam und sich die Blicke meiner gesamten Familie auf mich richteten.
Orion lief so schnell seien kurzen Beine es zuließen und fiel mir um den Hals. "Endlich bist du wieder zurück, Xana. Endlich bist du wieder da". Und auch ich drückte meinen kleinen Bruder so fest ich konnte. "Ich wusste, dass du heute kommen würdest", flüsterte er mir ins Ohr. "Ich wusste, dass du Paps noch einmal auf Wiedersehen sagen würdest."
Jetzt konnte ich mich nicht mehr länger verstecken. Orion fasste mich an der Hand und zog mich zu den restlichen Trauergästen. Da kam auch schon Joanna auf mich zugelaufen. "Xana! Ich hab mir so sehr gewünscht, dass du heute kommen würdest! Ich hab mir so sehr gewünscht, dich widerzusehen. Ich hab dich so sehr vermisst". Ihr Gesicht war tränenüberlaufen, ebenso wie meins. "Ich hab dich auch vermisst", gestand ich ihr ehrlich. "Aber ich wünschte, ich wäre aus einem anderen Grund hier."
"Wie kannst du es wagen, heute hier aufzutauchen!", schrie Dad und kam auf mich zugestürmt. Ich konnte seine Alkoholfahne augenblicklich riechen. Im Hintergrund sah ich, wie Großmutter begann, hemmungslos zu weinen. Und daran war nur er schuld. " Wie kannst du es wagen, hier auf seiner Beerdigung aufzutauchen, nach allem, was du ihm angetan hast?!", brüllte Dad mich weiter an. "Er hat so oft versucht dich anzurufen! Er hat dir so viele Briefe geschrieben! Er wollte dich nur noch ein einziges Mal sehen, bevor er starb, aber du warst so selbstsüchtig und hast ihm diesen Wunsch nicht erfüllt. Weißt du, wie oft er, sich vor Schmerzen windend, deinen Namen gerufen hat? Aber du bist nicht gekommen! Und jetzt erdreistest du dich auf seiner Beerdigung zu erscheinen?!"
Seine Worte trafen mich mitten ins Herz. Ich versuchte irgendetwas zu sagen, doch aus meinem aufgerissenen Mund kam kein Ton. Hatte Paps wegen mir wirklich so sehr gelitten? Es stimmte, er hatte immer wieder versucht, sich mit mir auszusprechen, doch ich hatte es jedes Mal abgelehnt. Aber wie hätte ich ahnen können, dass es ihm so schlecht ging? Doch das war keine Entschuldigung. Er war sterbenskrank gewesen und ich habe es abgelehnt mit ihm zu sprechen! Was war ich bloß für eine Tochter?
Doch dann schoss mir ein anderer Gedanke durch den Kopf: Was war Dad denn für ein Vater, dass er mir solch einen Vorwurf machen konnte? "Nein, Dad, du wirst mir jetzt nicht die Schuld geben", entgegnete ich entschieden. "Du hast mich aus dem Haus geworfen! Das warst du ganz allein und ich hatte nichts Falsches gemacht. Ich wollte Paps beschützen! Vor dir beschützen, weil er nicht gemerkt hat, was für ein verdammter Mistkerl du bist. Und ich habe jedes Recht bei seiner Beerdigung dabei zu sein! Ich habe Paps geliebt, aber du weißt ja nicht einmal, was dieses Wort bedeutet".
Ich dachte er würde mir gleich mit seiner geballten Faust ins Gesicht schlagen. "Hört auf, alle beide!", schrie Joanna dazwischen. Sie war total aufgelöst. "Könnt ihr nicht einmal an Paps Beerdigung für einen Moment Frieden schließen? Dieser Tag ist schon schlimm genug, aber mit euren Streitereien macht ihr es nur noch viel schlimmer". Sie begann heftig zu weinen, doch Dad und ich starrten uns nur gegenseitig hasserfüllt an.
"Ich werde ihm niemals verzeihen", zischte ich zwischen zusammengekniffenen Lippen. Dann ging ich zum Grab hinüber, nahm eine Hand voll Erde und warf sie hinunter auf den Sarg. "Ruhe in Frieden, Paps", flüsterte ich ganz ruhig. Dann erhob ich mich und ging wütend zwischen meinem Dad und meiner Schwester hindurch. Dabei stieß ich heftig an Dads Schulter an, doch das geschah ihm nur recht. Joanna stand nur stumm da und ließ mich gehen, doch Dad rief mir noch ein letztes, wütendes, "Lass dich nie wieder hier blicken", hinterher.
Ich lief direkt zum Haus von Tante Sylvia und Onkel Franky. Ich hatte vor, direkt wieder in die Sierra Simlone zu fliegen und all das hinter mir zu lassen, doch Dads Worte ließen mir keine Ruhe. Hat Paps wirklich so gelitten, weil ich ihn nicht mehr sehen wollte? War ich wirklich so selbstsüchtig gewesen? In meinem Koffer lagen seine Briefe. Ich hatte sie mit aus Warschau genommen und jetzt mit aus Sierra Simlone Stadt, aber ich hatte sie noch nie geöffnet. Doch jetzt musste ich es. Ich musste einfach wissen, was Paps mir geschrieben hatte.
Er entschuldigte sich in jedem einzelnen Brief und bat mich darum, ihm zu verzeihen. Gott, hätte ich diese Briefe bloß früher gelesen. Am Abend ging ich noch einmal zu Friedhof. Das Grab war bereits aufgeschüttet und mit Blumen bedeckt. "Ich verzeihe dir, Paps", beteuerte ich heiser, als auch ich einen weiteren Strauß Blumen auf sein Grab legte. "Ich bin dir nicht mehr böse, dass du zugesehen hast, wie Dad mich aus dem Haus warf. Und ich hoffe, du kannst mir auch verzeihen". Ich fing an zu schluchzen. "Bitte, Paps, verzeih mir!".
"Willkommen zurück zu Hause, Oxana!". Tristan nahm mich sofort in den Arm, nachdem ich das Haus betreten hatte. Ich schaffte es kaum meinen Koffer abzustellen. "Ich bin auch froh, wieder hier zu sein", entgegnete ich. "Wie lange war ich weg? Drei, vier Wochen?". "Sechs", antwortete Roland für mich. "Schön, dass du wieder da bist."
Auf dem Weg in meine Zimmer bemerkte ich sofort die neuen Bilder. "Sind die alle von dir?", fragte ich Tristan. "Nein", gab er ehrlich zu. "Nur das Bild von Roland habe ich selbst gemacht. Die beiden von uns und das Gruppenbild sind von Roland".
Nachdem ich mir die Bilder genau angesehen hatte, ging ich weiter. Ja, sechs Wochen war ich weg gewesen. Zunächst bin ich in SimCity geblieben. Ich hatte noch so viel, was ich Paps sagen wollte. In seinen Briefen standen so viele Dinge, die er mir nie gesagt hatte. Ich wollte einfach in seiner Nähe sein. In dieser Zeit habe ich aber weder mit meinen Geschwistern, noch mit Dad geredet. Dann bin ich nach Warschau geflogen, denn meiner Großmutter ging es nicht gut. Sie brauchte meine Hilfe und ich...ich brauchte sie auch.
"Hallo, Schatz". Ich war gerade damit fertig geworden meine Sachen in den Schrank einzuräumen als Benny in mein Zimmer kam. Ich hatte so sehr gehofft, dass er nicht kommen würde. Nicht heute. Er kam auf mich zu und wollte mich küssen. Doch ich hielt ihn zurück. "Halt, Benny, nicht!"
Er wurde ganz steif und sah mich verwirrt an. "Oxana, was ist denn?", fragte er und Unsicherheit schwang in seiner Stimme mit. Ich wusste, dass ich es ihm nicht schonend beibringen konnte, also sprach ich es einfach aus: "Wir sollten uns trennen, Benny. Das ist mir in den letzten sechs Wochen klar geworden." "Aber, Oxana, was redest du denn da?", unterbrach er mich entsetzt. "Ich liebe dich doch. Und du liebst mich doch auch."
"Liebe ist manchmal nicht genug", lautete meine nüchterne Antwort. "Mein Vater hat meinen Dad geliebt, und trotzdem wurde er von ihm verletzt. Und mein Dad? Ich glaube auf irgendeine kranke Art hat er Paps auch geliebt und trotzdem war er der Grund, dass es Paps sein Leben lang dreckig ging. Und das will ich nicht Benny. Du sagst, dass du mich liebst. Vielleicht stimmt das sogar, aber du wirst mir trotzdem weh tun. Wenn ich mich auf dich einlasse, dann wirst du mir irgendwann mein Herz brechen. Also mache ich Schluss, bevor es so weit ist. Benny, Geh! Bitte."
Gedanken:
[align=center] Ich hatte mein Haus behalten. Und darüber war ich froh, aber freuen konnte ich mich trotzdem nicht. Wie denn auch? Paps war gestorben. Er war tot! Daran konnte ich nichts mehr ändern und auch wenn ich mir immer wieder sagte, dass ich nichts dafür konnte, fühlte ich mich für seinen Tod verantwortlich. Wenn ich seine Entschuldigung zugelassen hätte, vielleicht wäre dann alles ganz anders gekommen?
Und mir fehlte Benny. Aber meine Entscheidung war endgültig und sie war richtig. Ich habe gesehen, wie Paps gelitten hat, weil er blind war vor Liebe. Das würde ich nicht zulassen. Ich würde nicht zulassen, dass ich mich einem Menschen so sehr öffne, dass ich ihm vollkommen ausgeliefert wäre. Lieber blieb ich ein Leben lang allein.
Das ich nun die Farm hatte, die mich jeden Tag aufs Neue forderte, war ein wahrer Segen. Natürlich war die Arbeit schwer und auf unserem Konto sah es auch nicht gut aus. 1405§ waren alles, was wir noch hatten und die erste Ernte lag noch viele Monate in der Zukunft.
Und da wir alle drei nur noch für die Farm arbeiteten, würde auch kein Geld auf anderem Weg in unsere Kasse fließen. Obwohl, vielleicht würde es Roland schaffen, das ein oder andere Bild zu verkaufen. So könnten wir wenigstens die laufenden Rechnungen bezahlen. Aber ich wollte gar nicht so weit in die Zukunft blicken.