Beiträge von Stev84

    Kapitel 71: Im Albtraum gefangen



    Panisch riss ich meine Augen auf. Es dauerte einige Sekunden, bis ich realisierte, dass ich nur geträumt hatte. Nichts davon war real gewesen. Es gab keine Hochzeit, keine Ringe, keinen Albert. Albert war tot. Im Halbdunkel des Schlafzimmers konnte ich Dominik erkennen, der ruhig neben mir im Bett schlief. Ich war also einem Alptraum entflohen, um im nächsten aufzuwachen.




    Ich konnte nicht länger neben Dominik liegen bleiben. Ich wollte nur noch weg. Im Dunklen tastete ich mich in Wohnzimmer und setzte mich mit angezogenen Beinen auf die Couch. Es waren nun schon drei Wochen vergangen seit Albert…seit er mir so grausam entrissen worden war. Doch es wurde nicht leichter, ganz im Gegenteil.




    "Brodlowska! Hey, alles in Ordnung bei dir?", Dominik stand plötzlich vor mir und starrte mich besorgt an. Als er das Wohnzimmer betrat, fand er mich auf dem Sofa vor, wie ich geistesabwesend den ausgeschalteten Fernseher anstarrte. Er muss mich schon mehrere Mal angesprochen haben, doch erst jetzt nahm ich ihn wahr. Trotzdem antwortete ich ihm nicht, sondern schaute nur ausdruckslos in sein Gesicht.




    Als ich weiterhin keine Anstalten machte irgendetwas zu erklären oder überhaupt zu reagieren, setzte er sich zu mir. "Brodlowska, es ist gerade mal halb vier morgens. Komm zurück ins Bett. Bitte!" Ich starrte weiter die Wand an. "Du musst damit aufhören, Brodlowska. Du kannst doch nicht ständig in der Nacht allein im Dunkeln sitzen. Das ist nicht gut für dich." Er klang aufrichtig besorgt, doch zu mir drang dies nicht durch.




    "Komm wieder mit mir mit." Er streckte seinen Arm aus um mich an der Schulter zu fassen und mich sanft zurück in das Schlafzimmer zu geleiten.




    Doch als ich die Berührung seiner Hand spürte, zuckte ich erschrocken zusammen und zog mich von ihm zurück. Mein Gesichtsausdruck muss entsetzt gewirkt haben, denn Dominik hatte Mühe, seine Fassung zu bewahren. In seinen Augen mischten sich Sorge, Angst, Wut, Resignation und Enttäuschung. Vor allem Enttäuschung. Doch ich konnte darauf keine Rücksicht nehmen.




    Er Rang mit sich selbst. Noch einmal streckte er seinen Arm aus, um mich zu berühren, doch mein verängstigter Blick ließ ihn im letzten Augenblick seine Hand zurückziehen. Er seufzte resigniert und ging zurück ins Schlafzimmer. Ich saß noch eine ganze Weile regungslos auf dem Sofa. Schließlich legte ich mich hin. Und obwohl ich zum Umfallen müde war, schaffte ich es nicht einmal meine Augen geschlossen zu halten.




    Irgendwann realisierte ich, dass ich vor Rolands Bett stand. Ich überlegte nicht lange, sondern ging einfach an die leere Bettseite und legte mich zu ihm unter die Decke.




    Roland begann sich zwar etwas herumzuwälzen, aber er wachte nicht auf. Zunächst beobachtete ich nur, wie das Mondlicht seine blonden Haare anstrahlte. Eher unbewusst begann ich damit, mit meinem Finger den Umriss seines Schulterblattes nachzuzeichnen. Und eh ich es mich versah, schmiegte ich mich eng an den Rücken meines besten Freundes. Und augenblicklich fielen meine Augen zu und ich fiel in einen erholsamen Schlaf.








    Als ich am Morgen aufwachte, war das Bett an meiner Seite leer. Es war schon hell draußen und ein Blick auf den Wecker verriet mir, dass es bereits nach neun war und Roland somit längst im Krankenhaus sein musste. Ein wenig war ich enttäuscht, dass er fort war. In seiner Nähe fühlte ich mich nach wie vor am geborgensten.




    Auch die Kinder, Tristan und Dominik waren nicht mehr im Haus. Ich war froh, sie nicht um mich haben zu müssen. Ich ertrug es nicht, wenn sie in meiner Nähe waren. Sie versuchten ständig, mich aufzuheitern, doch ich wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden. Und Kinga...wenn ich sie sah, dann kamen sofort alle Erinnerungen an Albert hoch. Und das tat einfach zu weh. Ich wollte meine Tochter nicht um mich haben. Das einzige, was mir Halt gab, war die Arbeit auf der Farm.




    Die Tiere brauchten mich. Und diese tägliche Pflicht hielt mich davon ab, völlig in einem Sumpf aus Trauer und Schmerz zu versinken. Gleich nach Alberts Beerdigung war ich in ein tiefes Loch gefallen. Ich hatte einfach keine Kraft mehr. Ich wollte nur noch zu Albert und es schien einen einfachen Weg zu geben, dieses Ziel zu erreichen. Es waren nicht Dominik oder Kinga, die mich davon abhielten mit dem Wagen in die nächste Schlucht zu stürzen. Es war Grünspan, meine Farm, mein Land, meine Heimat die mich davon abhielt. Aber immer noch stand ich vor diesem düstern Loch und war kurz davor hinein zu springen.




    Ich arbeitete stumpf vor mich hin, nur um eine Beschäftigung zu haben. So ging das nun schon seit Wochen und es half mir, nicht völlig zusammen zu brechen. Während der Arbeit auf der Farm blendete ich alles um mich herum aus. Ich befand mich dann in einer Art Trancezustand und hatte nicht mehr die volle Kontrolle darüber, was ich tat. Und so gewann mein Unterbewusstsein immer wieder die Oberhand und plötzlich stand ich an Alberts Grab auf dem Friedhof von Sierra Simlone Stadt.




    Mich überkam wieder dieser Schmerz, als ich Alberts Namen auf dem schweren Grabstein sah. Weinen konnte ich schon lange nicht mehr. Meine Tränen waren versiegt. Leichter wurde es dadurch nicht, denn so fehlte mir jede Möglichkeit, meinem Schmerz aus mir heraus zu lassen. Ich fühlte mich einfach nur traurig, leer und einsam.




    Ich fand keinen Trost in meiner Familie. Das letzte Jahr mit Albert, die Angst um ihn nach dem Unfall und das unendliche Gefühl des Glücks, als er endlich aus dem Koma erwachte und mir seine Liebe versicherte, hatten mir deutlich gezeigt, dass ich Dominik nicht liebte und ihn auch nie würde lieben können. Und deshalb fürchtete ich mich vor jeder Begegnung mit ihm, denn dadurch wurde mir wieder bewusst, was ich verloren hatte.




    Und auch Kingas Gegenwart machte es mir nicht einfacher. Sie war Alberts Tochter. Das einzige, was mir noch von ihm geblieben war. Aber ich sah sie nicht als Trost, sondern als eine ständig quälende Erinnerung an meine große Liebe, die so unerwartet von mir gerissen wurde. Da ich tagsüber mit der Farmarbeit beschäftigt war, sah ich sie glücklicherweise so gut wie überhaupt nicht. Aber mit Dominik, Roland und Tristan blieben ihr genügend Menschen, die sich um sie kümmerten.




    Diejenige, die unter meiner labilen mentalen Lage am meisten litt, war Constance. Seit das Jugendamt Roland seine Tochter vorbeibrachte, hatte ich sie ins Herz geschlossen. Meine Beziehung zu ihr war in vielerlei Hinsicht sogar besser als zu meiner eigenen Tochter. Doch jetzt war ich viel zu sehr mit meinen eigenen Problemen beschäftig, um auf sie Rücksicht nehmen zu können. Jetzt musste Roland alleine zusehen, wie er seiner Tochter helfen konnte.




    Ich blieb bei Alberts Grab, bis die Sonne hinter dem staubigen Horizont versank. Dann fuhr ich zurück nach Hause. Ich hatte Glück, dass niemand im Wohnzimmer saß, so konnte ich mich unbemerkt ins Schlafzimmer schleichen. Und auch das Bett war noch leer. Mir fiel ein Stein vom Herzen, denn ich hätte vielleicht nicht die Kraft aufgebracht, mich zu Dominik zu legen. Wenn ich Glück hätte, schlief ich bereits tief und fest, bevor er sich auch schlafen legte. Zumindest hoffte ich es sehr.

    Kapitel 70: Traumhochzeit




    Langsam drehte er sich um und kam auf mich zu. Sein Blick war ernst wie immer, aber seine Augen funkelten vor Zuneigung. Ein Blick genügte und meine Knie wurden weich. Wie sehr ich diesen Mann doch liebte! Und jetzt würde ich seine Frau werden. Ich würde Frau Oxana Kappe werden.




    An der linken Seite des Altars stand Hans und lächelte mir zu. Von Alberts Kindern hatte ich zu ihm das Beste Verhältnis aufgebaut. Er war sofort begeistert, als er erfuhr, dass ich die Frau seines Vaters werden würde und er platze fast vor Stolz, als sein Vater ihn bat, sein Trauzeuge zu werden.




    Albert reichte mir seine rechte Hand und führte mich die letzten Schritte vor den Altar. "Ich liebe dich, Oxana", flüsterte er mir zu und ich hauchte ein, "Ich liebe dich auch", zurück. Aber Worte waren unnötig. Ich wusste, dass er mich liebte. All die Hindernisse auf unserem bisherigen Weg waren dafür Beweis genug.




    Der Klang der Orgel erstarb und der Priester begann mit dem Gottesdienst. Ich versuchte aufmerksam jedem seiner Worte zu lauschen, allerdings gelang mir das nicht vollständig. Immer wieder erwischte ich mich dabei, wie ich Albert beobachtete und dabei glücklich lächelte. Meine Gedanken schweiften ab in unsere gemeinsame Zukunft, zu unserer Liebe, unseren gemeinsamen Kindern, von denen ich hoffte, dass es viele davon geben würde.




    "Das Brautpaar hat darum gebeten, ein eigens Gelöbnis vortragen zu dürfen", verkündete der Priester, "und eine solche Bitte konnte ich nicht abschlagen. Oxana, wollen Sie bitte beginnen?" Ich hatte mir vorher eine Rede zusammengestellt und sie auf einem Zettel notiert. Aber dieser Zettel war jetzt unwichtig. "Albert, du bist die Liebe meines Lebens. Gleich als ich in der Sierra Simlone ankam wusste ich, dass ich mein Leben mit dir verbringen wollte. Dass es so lange gedauert hat, kann nur ein Zeichen für die Beständigkeit unserer Liebe sein. Ich möchte meine Liebe mit dir teilen und dich glücklich machen, so wie du es jeden Tag aufs Neue mit mir machst. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als deine Frau zu werden."




    Aus den hinteren Reihen hörte ich ein tiefes Schluchzen und erkannte es sofort als das von Onkel Frankie, der sich vor Rührung die Tränen aus den Augenwinkeln wischte. "Oxana, alleine wenn ich deinen Namen höre, überkommt mich eine Welle des Glücks. Du bist eine wunderschöne, intelligente, erfolgreiche junge Frau. Du meisterst jede Schwierigkeit und das bewundere ich so an dir. Mit deiner Hilfe werde ich mit jedem Problem fertig und im Gegenzug werde ich dir dabei helfen, jedes deiner Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Gemeinsam werden wir alles schaffen können, wenn wir nur an unsere Liebe glauben." Alberts Worte gingen mitten in mein Herz und ich konnte meinen Blick kaum von seinen Lippen lösen. Am liebsten hätte ich ihn auf der Stelle geküsst.




    Doch das musste noch warten. "Nun ist es an der Zeit, die Ringe zu tauschen", erklärte der Priester und Hans reichte ihm die beiden goldenen Ringe, die er bis dahin in seiner Hosentasche aufbewahrt hatte. Der Priester segnete die Ringe, die ein sichtbares Symbol unserer Liebe sein würden und reichte den Kleineren der beiden dann Albert. Dieser nahm ihn entgegen und steckte ihn mir an den Ringfinger meiner linken Hand an.




    Dann reichte der Priester mir den verbliebenen Ring und vor Aufregung hätte ich ihn fast fallenlassen. Mit zitternder Hand streifte ich den goldenen Ring auf Alberts Ringfinger. Zum Abschluss falteten wir unsere Hände ineinander. Ich wollte Albert nie wieder loslassen.




    Meine Großmutter lächelte überglücklich. Sie hatte zwar kaum ein Wort dieser Zeremonie verstanden, aber das war bei solch einem Ereignis nicht notwendig. Sie sah die glücklichen Gesichter von Albert und mir und das reichte ihr, um selbst glücklich zu sein. Und auch mein Bruder strahlte. Es schien ihn wirklich zu freuen, dass nun auch seine zweite Schwester verheiratet war.




    Vorsichtig riskierte ich einen Blick zu Gerda. Ich befürchtete, dass sie die Zeremonie nicht ganz so gut aufnehmen würde. Immerhin heiratete ich gerade den Mann, mit dem sie selbst fast 20 Jahre verheiratet gewesen war. Aber in ihrem Blick erkannte ich nur aufrichtige Freude und Zuneigung für Albert und mich.Womit hatte ich eine solche Freundin bloß verdient?




    Der Priester fuhr in der Zeremonie fort, denn noch waren wir nicht am Ende angekommen. Noch fehlte die eine entscheidende Frage und dann würden Albert und ich endlich verheiratet sein. "Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht trennen. Das ist ein Grundsatz unserer heiligen Kirche und deshalb ist die Entscheidung zur Ehe auch von solcher Wichtigkeit. Deshalb stelle ich dir Albert jetzt die Frage:"




    "Willst du, Albert Kappe, vor Gott und seiner Gemeinde, die hier anwesende Oxana Brodlowska zu deiner Ehefrau nehmen, sie lieben und ehren, in guten wie in schlechten Zeiten, so antworte mit 'Ja'". Albert ergriff meine Hand und sah mir tief in die Augen. "Ja, ich will", antwortete er mit seiner tiefen, kräftigen Stimme und ich schwebte in den siebten Himmel.




    "Und willst du, Oxana Brodlowska, den hier anwesenden Albert Kappe zu deinem Ehemann nehmen, ihn lieben und ihm gehorchen, in guten wie in schlechten Tagen, bis das der Tod Euch scheidet, so antworte mit 'Ja' ". Ich blickte in Alberts strahlenden grünen Augen und lächelte ihn verliebt an. Ja, ich wollte ihn heiraten und bis an mein Lebensende mit ihm zusammen leben. Ich öffnete meine Lippen und...Pieeeeep




    Was war denn das eben? Ich räusperte mich verwirrt und versuchte es ein zweites Mal. Pieeeeep. Und wieder nur derselbe Ton. Ich musste doch nur ein einfaches 'Ja' sagen. Mehr war nicht zu tun. Doch als ich meinen Mund erneut formte, drang wieder nur dieses Pieeeeeep hervor. Ich wurde langsam panisch. Albert schaute mich verständnislos an. Die Gäste im Hintergrund begannen aufgeregt zu murmeln. Ich versuchte zu sprechen, doch alles, was meinen Mund verließ, war dieses Piepen, dieses schreckliche Piepen.




    Dieser schreckliche langgezogene Piepton, den ich schon einmal gehört hatte. Wie aus weiter Ferne drangen plötzlich die Erinnerungen auf mich ein. Das Krankenhaus, die panischen Schwestern, die Kommandos des Arztes, die Kaffeetasse, die auf den Fliesen zerbrach, Alberts zuckender Körper und dieses Piepen, dieses furchtbare Piepen!

    Was bisher geschah:
    (Zusammenfassung der vorherigen Kapitel)

    Ich lebte nun schon sechs Jahre mit Dominik zusammen und zog mit ihm ein Kind auf, das gar nicht seins war. Er ahnte natürlich nichts davon, genauso wenig wie Albert ahnte, dass er der Vater meiner Tochter war.
    Trotzdem war ich nicht glücklich mit Dominik, denn ich liebte ihn nicht. Ich war nur mit ihm zusammen, weil ich verhindern wollte, dass irgendjemand meine Tochter Kinga mit Albert in Verbindung brachte. Ich konnte nicht zulassen, dass diese eine unbedachte Nacht seine Ehe und Familie zerstörte.
    Aber ich liebte Albert und er liebte mich. Und schließlich konnten wir nicht mehr widerstehen und begannen eine geheime Affäre, die fast ein Jahr andauerte. Dann verkündete Albert überraschend, dass er seine Frau Gerda verlassen würde, um mit mir zusammen sein zu können. Und ich sehnte mich so sehr nach Liebe und Geborgenheit, dass ich seinem Plan zustimmte.
    Ich musste mich nur noch von Dominik trennen. Doch gerade, als ich mit ihm Schluss machen wollte, erreichte mich ein Anruf von Alberts Tochter Miranda. Vollkommen aufgelöst berichtete sie mir, dass ihre Eltern spurlos verschwunden waren. Sie waren auf dem Weg zu einem gemeinsamen Wochenende, bei dem Albert sich von Gerda trennen wollte. Unterwegs verunglückte jedoch der Wagen und die beiden stürzten einen Abhang hinunter.
    Die Rettungsmannschaft fand die beiden erst Tage später und sie wurden schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht. Da Alberts Kinder nicht allein bleiben konnten, zog ich mit Kinga vorübergehend zu ihnen, um mich um die Vier zu kümmern.
    Der Zustand ihrer Eltern blieb kritisch und meine Angst um Albert wuchs von Stunde zu Stunde. Sowohl er als auch seien Frau lagen im Koma und es war nicht klar, ob sie je wieder aufwachen würden. In meiner Verzweiflung ließ ich mich von Dominik trösten und verbrachte eine Nacht mit ihm.
    Gerda war die Erste, die aus dem Koma erwachte, allerdings war sie gelähmt und würde nie wieder laufen können. Ich versprach ihr, mich weiterhin um die Kinder zu kümmern, bis sie dies wieder übernehmen konnte. Doch glücklicherweise erwachte auch Albert wenig später.
    Er versicherte mir, dass er mich liebte und zwar nur mich und das er sich von Gerda trennen würde, unabhängig von ihrem jetzigen Zustand. Sie wusste bereits von Albert und mir und war mit unserer Beziehung einverstanden. Ich war überglücklich.
    Ich besuchte Albert im Krankenhaus. Ich verließ das Krankenzimmer nur, um mir schnell einen Kaffee zu holen. Doch als ich wiederkam, herrschte an Alberts Krankenbett ein furchtbares Durcheinander. Ärzte und Schwestern liefen hastig umher und Alberts Körper zuckte unkontrolliert. Und dann drang ein Piepen an mein Ohr.



    Kapitel 69: Der einzige Mann, den ich liebte...





    Nur noch die schwere Holztür trennte mich vom Innenraum der Kirche. Doch ich brachte nicht die Kraft auf, sie aufzustoßen und einzutreten. Der Vorraum des Gotteshauses erschien mir in diesem Moment so viel einladender. Der schwere Geruch von jahrhundertealten Gemäuern und von poliertem Holz lag in der Luft und löste eine wohltuende Ruhe in mir aus. Wenn ich diese Tür aufstieße, dann wäre es vorbei mit dieser Ruhe. Dann würde alles Wirklichkeit werden. Dann würde ich ihn zum letzten Mal sehen bevor...




    Der plötzliche einsetzende Klang der Orgel ließ mich hochschrecken. Man konnte die Vibration, die von den hunderten Pfeifen ausging, deutlich spüren. "Mama, wir müssen jetzt rein", lenkte Kinga meine Aufmerksamkeit auf sich. "Alle warten schon auf uns."




    Ja, sie hatte Recht, alle warteten auf uns. Plötzlich erstarb das pompöse Crescendo der Orgel und eine angenehme ruhige Melodie setzte ein. Eine Melodie, die jedem wohl vertraut war. Eine Melodie, von der jedes Mädchen träumte.




    Als der Brautmarsch ertönte, öffneten Kinga und Constance die schwere Kirchentür mit solch einer Leichtigkeit, dass man meinen könne, dass Gotteshaus selbst warte auf mein Eintreffen. Mit meiner linken Hand umfasste ich das Kreuz an meinem Hals und schickte ein kurzes Gebet zur heiligen Jungfrau. Dann atmete ich tief durch, strich ein letztes Mal über mein weißes Seidenkleid und betrat den Gebetsraum.




    Kinga und Constanze liefen mit Elan voraus und verstreuten ihre weißen Blütenblätter über dem weichen Teppich im Mittelgang, der direkt auf den Altar zuführte.




    Ich könnte nicht anders, als zu lächeln. Alles war so überwältigend; der Klang der Orgel, die Sonnenstrahlen, die durch die bunten Bleiglasfenster ins Innere der Kirche fielen. Nein, zu sagen ich lächelte, wäre untertrieben gewesen. Ich strahlte und jeder konnte es sehen.




    Die Kirche war gefüllt mit meinen Freunden und Verwandten. Im Vorbeigehen warf ich ihnen mein schönstes Lächeln zu und wurde mit einem ebensolchen belohnt. Lucy, die Mutter meines kleinen Bruders Orion, ließ sogar einen leisen Ausruf der Bewunderung erklingen, auch wenn sie sich dafür einen etwas verwirrten Blick ihres Lebensgefährten Valerius einfing. Und selbst Dominiks Mutter Glinda warf mir einen anerkennenden Blick zu, eine Geste, die ich bei ihr noch nie zuvor erlebt hatte. Dominiks Vater Anan schaute mich dagegen so liebevoll an wie eh und je.




    Auch Dominiks älteste Schwester Siana zeigte ihre Begeisterung über mein Äußeres. Auch wenn ihr Bruder Dennis und Tristans Freund Frank diese Begeisterung nicht so offenkundig zur Schau stellten, sah ich doch die ehrliche Freude für mich in ihren Augen.




    Mit jedem Schritt kam ich dem Altar näher. Nur noch wenige Meter trennten mich von meinem zukünftigen Leben als Ehefrau. Constance und Kinga hatten ihre endgültige Position bereits eingenommen und warteten nur noch auf meine Ankunft.




    Ebenso, wie meine Familie wartete. Alle waren sie angereist. Aus SimCity und sogar aus Warschau. Neben Tristan saß mein kleiner Bruder Orion, der inzwischen fast schon zum Mann geworden war und Dad immer mehr zu gleichen schien. Auch Dads Schwester Ewa war da und lächelte mir freundlich zu. Über die Anwesenheit meiner Tante Kasia und ihres Mannes Kazik freute ich mich ebenfalls riesig. Während meiner Zeit in Warschau waren sie, neben meinen Großeltern, meine engsten Vertrauten und ich war froh, dass sie bei meiner Hochzeit dabei sein würden.




    Genauso, wie zwei weitere Menschen, die mir in meinen schwierigen Zeiten so sehr geholfen hatten, meine Pateneltern. Tante Sylvia, dezent gekleidet wie immer, begann bei meinem Anblick fast an zu weinen und Onkel Frankie erging es nicht anders, auch wenn er versuchte, sie die Tränen nicht anmerken zu lassen. Ein Mann weint schließlich nicht. Mein Schwager Tobias lächelte mir erfreut zu und auch Miranda nickte anerkennend, auch wenn mir ein gewisser Wehmut in ihrem Blick nicht entging.




    Elvira und Desdemona guckten etwas bedrückten, aber vielleicht fühlten sie sich nur unwohl, weil sie gleich in der ersten Reihe saßen. Aber woanders konnte ich ihre Mutter, Gerda, nicht Platz nehmen lassen. Und ohne meine beste Freundin an meiner Seite konnte ich schließlich nicht heiraten. In ihrem feurigen Kleid sah sie einfach umwerfend aus. Da konnte selbst der Rollstuhl nichts daran ändern.




    Dann fiel mein Blick zu meiner Zwillingsschwester Joanna, die bereits am Altar wartete, bereit, ihre Aufgabe als Trauzeugin zu übernehmen. Ihr Blick wirkte streng. Es war ein Gesichtsausdruck, den ich bei ihr häufiger beobachtet hatte. Früher hat sie immer gelächelt, aber in den Jahren, in den wir uns nicht gesehen hatten, haben wir beide uns verändert. Aber nichts desto trotz konnte ich den Stolz in ihren Augen erkennen und das Zucken ihrer Mundwinkel, die ein Lächeln andeuteten, reichte um mir zu zeigen, wie sehr sie sich freute.




    Das stolze Lächeln auf den Lippen meiner babcia, meiner geliebten Großmutter, war dagegen nicht zu übersehen. Oh, wie hatte sie sich gefreut, als sie aus dem Flugzeug in SimVegas stieg und ich ihr um den Hals fiel. Ohne sie hätte ich nicht vor den Altar treten können. Es war nur zu schade, dass mein Großvater diesen Tag nicht mehr miterleben konnte. Ebenso Paps. Gott sei ihren Seelen gnädig. Doch diese traurigen Gedanken wischte ich schnell beiseite. Für so etwas war jetzt nicht die richtige Zeit. Außerdem heiterte mich der Anblick meiner babcia auf, die Versuchte, Roland etwas auf Polnisch zu erklären und er zwar höflich lächelte, aber eindeutig nicht das Geringste verstand. Brandi war ihm da auch keine große Hilfe.




    Und dann sah ich ihn. Meinen zukünftigen Ehemann, den Partner, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen würde. Den Mann, mit dem ich alle Hürden des Lebens meistern wollte und mit dem ich glücklich werden würde. Da vorne stand der Mann, den ich liebte. Der einzige Mann, den ich liebte.

    Kapitel 68: Wenn Träume wahr werden




    "Zuhause, zuhause!", Kinga freute sich sichtlich darüber, dass wir wieder in der Simlane waren und zeigte dies, indem sie unentwegt auf ihrem Bett auf und ab hüpfte. In mir sah es dagegen anders aus. Ich war nicht unglücklich darüber, wieder in der Simlane zu sein. Da war eher der Wehmut, nicht mehr auf Norman, auf Alberts Farm, zu sein und dieses Gefühl war schwer zu ertragen.




    Aber ich würde mich daran gewöhnen, so wie ich mich an alles in meinem Leben gewöhnt hatte. Ich räumte gerade den Dreck weg, denn meine drei Männer in den letzten zwei Wochen hinterlassen hatten, als Roland aufgeregt nach mir rief. "Oxana, etwas wunderbares ist passiert. Albert ist endlich aus dem Koma erwacht."




    Albert war aus dem Koma erwacht? Ich starte Roland an, als ob ich seine Worte nicht richtig verstanden hätte. "Er ist heute Morgen einfach aufgewacht. Die Klinik hat gerade erst angerufen. Es geht ihm erstaunlich gut. Er kann ganz normal sprechen. Anscheinend hat er durch den Unfall und die Operation keine dauerhaften Schäden erlitten. Er hat nach dir gefragt. Er möchte, dass du sofort ins Krankenhaus kommst." In meinem Kopf drehte sich alles. Albert war aufgewacht. Ich musste zu ihm. Ich musste einfach!




    Ich raste nach Seda Azul. Ich konnte nicht einmal mehr sagen, wie viele Geschwindigkeitsschilder ich einfach ignoriert hatte. Dabei wusste ich nicht einmal, was ich Albert sagen wollte, wenn ich ihn sah. Das einzige was ich wusste war, dass ich ihn jetzt sehen musste. Und trotzdem zitterten meine Knie, als ich mich seinem Bett nährte. Da lag er und schaute entspannt aus dem Fenster, doch als er meine Schritte hörte, drehte er sich zu mir um. Und auf seinem Gesicht zeigte sich dieses Lächeln, dem ich schon bei unserer ersten Begegnung verfallen war. "Da bist du ja endlich, Oxana", sagte er mit kräftiger, tiefer Stimme und mein Herz schmolz dahin.




    Ich konnte nicht anders, als auf ihn zuzulaufen und ihm und den Hals zu fallen. Vergessen waren meine ehrbaren Vorsätze, ihn Gerda zuliebe aufzugeben. Stattdessen brach ich in Tränen aus und weinte all den Schmerz, all die Trauer und all die Angst der letzten zwei Wochen an seiner Schulter aus. "Ist ja gut", flüsterte Albert immer wieder und strich mir tröstend über den Rücken. "Alles ist wieder gut, Liebling. Ich bin ja bei dir. Ich werde dich nie wieder verlassen."




    Er hielt mich minutenlang in seinen Armen. Sein Nachthemd war schon durchtränkt von meinen Tränen, doch es störte ihn nicht. Und mich auch nicht. Ich wollte nur bei ihm sein, seine Wärme spüren. Schließlich versiegten meine Tränen und ich richtete mich wieder auf. Sanft wischte er mit seiner großen Hand die letzte Träne von meiner Wange. Ich wollte diesen Augenblick genießen, doch mein Gewissen erlaubte mir nicht mehr als diese wenigen kurzen Minuten des Glücks. "Du darfst Gerda nicht verlassen", erklärte ich bestimmt. "Sie braucht dich jetzt. Alleine schaff..." "Psssst..." Albert legte seinen Finger auf meine Lippen. "Oxana, ich liebe nur dich. Und Gerda weiß das. Sie hat mich frei gegeben. Wir hatten schon lange Probleme und wir wussten, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis einer von uns ginge. Sie weiß von uns Oxana. Ich habe es ihr noch vor dem Unfall gesagt. Dieses Wochenende in den Bergen sollte einfach nur ein Abschied sein."




    "Gerda weiß es?" Ich musste mich verhört haben. "Aber sie hat nie etwas gesagt. Wir haben die letzten Tage so viel Zeit miteinander verbracht und sie hat nie auch nur etwas angedeutet. Sie müsste mich hassen." "So ist Gerda aber nicht, Oxana. Sie mag dich. Wie soll man dich auch nicht mögen?" Ich schaute scheu in seine Augen und erkannt darin so viel Liebe. "Sie möchte, dass wir glücklich werden, Oxana. Denn sie und ich sind es schon lange nicht mehr."




    "Oh, Albert, ich liebe dich so sehr." Wieder fing ich an zu weinen, aber diesmal waren es reine Freudentränen. Endlich habe ich zu Albert gefunden. Weder der Unfall, noch Gerda oder Dominik konnten uns trennen. Wir würden zusammen glücklich werden. Er zog mich zu sich heran und küsste mich. "Nichts wird uns jemals wieder auseinander bringen, Oxana. Ich möchte für immer mit dir zusammen bleiben." "Versprichst du mir das?" "Ich verspreche es."




    "Bringst du mir einen ordentlichen Kaffee mit", fragte Albert nachdem wir lange Arm in Arm auf seinem schmalen Krankenhausbett gelegen hatten und über unsere gemeinsame Zukunft sprachen. "Die Schwestern geben mir hier immer nur so einen wässrigen Tee." Ich gab ihm einen dicken Kuss, bevor ich vom Bett hüpfte und runter in die Cafeteria fuhr. Er wollte mit mir zusammen ziehen, sobald er aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Mein Herz machte Luftsprünge. Ich hatte das wirklich nicht mehr für möglich gehalten. Nach diesem Unfall dachte ich, alles wäre vorbei und jetzt wendete sich alles zum Guten. Ich würde noch mit Dominik reden müssen, aber dieses letzte Hindernis erschien mir im Moment so winzig klein, dass es meine Freude nicht trüben konnte.




    "So da bin ich wieder", verkündete ich während ich die Tür zu Alberts Zimmer mit meinem Fuß aufstieß und mich bemühte, nichts von dem Kaffee zu verplempern. "Ich hab dir auch einen extra starken mit viel Koffein mitgebracht." Plötzlich bemerkte ich die Schwester, die sich aufgeregt an den Geräten an Alberts Bett zu schaffen machte. Dann drehte sie sich um und lief auf die Tür zu. "Julia, ruf sofort Dr. Mycin", rief sie ihrer Kollegin im Gang zu, ohne auch nur Notiz von mir zu nehmen. Da erst viel mein Blick auf Albert. Sein ganzer Körper zuckte unkontrolliert und seine Augen verdrehten sich.




    Dann wurde ich zur Seite gedrängt, als Dr. Mycin und eine weitere Schwester in das Zimmer gestürmt kamen. Die erste Schwester erklärte dem Arzt irgendetwas und der gab wiederum Anweisungen an die zweite Schwester. In meinem Kopf vermischten sich die Stimmen zu einem großen, undeutlichen Gewirr. "Albert?", flüsterte ich so heiser, dass man es kaum hören könnte. Und dann drang dieses furchtbare Geräusch an mein Ohr.




    Dieses Piepen des Herzmonitors, das immer lauter wurde und immer schneller aufeinander folgte. Der Kaffeebecher rutschte aus meiner Hand und der braune Inhalt verteilte sich auf den weißen Fliesen. "Nein! Nein!", wiederholte ich immer wieder und wich ängstlich zurück. Das könnte nicht wahr sein. Das musste ein schrecklicher Alptraum sein. Ein lang gezogener Piepton! Das Summen von sich aufladenden Kondensatoren drang an mein Ohr, dann das "Alle zurücktreten" aus Dr. Mycins Mund. Alberts Körper hob sich vom Bett. Immer noch dieses Piepen! "300 Volt!" Ein weiteres Aufzucken seines Körpers. Doch der Piepton blieb. Dieser furchtbare Piepton!


    Gedanken:

    Ich stand unter Schock. Was passierte da gerade? Ich war meinem Ziel so nah und plötzlich begann mir alles aus den Händen zu gleiten.
    Die letzten zwei Wochen hatte ich um Albert gebangt. Ich wusste nicht, ob er aufwachen würde, ob er überleben würde, ob wir beide jemals zusammen kommen würden. Und als er aufwachte schien alles o schön. Und mit einem Schlag stand meine Zukunft erneut auf der Kippe.



    Die letzten zwei Wochen hatte ich mich Alberts Kindern gewidmet und dabei festgestellt, dass ich die Mutterrolle für diese Kinder genoss. Wir könnten eine große glückliche Familie werden. Albert musste einfach nur bei mir bleiben. Er durfte mich nicht verlassen. Nicht jetzt!


    Er durfte seine Kinder nicht verlasse. Sie brauchten ihn doch! Wer sollte sich um Norman kümmern, wenn er nicht mehr da wäre? Gerda war gelähmt und Hans noch viel zu jung, um die Verantwortung für eine Farm zu übernehmen. Albert durfte nicht so selbstsüchtig sein und einfach sterben! Wer sollte für die Familie aufkommen? Mit den bisschen, was er und Gerda gesparten hatten, würden sie nicht weit kommen.


    Insbesondere, da das Internat, auf das die vier Kinder nun gehen sollten, Unsummen an Geld verschlang. Es war nur eine kurzfristige Maßnahme, aber selbst die würde ein tiefes Loch in die Familienkasse reißen. Das Bisschen, was Desdemona bei ihren Aushilfsjobs in den verschiedenen Sportclubs der Gegend verdient, war lediglich ein Tropfen Wasser auf dem heißen Stein und konnte höchstens dazu dienen, ihr Taschengeld aufzubessern.

    Auf meinem eigenen Konto sah es zwar etwas besser aus, aber auch ich konnte keine großen Sprünge machen. Schließlich hatte ich eine eigene Farm, die immer wieder Geld benötigte und eine Kind, das ich versorgen musste.


    Deshalb musste Albert das überstehen! Wenn er mich jetzt verließ, dann würde ich es ihm niemals verzeihen.


    Kapitel 67: Wieder nach Hause




    Noch am selben Tag rief ich im Internat von Seda Azul an, um die Aufnahme der Kinder zu ermöglichen. Der Direktor der Schule verstand die Notsituation und zog deshalb in Erwägung, die vier tatsächlich mitten im Schuljahr in seinem Internat aufzunehmen. Aber zunächst wollte er sich ein persönliches Bild machen. Also lud ich ihn zum Abendessen ein. Auf diese Weise konnte er Alberts vier Kinder am besten kennenlernen.




    Das Internat war eine private Einrichtung, die ihre Schüler sorgfältig auswählte. Es würde Albert und Gerda eine ganze Stange Geld kosten, die vier dort unterzubringen. Aus diesem Grund war es auch wichtig, einen besonders guten Eindruck bei Direktor Jacoby zu hinterlassen. Als Hauptgericht sollte es einen gefüllten Truthahn geben, denn ich dummerweise noch nicht ganz fertig zubereitet hatte, als Herr Jacoby klingelte. Und das Desdemona gerade ihre Ausdauer auf dem Wohnzimmersofa trainierte war auch nicht gerade förderlich.




    Das Essen wurde aber rechtzeitig fertig und in der Zwischenzeit zeigte die kleine Elvira dem Direktor ihre Ferkel. Dieser schien von dieser Rundführung über den Hof sichtlich erfreut zu sein. Beim Essen fragte er die Kinder dann zu ihren Noten aus, die glücklicherweise bei allen recht gut waren. Zumindest aus schulischer Sicht sprach nichts dagegen, die vier in seinem Internat aufzunehmen.




    Etwas entsetzt war ich dann aber über die Tischmanieren von Herrn Jacoby. Er schlang seinen Truthahn förmlich herunter, sodass Stücke des Essens wild in der Gegend herumflogen. Ich fühlte mich zwar geschmeichelt, dass mein Essen im so gut schmeckte, aber ich warf Hans und Desdemona trotzdem einen irritierten Blick zu, den die beiden nur Achselzuckend erwiderten.




    Nach dem Essen verzogen sich Kinga und Elvira gleich in ihr Bett. Die ständige Fahrt zum Krankenhaus nach Seda Azul machte Elvira immer so müde. Deshalb könnte ich dem Direktor das Zimmer der Mädchen nur mit einer kleinen Bewohnerin im Bett zeigen. Erstaunlicherweise zeigte der Direktor sich sichtlich beeindruckt. "Das Haus ist mit so viel Liebe eingerichtet", bemerkte er entzückt. "Alles ist zwar einfach, aber es wirkt so familiär und freundlich."




    Direktor Jacoby sprach nach der kleinen Führung durch das Anwesen der Kappes mit jedem der Kinder. Hauptsächlich ging es um ihre Hobbys und ihre außerschulischen Aktivitäten. Danach unterhielt er sich noch einmal mit mir und bat mich, die Situation der Kappes noch einmal etwas ausführlicher zu schildern. Am Telefon hatte ich mich eher knapp gehalten. Und am Ende des Abends konnte er mir dann verkünden, dass alle vier Kinder ab der nächsten Woche in seinem Internat zur Schule gehen konnten. Mir fiel wirklich ein Stein vom Herzen, als ich seine Entscheidung hörte.







    Nun war es also offiziell. Miranda, Hans, Desdemona und Elvira würden ins Internat gehen. Wieder hielt sich die Begeisterung stark in Grenzen. Aber ich konnte sie verstehen. Schule war mehr als nur ein Ort zum Lernen. Sie würden einen großen Teil ihrer Freunde verlieren. Aber das Internat schien wirklich die sinnvollste Lösung. Um die vier wieder aufzuheitern schlug ich vor, dass warme Wetter zu nutzen und ins Freibad zu gehen. Und tatsächlich lenkte sie dieser Besuch ein wenig ab.




    Überrascht war ich von Desdemonas Wasserscheu. Oder war es eher Angst vor dem Sprungbrett? Auf alle Fälle stieg sie auf das Ein-Meter-Brett. Ihr Annährungsversuch zum Rand des Brettes konnte im besten Fall als vorsichtig beschrieben werden. Doch dann drehte sie abrupt um und war froh, als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Nein, Turmspringen war eine Sportart, die sie ganz sicher nicht betreiben würde. Da blieb sie lieber dem Fußball treu.




    "Los Elli, klettere schneller raus", kreischte King aufgeregt und Elvira stieg wirklich so schnell wie möglich aus dem Wasser. "Der doofe Zeus hat gerade in das Wasser gepullert". Dabei zeigte sie auf einen kleinen rothaarigen Jungen, der einige Meter entfernt von ihnen schwamm. "Iiiii", schrie Elvira laut aus und kletterte noch schneller die Leiter hoch.




    Inwiefern diese Anschuldigung zutraf, konnte ich nicht beurteilen. Aber die Mädchen wollten kein Risiko mehr eingehen und setzten sich lieber auf die warmen Fliesen am Beckenrand und spielten Abklatschen. Miranda war der Trubel im Becken ohnehin zu viel und sie besetzte eine der vielen Poolliegen. Einen braunen Teint musste man sich schließlich erarbeiten. Von nichts kam auch nichts.







    Es war ein schöner gemeinsamer letzter Tag gewesen. Als ich wieder in Alberts Haus war und vom Bett aus, welches in den letzten zwei Wochen zu meinem Bett geworden war, das Fenster betrachtete, wurde es schwer um mein Herz. Doch bevor ich wieder in tiefe Traurigkeit fallen konnte kam Hans in mein Zimmer und legte sich zu mir aufs Bett. "Du wirst doch keinem davon erzählen, was du gesehen hast?" Ich schüttelte den Kopf. "Nein, das werde ich nicht, versprochen. Das ist eine Sache, die nur dich etwas angeht. Aber wenn du mit jemandem sprechen möchtest, du weißt, wo ich wohne." "Danke, Oxana", er lächelte mich freundlich an und verließ dann wieder das Schlafzimmer. Ich würde diese vier jungen Menschen wirklich vermissen.




    Am Nachmittag beobachtete ich dann eher zufällig, wie Hans sich mit Mika unterhielt. Ich wollte die beiden nicht bespitzeln, deshalb bekam ich nur einen kurzen Ausschnitt mit. Aber beide jungen Männer schienen ein schwieriges Gespräch zu führen. Mika sah immer noch nicht viel glücklicher aus als beim letzten Mal und Hans wirkte eher unbeholfen. Aber immerhin sprachen die beiden noch einmal miteinander, bevor Hans nach Seda Azul verschwand.




    Dann wurde es auch Zeit, sich von den Mädchen zu verabschieden. Ich wusste, Seda Azul war nur eine Autostunde entfernt, aber es würde nie wieder so zwischen uns werden, wie in diesen letzten zwei Wochen. Ich habe diese Kinder so sehr ins Herz geschlossen, wie ich es kaum für möglich gehalten hatte. Dann fiel mein Blick zu Kinga, die sich unbeholfen an der Spüle zu schaffen machte. Und mir wurde klar, dass ich in diesen zwei Wochen auch meiner Tochter ein ganzes Stück näher gekommen war.




    Und dann half ich ihnen beim packen. Viel würden sie nicht brauchen. Ein paar Kleider und einige persönliche Gegenstände. Der Aufenthalt im Internat sollte schließlich nur eine vorübergehende Maßnahme sein, bis es Albert und Gerda wieder besser ging. Trotzdem war es für Miranda ein seltsames Gefühl, all ihre Sachen in Kisten verschwinden zu sehen. Irgendwie fühlte es sich an, wie ein Abschied für immer.




    Und am späten Nachmittag erschien dann der internatseigene Bus, der die vier Kinder zum Schulgebäude in Seda Azul bringen sollte. Die älteren Geschwister verstauten ihre Koffer und Kisten im Gepäckraum des Busses. Dann verabschiedeten sie sich noch einmal herzlich von mir und stiegen anschließend in den Bus. Elvira war die letzte die einstieg. Und bevor sie es tat, warf sie sich mir um den Hals. "Ich werde dich ganz doll vermissen, Tante Oxana", flüsterte sie mir zu. "Aber ich bin auch ganz froh, endlich wieder bei Mama und Papa zu sein. Du kommst uns aber besuchen, oder?" "Natürlich komme ich", versprach ich ihr und dann stieg auch sie in den Bus und winkte mir so lange durch das Fenster zu, bis der Bus hinter der leichten Anhöhe verschwand.




    Das Haus wirkte seltsam leer ohne die vielen Kinder. Ich versicherte mich, dass alle Elektrogeräte und der Herd ausgeschaltet waren und rief dann Kinga. "Gehen wir jetzt wieder zu Papa?", fragte sie aufgeregt. "Und zu Constance? Und zu Onkel Tristan und Onkel Roland?" "Ja, wir gehen wieder nach Hause", erklärte ich ihr und es gelang mir nicht ganz meine Trauer zu überdecken. Doch sie hörte es nicht. "Das ist toll", jubelte King. Dann nahm ich sie an der Hand, führte sie aus dem Haus, schloss die Tür hinter mir ab und wir machten uns auf den Weg, zurück in die Simlane.

    Hallo Tracy,


    "Dad" und "Paps" sind zwei Unterschiedliche Männer. Die beiden sind schwul und somit beide Oxanas Väter. "Paps ist dabei ihr leiblicher Vater. Oxanas Mutter war eine Leihmutter und sie kennt sie daher nicht. Ich hoffe, ich konnte die Verwirrung etwas auflösen.
    Ich freue mich, dass du zu meiner Geschichte gefunden hast und warte schon auf die Kommentare zu den weiteren Kapiteln.

    Kapitel 66: Alles und Nichts




    Aber mit Hans würde ich mich später befassen müssen. Zu diesem Zeitpunkt hätte er ohnehin nicht mit mir geredet. Ich holte mein Auto von Zuhause ab und fuhr rüber nach Seda Azul. Ohne die Kinder. Auf diese Weise konnte ich ungestört mit Gerda reden. Wir hatten kein bestimmtes Thema im Kopf. Es ging einfach nur darum, sich zu unterhalten und über die Zukunft nachzudenken.




    In der Empfangshalle kam mir Dr. Neopold Mycin entgegen. "Guten Tag Frau Kappe", begrüßte er mich freundlich. "Sind die Kinder heute gar nicht dabei?" Ich bekam ein leicht schlechtes Gewissen, weil ich Dr. Mycin noch immer in dem Glauben ließ, ich sei Alberts Frau. "Ihr Mann ist leider noch immer nicht aufgewacht", berichtete er gleich weiter. "Aber machen sie sich keine Sorgen, es kommt manchmal vor, dass ein Patient etwas länger braucht, bis er sein Bewusstsein noch einer solchen Operation wiedererlangt. Haben sie noch etwas Geduld."




    "Danke, Herr Doktor", entgegnete ich freundlich. "Es beruhigt mich wirklich, das von ihnen zu hören. Allerdings muss ich da etwas klar stellen. Ich bin nicht Frau Kappe. Albert ist nicht mein Mann." Dr. Mycin guckte sehr verwundert, was mir ein lockeres Lachen entlockte. "Mein Name ist Oxana Brodlowska. Ich bin eine gute Freundin der Familie und passe lediglich auf die Kinder auf." Jetzt lachte auch Dr. Mycin über seinen Irrtum. "Sie waren immer so besorgt um Herrn Kappe und verhielten sich ihm gegenüber immer sehr zutraulich. Da habe ich einfach angenommen, sie seien seine Frau. Und ich bin mir fast sicher, eines der Kinder hätte sie "Mama" genannt." "Das war dann sicher die jüngste von den fünf, die kleine mit dem braunen Pferdeschwanz. Das ist meine einzige Tochter." Dr. Mycin schüttelte noch immer lachend den Kopf. "Und ich war mir so sicher. Und die Kinder sehen sich auch so ähnlich."




    Ich lachte zwar weiter, aber in Wahrheit bildete sich ein dicker Klos in meinem Hals. Deshalb war ich auch froh, als Dr. Mycin sich verabschiedete und ich in den Fahrstuhl steigen konnte. Also bildete ich mir Kingas Ähnlichkeit zu Alberts anderen Kindern nicht nur ein. Und Dr. Mycin hat die Kinder lediglich oberflächlich betrachtet. Wenn jemand genauer hinschaute, musste es offensichtlich sein. Mir wurde einmal mehr bewusst, dass ich nicht wollte, dass irgendjemand erfuhr, dass Kinga Alberts Tochter war. Das konnte ich Kinga nicht antun, denn sie liebte Dominik. Und Dominik liebte die Kleine. Und Gerda wollte ich diesen Schock erst recht nicht antun. Nicht in ihrem Zustand. Ich würde mir genau überlegen müssen, wie ich mich weiterhin verhielt.





    Aber auch das musste warten. Als ich in Gerdas Zimmer trat, lag sie nicht wie erwartet im Bett, sondern lächelte mich glücklich aus einem Rollstuhl an. "Schön, dass du gekommen bist Oxana." Obwohl ihr Gesicht immer noch schlimm zugerichtet war, strahlte sie förmlich und ihre Freude übertrug sich auch auf mich. "Endlich bin ich nicht mehr an das Bett gefesselt." Sie rollte vergnügt vor und zurück. Ich war erstaunt, wie fröhlich sie wirkte, allerdings beschlich mich der Gedanke, dass es mehr Show war, als wahre Freude. Wer war schon glücklich darüber, im Rollstuhl sitzen zu dürfen?




    "Lass uns in den Krankenhausgarten gehen", schlug Gerda vor, bevor eine unangenehme Pause aufkommen konnte, in der womöglich ihre wahren Gefühle zu Tage kämen. Ich tat ihr den Gefallen und schob ihren Rollstuhl zunächst in den Fahrstuhl und anschließend die kleine Rampe hinunter, die in die Parkanlage hinter der Klinik führte. "Es ist so schön, wieder die Sonne auf der Haut zu spüren", bemerkte Gerda und streckte ihr geschundenes Gesicht den warmen Sonnenstrahlen entgegen. Aber es war wirklich ein herrlicher Frühlingstag. Die Temperatur lag noch bei angenehmen 24 °C und vom Meer wehte ein frischer Wind und man konnte die Wellen selbst hier noch hören.




    Der plätschernde Brunnen hatte es Gerda besonders angetan und sie bat mich, sie direkt in seine Nähe zu schieben. Gerda erkundigte sich nach den Kindern und ich versicherte ihr, dass es allen vier gut ginge. Von Hans erzählte ich ihr zunächst nichts, zumindest nicht solange, wie ich nicht mit ihm gesprochen hatte. Doch dann musste ich mich einfach nach ihrem Wohlergehen erkundigen. "Sei ehrlich zu mir Gerda, wie fühlst du dich?"




    Sie senkte ihren Blick und die Traurigkeit spiegelte sich in ihrem Gesicht wieder. Da war sie also, die tief getroffene Gerda, die ich eigentlich erwartet hatte, als ich heute in das Krankenhaus kam. "Wie soll es mir schon gehen?", fragte sie leise und ein Hauch von Bitterkeit klang in ihrer Stimme mit. "Ich werde nie wieder laufen können. Und mein Mann liegt immer noch im Koma. Die Ärzte haben sein künstliches Koma schon vor zwei Tagen beendet und er ist immer noch nicht aufgewacht. Und daheim warten vier Kinder auf mich, 137 ha Land die bestellt werden müsse. Es geht mir nicht gut, Oxana. Am liebsten würde ich den ganzen Tag nur weinen. Aber das kann ich mir nicht erlauben. Ich muss nach vorne blicken und hoffen, dass sich alles wieder zum Guten wendet."




    Eigentlich war das genau die Antwort, die ich erwartet hatte. Aber erst als ich die Worte aus ihrem Mund hörte, wusste ich, dass Gerda tatsächlich nur Millimeter davon entfernt war, in ein tiefes Loch aus Wut, Trauer und Schmerz zu fallen. Sie brauchte jetzt jede Hilfe, die sie bekommen konnte. Sie brauchte meine Hilfe. Wenn ich noch die Hoffnung gehabt hatte, dass ich eine Zukunft mit Albert haben könnte, sobald er wieder aufwacht, so begrub ich sie spätestens jetzt. In meinem Leben hatte ich alles, bis auf den Mann an meiner Seite, den ich liebte. Das tat weh, aber ich würde es überstehen. Gerda dagegen war gerade im Begriff alles zu verlieren.




    Ich schob Gerda noch eine ganze Weile im Klinikpark herum. Schließlich führte ich sie zu einem Schachbrett und schlug vor, eine Runde zu spielen. Gerda stimmte zwar zu, mit ihren Gedanken war sie aber nicht beim Spiel. "Ich möchte, dass du meine Kinder auf dem Internat hier in Seda Azul anmeldest", platzte sie ohne Vorwarnung heraus. Über diese Möglichkeit hatten wir bis zu diesem Zeitpunkt noch nie gesprochen. "Sieh mich nicht so überrascht an, Oxana. Es wird noch Wochen oder Monate dauern, bis Albert oder ich wieder auf Norman leben können. Du kannst doch nicht so lange auf die vier Aufpassen. Du hast dein eigenes Leben. Ich denke, es ist das Beste, wenn sie aufs Internat gehen. Außerdem hätten wir die vier dann auch gleich in unserer Nähe."




    "Ich bin müde, Oxana", sagte Gerda, nachdem wir unsere Schachpartie beendet hatten und bat mich, sie zurück in ihr Zimmer zu bringen. Sie wollte ausgeruht sein, wenn die Kinder sie am Abend besuchten. Danach musste ich noch eine Sache tun. Ich musste mich von Albert verabschieden. Doch schon als ich ihn nur aus weiter Entfernung im Bett liegen sah, schwanden all meine guten Vorsätze. Ich wusste, wenn ich nur einen Schritt weiter ginge, dann würde ich meinen Entschluss, ihn gehen zu lassen, nicht aufrechterhalten können. Also blieb ich im Türrahmen stehen und hauchte ihm einen letzten sehnsüchtigen Handkuss zu.







    "Was ist eigentlich ein Intantat?", fragte Elvira ihre ältere Schwester. Die Kinder waren gestern noch im Krankenhaus gewesen und Gerda hatte sie davon unterrichtet, dass alle vier so schnell wie möglich in das Internat in Seda Azul sollten. Elvira hatte da schon nicht verstanden, was das eigentlich heißen sollte, sie wollte die Älteren aber nicht mit ihren blöden Fragen unterbrechen. "Internat! Das ist eine Schule, wo wir gleichzeitig auch wohnen würden", erklärte Desdemona. Elvira nickte zufrieden und aß weiter. Doch dann wurde ihr bewusst, was das heißen sollte. "Kann ich dann nicht mehr hier in Sierra Simlone Stadt zur Schule gehen?", fragte sie entsetzt und ihr kleines Gesicht wurde noch viel unglücklicher, als Desdemona betrübt nickte.




    Auch keiner der drei älteren Geschwister war begeistert davon gewesen, die Schule wechseln zu müssen. Und in ein Internat wollte die drei schon gar nicht. Dennoch hatten sie dem Vorschlag ohne zu klagen zugestimmt, denn im Grunde wussten sie, dass es ein vernünftiger Entschluss war. Ich konnte wirklich nicht für immer bei ihnen bleiben. Und dennoch, glücklich war niemand. Insbesondere Miranda fiel es schwer. So kurz vor dem Abitur die Schule zu wechseln, war nicht gerade das Optimale. Viel wichtiger war aber, dass ihr jetzt nicht einmal mehr die letzten wenigen Wochen mit Vladimir blieben.




    Hans ging mir derweil aus dem Weg. Ich konnte es irgendwo verstehen, trotzdem wollte ich mit ihm über das reden, was ich gestern gesehen hatte. Vorsichtig klopfte ich an seine Zimmertür und trat herein, als ich seine grummelnde Zustimmung dazu erhielt. Er sah nicht zu mir auf, sondern arbeitete weiter stur an seinen Schulaufgaben. Ich wusste nicht genau, wie ich beginnen sollte, als stürmte ich gleich mit der Tür ins Haus. "Wenn du für Mika mehr empfindest, als bloße Freundschaft, dann ist das nichts Schlimmes. Es ist in Ordnung, wenn ein Junge einen anderen Jungen liebt. Niemand wird dich dafür verurteilen."




    Hans Reaktion war nicht die, die ich erwartet hatte. Wütend sprang er von seinem Stuhl auf und schrie mich an. "Ich bin nicht schwul! Und es ist überhaupt nicht in Ordnung, wenn ein Mann einen anderen Mann liebt. Das ist eklig und nicht normal. Und so bin ich nicht. Mama und Papa würden mich hassen. Und auch die Kirche sagt, dass es falsch ist. Glaubst du, dass ich in die Hölle kommen möchte? Ich bin nicht schwul!" Dann setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch und schrieb wütend in sein Heft. Als dann auch noch sein Kugelschreiber aufhörte zu schreiben, schmiss er ihn voller Zorn gegen die Wand. So einfach würde ich nicht an Hans herankommen.




    Ich ließ ihn allein. Alles andere hätte jetzt ohnehin keinen Sinn gemacht. "Glaubst du, dass ich in die Hölle kommen will?" Diese Worte hallten immer wieder in meinem Kopf, als ich einen Blick auf das große Kreuz an der Wand warf. Leider vergaß ich nur allzu schnell, dass die Kirche eine sehr uneinsichtige Haltung zur Homosexualität hatte. Und Gerdas christliche Erziehung hatte bei den Kindern sicher ihre Spuren hinterlassen. Auch ich glaubte an die Kirche und an ihren Grundsatz der Nächstenliebe. Deshalb verstand ich ihre Haltung gegenüber zwei Menschen, die sich über alles liebten, aber zufällig dasselbe Geschlecht hatten, nicht. In diesem Punkt musste die Kirche sich irren. Gott würde einen Menschen nicht dafür bestrafen, dass er einen anderen Menschen liebte. Davon war ich überzeugt.




    Jetzt musste ich nur noch Hans davon überzeugen. Also ging ich rüber in die Simlane und kramte in einem alten Fotoalbum. Und ein Bild meiner Familie fiel mir dabei in die Hände. Es war ein altes Bild. Ein Bild aus glücklichen Tagen. Paps und Dad wirkten so verliebt darauf. Leider hatte das Bild auch einen üblen Nachgeschmack für mich, weil ich wusste, dass Dad Paps zu diesem Zeitpunkt bereits betrog. Aber Hans würde das nicht wissen. Er würde zwei glückliche Männer sehen. Ich nahm das Bild aus dem Fotoalbum und ging zurück zu Alberts Haus. Dann ging ich in Hans Zimmer und legte das Foto auf seinen Schreibtisch. "Das sind meine Eltern", erklärte ich. "Zwei Männer, die sich liebten. Und Paps", ich zeigte mit dem Finger auf den braunhaarigen Mann, "war der religiöseste Mensch, denn ich kannte. Ich habe keinen Zweifel daran, dass er jetzt bei Gott im Himmel ist."




    Er schaute sich das Foto lange an. Dann stand er auf und starte aus dem Fenster. "Du hattest wirklich zwei Väter?", fragte er ungläubig. "Ja", antwortete ich glücklich darüber, dass er sich endlich auf ein Gespräch mit mir einließ. "Ich wurde von zwei Männern großgezogen und du kannst mir glauben, in der Beziehung meiner Eltern gab es Höhen und Tiefen, wie in jeder anderen Beziehung auch. Klar ist es nicht der Normalfall, wenn zwei Männer sich lieben. Aber wenn sie es tun, dann ist diese Liebe nicht weniger wert, als eine Liebe zwischen einem Mann und einer Frau." Hans sagte nichts dazu. Ich wusste, dass es noch lange dauern würde, bis er zu seinen Gefühlen stehen konnte. Solche Dinge brauchten einfach Zeit.

    Hallo Alyson! Danke für dein Lob. Es freut mich sehr, dass du dich einfach mal zu Wort gemeldet hast. Updates gibt es immer am Ende der Woche, also schau dann einfach wieder vorbei. LG

    Kapitel 65: Kein Glück zu zweit




    Da es ihrer Mutter wirklich von Tag zu Tag besser ging, kehrten auch die vier Kinder zu ihrem normalen Tagesrhythmus zurück. Ich half Hans bei der Arbeit auf der Farm, Kinga und Elvira spielten miteinander und Miranda verbrachte viel Zeit mit Lernen, da für sie das Abitur kurz bevorstand.
    Desdemona hingegen trainierte ständig in ihrer Freizeit. Mir war nie bewusst gewesen, wie sehr sie sich für Sport interessierte. Sie kam meistens erst später von der Schule, da sie nachmittags noch zum Fußball-Training musste. Und wenn sie dann doch zuhause war, dann machte sie erst ihre Hausaufgaben und ging, sobald die Sonne etwas tiefer stand, hinaus ins Freie um noch etwas für ihre Kondition zu tun.




    Ich hatte mich oft gefragt, für wenn diese Fitness-Sendungen im Fernsehen liefen. Ich hatte noch die das Bedürfnis verspürt, lustig vor dem Empfangsgerät auf und ab zu hüpfen. Doch Desdemona sah das anders und trainierte oft bis spät in den Abend. Ihr Ziel war es nun einmal, eine großartige Sportlerin zu werden. Und dafür tat sie alles, was nötig war. Und es konnte auch nicht schaden, sich früh in den Sportklubs der Stadt umzusehen. Auch wenn sie noch zu jung war, um aktiv in die Profi-Mannschaften aufgenommen zu werden, so konnte sie sich wenigstens durch ihre Hilfsarbeit in das Gedächtnis der Trainer brennen.




    Hans beeindruckte mich mit dem Eifer, den er bei der Farmarbeit an den Tag legte. Solange wie ich hier war, hatte er sich noch nie beschwert, dass er morgens früh raus musste, um sich um die Schweine zu kümmern, noch bevor er zur Schule ging. Und wenn er dann von der Schule kam, dann stand oft noch Arbeit auf dem Feld an, bevor wir Abends dann gemeinsam nach Seda Azul fuhren, um Gerda und Albert im Krankenhaus zu besuchen.




    Ansonsten verbrachte er viel Zeit mit seinem Schulfreund Mika. Die beiden trafen sich entweder bei Hans zuhause oder sie gingen rüber zu der Farm von Mikas Eltern, die etwas weiter außerhalb lag. "Wir brauchen mal Ruhe von den blöden Hühnern hier", erklärte er dann immer und zeigte dabei auf seine beiden jüngeren Schwestern Desdemona und Elvira. Bei Miranda hätte er sich so ein Verhalten nie erlaubt. Sie war immerhin die älteste im Haus und hatte ihren Geschwistern auch früh klar gemacht, wer das Sagen im Hause Kappe hatte.




    Miranda lernte viel, zumindest tat sie es meistens. Aber irgendwann hat man genug vom Lernen. Und da kam es ihr ganz recht, dass ein netter junger Mann sie ab und an abends abholte und mit ihr etwas unternahm. In den ersten Tagen, die ich in Alberts Haus verbrachte, war mir nicht aufgefallen, dass Miranda mit jemandem zusammen war. Aber als wir von Gerdas Besserung erfuhren, ist sie Händchen halten mit Vladimir aus dem Bus gestiegen. Und da man bei drei Geschwistern, einem fünfjährigen Kind und einer Anstandsdame im Haus nie seine Ruhe haben konnte, verzogen die beiden sich lieber in die Anonymität des Clubs im Stadtkern. Beide waren über 18 und außerdem sah ich nichts Schlimmes daran, wenn sie mal wieder etwas Spaß hatte.




    Aber was sollte den auch schon passieren? Die beiden waren schließlich in der Öffentlichkeit. Außerdem vertraute ich darauf, dass Gerdas religiöse Erziehung ihre Spuren bei den Kindern hinterlassen hatte. Sicherlich würde Miranda mit ihrem Freund nur etwas Pool spielen. Vielleicht auch ein oder zwei Cocktails schlürfen und sich dann ordentlich auf der Tanzfläche austoben. Nichts anderes hatte ich gemacht, als ich in ihrem Alter war. Ach, was waren das doch für Zeiten, als ich unbeschwert mit Roland und Tristan die Clubs der Gegend unsicher machte.




    Ganz sicher würde sie nicht in aller Öffentlichkeit über ihren Freund herfallen und wild mit ihm rumknutschen. Und ganz sicher würde sie nicht noch weiter gehen. Nein, ich hatte keine Bedenken, Miranda abends mal ausgehen zu lassen.




    Verliebt schlenderte sie Hand in Hand mit Vladimir zurück zum Haus ihrer Eltern. Und obwohl es spät war, könnten sich die beiden kaum voneinander lösen. Ein flüchtiger Beobachter hätte fast meinen können, irgendein Scherzkeks hätte Mirandas Lippenpflegestift gegen einen Klebestift ausgetauscht und die beiden könnten ihre Lippen deshalb nicht mehr voneinander lösen.




    Schließlich gelang es ihnen doch. Und obwohl Vladimir diesen gelungenen Abend keineswegs zerstören wollte, schnitt er doch ein Thema an, dass ihm schon länger auf der Seele brannte. "Hast du dich endlich entschieden, auf welche Uni du nach dem Abi gehen möchtest, Mira?" Mirandas Gesicht wurde urplötzlich ernst und Vladimir erging es nicht viel anders. Die beiden hatten dieses Thema lange gemieden, aber irgendwann mussten sie darüber sprechen. "Ich kann jetzt nicht weg, Dimi. Ich kann meine Eltern jetzt nicht alleine lassen."




    "Ich werde mich in der Fiesta Tech einschreiben. Die Uni ist mit dem Auto gerade mal 45 Minuten von Sierra Simlone Stadt entfernt. Ich weiß, es ist keine tolle Uni. Nicht so wie die staatliche Universität von SimCity oder die Akademie Le Tour in Nantesim, aber es ist eine gute Uni. Ich kann so zu Hause wohnen bleiben und Mama und Papa helfen, sobald sie aus dem Krankenhaus entlassen werden. Und ich kann weiterhin ein wachsames Auge auf Mona, Vira und auch auf Hans haben, auch wenn er ganz sicher abstreiten würde, dass er das nötig hat. Und hey, wenigstens haben wir hier in der Sierra Simlone immer bombiges Wetter. Glaubst du etwa, ich will das aufgeben?" Sie lachte, doch ihr Lachen klang eher gequält als ausgelassen. Beide wussten, dass sie lieber auf eine andere Uni gegangen wäre. Am liebsten zusammen mit ihrem Dimi.




    Und dasselbe wollte Vladimir. "Komm mit mir nach Flamingo Beach, Mira." Er nahm ihre Hände und sah sie mit solch einem sehnsüchtigen Blick an, dass sie nicht in der Lage war, seine Bitte abzuschlagen. Zusagen konnte sie aber auch nicht, also schwieg sie. Doch Vladimir gab noch nicht auf. "Ich habe heute die Zusage von der Barbra-Streisand-Universität bekommen. Die wollen mich dort wirklich haben. Barbra-Streisand! Kannst du dir das vorstellen. Es gibt in der ganzen SimNation keine bessere Uni, wenn man Schauspiel studieren möchte. Aber ohne dich würde mir etwas fehlen. und ich weiß nicht, ob ich das aushalten könnte." Miranda hätte ihm nur zu gerne zugestimmt, doch sie konnte es nicht. Nicht nach dem schrecklichen Unfall ihrer Eltern. "Du wirst es aber müssen, Dimi. Ich kann hier nicht weg. Und wenn meine Mutter erführe, dass ich nach Flamingo Beach will, dann würde sie glatt einen Herzinfarkt bekommen. Für sie ist dieser Ort der Sündenphul schlechthin."




    Beide lachten, doch wieder war es ein aufgesetztes Lachen. Was würde passieren, wenn Miranda in der Sierra Simlone bliebe und Vladimir hunderte Kilometer entfernt an der Westküste studieren würde? Natürlich hoffte sie, dass ihre Liebe das überstehen würde, aber die letzten Tage hatten ihr nur zu deutlich gezeigt, wie schnell sich das Leben wandeln konnte. "Lass uns einfach nicht weiter darüber nachdenken und die Zeit genießen, die wir noch haben", sagte sie besonnen, drückte sich dabei aber so fast an ihren Freund, als ob er jede Sekunde verschwinden könnte.







    Es schien so, als ob jeder Liebe Steine in den Weg gelegt wurden. Konnten denn zwei Menschen nicht zusammenfinden und für immer glücklich miteinander sein? Am nächsten Morgen ging ich aus dem Haus, noch eh die Kinder zur Schule fuhren. Die frische Morgenluft tat mir immer gut. Ich nährte mich Alberts Farm über die Feldwege hinter dem Haus und kam auch an dem Schweinestall vorbei. Und plötzlich entdeckte ich etwas Ungewöhnliches. Da stand doch tatsächlich eine einzelne rote Rose. Sie wirkte vor dem schäbigen Verschlag reichlich deplatziert und mir fiel nur ein Mensch ein, der solch ein Geschenk an solch einem seltsamen Ort hinterlassen würde. "Wieder Lust auf einen Long Island Icetea? Ich kühle ihn schon für dich. Dominik", las ich die beigelegte Karte. Das war so typisch für ihn.




    Ich verdrehte genervt die Augen und hob die Rose auf. Erwartete er darauf wirklich eine Reaktion? Sollte ich jetzt etwa rüber in die Simlane laufen, mich erneut betrinken und dann mit ihm in die Kiste hüpfen? "Nur in diesem Zustand findet er einen Zugang zu dir", erklang eine tadelnde Stimme in meinem Kopf und plötzlich bekam ich ein schlechtes Gewissen. Die meiste Zeit war ich wirklich sehr abweisend zu Dominik. Und wenn ich mit ihm schlief, dann hielt sich meine Begeisterung eher in Grenzen. Anders war es nur, wenn ich nicht in der Lage war, klar zu denken. Sei es nun, weil ich zu viel getrunken hatte, oder weil ich psychisch wieder einmal ein Wrack war. Das musste für Dominik wirklich frustrierend sein. Aber er war nun mal nicht Albert. Und an meinen Gefühlen konnte ich nichts ändern.




    Ich stellte die Rose im Wohnbereich ab und begann das Haus etwas aufzuräumen. Es ist unglaublich, welches Chaos fünf junge Menschen anrichten konnten. Ich öffnete nichtsahnend die Tür zu Hans Zimmer, als ich plötzlich einen Anblick zu sehen bekam, der eher nicht für meine Augen bestimmt war. Hans stand halb nackt im Raum und knutschte wild mit seinem besten Freund Mika herum, der ebenso wenig anhatte wie Hans. Da ich die Tür nicht gerade leise geöffnet hatte, starrten beide Jungs erschrocken in meine Richtung und plötzlich stieß Hans Mika hastig von sich weg.




    Ich lief sofort rot an und zog die Tür hastig hinter mir zu. Peinlich, peinlich! Aber wer konnte auch schon ahnen, dass Hans gerade mit seinem Freund rummachte, wenn er eigentlich in der Schule sein sollte? Plötzlich flog die Tür wieder auf und Hans kam herausgelaufen. "Es ist nicht so, wie es gerade aussah!", stammelte er erschrocken.




    Für mich sah das eigentlich sehr eindeutig aus, aber Hans versuchte mich trotzdem vom Gegenteil zu überzeugen. "Ich bin nicht schwul!", rief er panisch. "Das war alles Mikas Schuld. Er hat mich total überrumpelt! Ich wollte das gar nicht. Ich bin keine Schwuchtel!" Dazu fiel mir nichts ein. Ich hatte zwar nur einen winzigen Moment beobachtet, es sah für mich aber keineswegs so aus, als ob Hans zu irgendetwas gezwungen worden wäre. Mikas Blick verfinsterte sich sichtbar bei Hans Worten. Seine Stahl-blauen Augen zeigten erst Unglauben und dann eine tiefe Kränkung. Und während Hans weiterhin versuchte mir klar zu machen, das er ganz sicher nicht schwul sei, schnappte Mika sich seine Klamotten und verschwand wütend und verletzt aus dem Haus.




    Als er die Haustür hinter sich zuknallte, bemerkte auch Hans, dass Mika verschwunden war. Und scheinbar wurde ihm in diesem Moment auch bewusst, was er eigentlich gesagt hatte. Aber statt Mika hinterherzulaufen und sich zu entschuldigen, rannte er zurück in sein Zimmer und schloss sich darin ein. Völlig fertig von dieser unerwarteten Aufregung ließ ich mich auf das Sofa fallen. Wie ich es gesagt hatte; scheinbar war es wirklich unmöglich, dass zwei Menschen glücklich miteinander wurden.

    Kapitel 64: Wunderbare Nachricht




    Kurz darauf rief Roland mit einer wunderbaren Nachricht an. Gerda war aufgewacht!
    Ich ließ Miranda fahren. Nach den Drinks die ich intus hatte, wollte ich lieber nicht selbst am Steuer sitzen. Noch ein Unfall war das Letzte, was wir gebrauchen konnten. Die Kinder Stürmten sofort zum Zimmer ihrer Mutter, allen voran Elvira. Sie hat den Ernst der Lage vielleicht nie begriffen, ihre Mama hatte sie trotzdem vermisst. Als Gerda ihre Rasselbande auf sich zustürmen sah, zeichnete sich ein zartes Lächeln auf ihrem müden Gesicht ab.




    "Mama, wie geht es dir?". "Wir haben dich ja so schrecklich vermisst." "Tut dir irgendetwas weh?" Die vier Kinder redeten alle durcheinander, so dass man kaum etwas verstehen konnte. Aber Gerda genoss den Trubel sichtlich. Sie war sogar so sehr gerührt, dass eine dicke Träne die Wangen herunter kullerte. Sie war selbst kaum in der Lage irgendetwas zu sagen, aber sie lauschte glücklich den Erzählungen ihrer vier Kinder. Ich hielt mich derweil im Hintergrund. Bei so einem intimen Moment wollte ich nicht stören.




    Die Kinder blieben Stunden bei ihrer Mutter und inzwischen war auch schon die Sonne im Meer versunken. "Wollt ihr nicht langsam etwas essen, Kinder?", fragte Gerda mit heiserer Stimme und da erst bemerkten die Vier, dass sie seit heute Mittag noch nichts gegessen hatten. Ich wollte auch gehen, doch Gerda winkte mich zu sich herüber. "Ich bin dir so dankbar, dass du auf meine Kinder Acht gibst, Oxana. Du bist eine wahre Freundin." Ich lächelte dankbar, doch innerlich starb ich vor Scham. Ob Gerda mich noch immer als ihre Freundin bezeichnen würde, wenn sie von mir und Albert wüsste? Ich bezweifelte es.




    Doch dann wurde auch ihr Gesicht ernster. "Was ist mit meinen Beinen, Oxana?" Ich blickte erschrocken auf und das verriet Gerda, dass ich irgendetwas wusste. "Ich kann sie nicht spüren, Oxana. Es ist so, als ob sie gar nicht da wären. Ich habe den Arzt gefragt, doch er wollte mir nichts sagen. Ich bin gelähmt, nicht wahr?" Ich überlegte, was ich ihr antworten sollte, aber schließlich entschied ich mich, ihr alles zu sagen, was ich wusste. Früher oder später würde sie es ohnehin erfahren.




    Als Gerda meine Bestätigung hörte, starte sie nur wortlos die Krankenhausdecke an. Es erstaunte mich, wie gefasst sie wirkte, fast so, als ob sie ihr schweres Los bereits akzeptieren hätte. Und trotzdem versuchte ich sie aufzumuntern. "Roland war sich bei seiner Diagnose nicht vollkommen sicher, Gerda. Die Ärzte müssen dich noch weiter untersuchen. Vielleicht können sie ja noch irgendetwas für dich tun. Die Medizin kann heute wahre Wunder vollbringen." Ich wusste selbst, dass meine Worte hohl klangen, aber es tat mir weh mit anzusehen, wie sie sich einfach ihrem Schicksal fügte, ohne auch nur das geringste Anzeichen einer Hoffnung zu zeigen.




    Ich versprach Gerda, weiterhin auf die Kinder aufzupassen, bis sie und Albert es wieder selbst machen konnten. Als die vier Kinder dann auch wieder in das Krankenzimmer zurückkehrten, verzog ich mich diskret. Ich setzte mich in den Flur und beobachtete Kinga, die von einer der Krankenschwestern ein Spielzeug zum Seifenblasen machen geschenkt bekommen hatte und sich damit vergnügte. Doch dann wuchs der Wunsch in mir, Albert zu sehen.




    Seit dem Tag der Not-OP hatte ich ihn nicht mehr gesehen. In den letzten Tagen durfte niemand zu ihm und ich rechnete auch heute damit. Doch die Schwester ließ mich einfach in das Krankenzimmer. Es war ganz still im Raum. Nur das gleichmäßige Geräusch der lebenserhaltenden Maschinen war zu hören. Nach der OP musste Albert in ein künstliches Koma versetzt werden und dieses wurde immer noch aufrechterhalten. Als ich ihn so vor mir liegen sah, spürte ich all die Liebe, die ich für ihn empfand und das Einzige, was ich mir wünschte war, dass er bald wieder aufwachen würde. "Ihr Mann wird bald wieder gesund werden, Frau Kappe." Erschrocken drehte ich mich um. Ich hatte nicht bemerkt, dass Dr. Neopold Mycin in das Zimmer gekommen war. "In drei oder vier Tagen können wir das künstliche Koma aufheben und dann sollte ihr Mann wieder zu sich kommen. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Er wird bald wieder bei ihnen und ihren fünf Kindern sein können."




    Frau Kappe! Diese Worte klangen wundervoll in meinen Ohren und ich hoffte, dass sie bald Wirklichkeit werden würden. Dr. Mycin hatte mich hier fast jeden Tag mit den Kindern gesehen und ich habe mich immer wieder besorgt nach Albert erkundigt. Es wunderte mich nicht, dass er mich für seine Frau hielt. Ich beugte mich zu Albert hinab und küsste ihn vorsichtig auf die Lippen und strich ihm sanft über das Haar. "Werde schnell wieder wach, Liebling", flüsterte ich ihm zu. "Ohne dich fühlt mein Leben sich so leer an."







    Mit dem Erwachen ihrer Mutter, veränderten sich Alberts Kinder sichtlich. Es schien, als ob eine schwere Last von ihren Herzen gefallen wäre. Endlich schien es Hoffnung zu geben. Gerda war immer noch schwach, aber sie schien mit jeder Stunde kräftiger zu werden. Und die Ärzte bescheinigten, dass sie Alberts künstliches Koma bald aufheben konnten und er wieder zu sich kommen würde. Und deshalb hörte man wieder Kinderlachen auf Norman. Und dass ich ständig Federn aufsammeln musste, war ein Übel, das ich gerne in Kauf nahm.




    Kinga und Elvira verbrachten noch immer ihre komplette Zeit miteinander. Und je öfter ich die beiden beobachtete, desto mehr wurde mir bewusst, wie ähnlich sich die beiden eigentlich waren. Und dabei ging es nicht nur um ihren Charakter, der sich ebenfalls stark glich. Nein, mir wurde schlagartig bewusst, dass die beiden sich auch äußerlich erschreckend ähnelten. Wäre Elvira brünett oder King blond, dann hätte niemand nur den geringsten Zweifel gehegt, dass die beiden Schwestern waren.




    Als mir dies Bewusst wurde, stieg die Angst in mir auf. Was wenn bereits jeder sehen konnte, dass Kinga und Elvira sich erstaunlich ähnlich sahen? Ich hoffte zwar inständig, dass ich mir die Ähnlichkeit nur einredete, aber ganz von der Hand konnte ich sie nicht weisen.




    In der Badewanne wollte ich mich eigentlich entspannen, doch es trat genau das Gegenteil ein. Dank des warmen Wassers und des angenehm duftenden Badeöls entspannte mein müder Körper sich tatsächlich, aber gleichzeitig wurden auch meine Gedanken so klar, dass Probleme sichtbar wurden, von denen ich noch nichts geahnt hatte. Würde Albert Gerda jetzt noch verlassen? In ihrem Zustand? Sie war gelähmt und würde nie wieder laufen können. Durfte ich überhaupt zulassen, dass er seine Ehefrau in solch einer Situation alleine ließ? Alles Christliche in mir schrie "Nein" und mein Herz war nicht imstande gegen dieses Geschrei anzukommen, so sehr es sich auch bemühte.




    Ich würde keine gemeinsame Zukunft mit Albert haben, das wurde mir in diesem Moment bewusst. Er würde Gerda nicht verlassen können. Er durfte es nicht einmal. Nicht wegen mir! Bei seinem Ehegelübde hatte er einen Schwur abgelegt, für sie da zu sein, in guten und vor allem in schweren Zeiten. Und genau solche schweren Zeiten standen den beiden nun bevor. Ich könnte keinen Mann lieben, der seine Frau in solch einer Situation im Stich ließ. Dieser Erkenntnis tat weh. Sie tat furchtbar weh. Aber eine andere Möglichkeit blieb mir nicht. Mit einer anderen Entscheidung hätte ich nicht leben können.




    Ich wollte stark sein. Ich wollte an meine Entscheidung glauben und sie voller Würde hinnehmen. Aber als ich den Stopfen in der Badewanne zog und das abfließende Wasser beobachtete, war es so, als ob mein letzter Rest Stärke mit in die Dunkelheit der Kanalisation gerissen würde. Und ich brach in Tränen aus, unfähig, sie wieder zu stoppen, weil ich nicht wusste, ob ich jemals stark genug sein würde, mit meiner Entscheidung zu leben.




    Ich schreckte auf, als ich das Bad verließ und Hans am Esstisch saß und gerade einen Hamburger aß. Ich hatte geglaubt, dass bis auf die Kleinen niemand im Haus sei, aber da hatte ich mich wohl geirrt. Ich wischte noch schnell die letzten Tränen aus meinen Augenwinkeln, holte mir ebenfalls einen Burger und setzte mich zu Hans an den Tisch. Doch mehr als einen lustlosen Bissen brachte ich nicht hinunter. "Ist alles in Ordnung bei dir, Oxana", fragte Hans schließlich vorsichtig. "Ich habe dich eben im Badezimmer gehört und du…du hast geweint." Ihm war es sichtlich unangenehm, mich darauf anzusprechen. Ich wollte seine Besorgnis schnell wegwischen und ihm erzählen, dass alles in bester Ordnung wäre und er sich nur verhört hätte. Doch ich brachte kein Wort heraus. Stattdessen hob ich hilflos meine Hände und wieder füllten sich meine Augen mit Tränen.




    "Es ist in Ordnung, wenn du weinst, Oxana. Du warst die ganzen letzten Tage für uns da und das war sicher nicht leicht für dich. Mama ist deine beste Freundin. Da ist es doch klar, dass du dir Sorgen um sie machst. In den letzten Tagen waren wir nur mit unseren eigenen Ängsten beschäftigt und haben gar nicht bemerkt, dass auch du Angst hattest. Aber jetzt wird alles wieder gut. Gott muss auf Mama und Papa aufgepasst haben, als sie die Klippe herunter gestürzt sind und es trotzdem überlebten. Und er wird auch weiterhin auf die beiden aufpassen. Und Mira, Mona, Elli und ich können wieder selbst auf uns Acht geben. Wir möchten zwar weiterhin, dass du bei uns bleibst, aber du musst uns nicht jede Last abnehmen."




    Seine Worte waren tröstlich für mich. Zwar ahnte Hans nicht im Geringsten, weswegen ich eigentlich geweint hatte, aber durch seine Worte wurde mir etwas bewusst: Gerda war meine beste Freundin. Und egal was ich für ihren Mann auch empfand, jetzt musste ich für sie da sein. Sie brauchte meine Hilfe, um wieder auf die Beine zu kommen. Auf dieses Ziel musste ich mich jetzt konzentrieren.

    Kapitel 63: Das Schwiegermonster




    Hans wirkte sichtlich erleichtert, als er mit seiner Arbeit fortfuhr. Ich machte mich auf zu einem langen Spaziergang durch die Kakteenwälder rund um Sierra Simlone Stadt. Die Bewegung tat mir gut, doch auf dem Weg zurück zu Alberts Haus kam ich ins Grübeln. Ich hatte Hans gerade die Hilfe von mir und Dominik angeboten. Aber würde es ein mich und Dominik noch geben? Vorgestern noch war ich kurz davor, Dominik zu verlassen. Doch jetzt war alles in so weite Ferne gerückt. Albert war schwer verletzt. Und auch wenn ich fest daran glaubte, oder es zumindest aus tiefstem Herzen hoffte, dass er bald wieder gesund werden würde, so war es nicht mehr sicher, ob wir beide eine gemeinsame Zukunft haben würden.




    Ich war so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht mitbekam, dass jemand in der Küche stand. "Hallo, Oxana. Es ist schon seltsam, dass ich dich erst in einem fremden Haushalt und nicht zuhause bei deinem Mann finde." Vor mir stand Dominiks Mutter Glinda und den Vorwurf in ihrer Stimme konnte ich kaum überhören. "Ich konnte es kaum glauben, als Dominik mir erzählte, dass du schon seit zwei Tagen im Haus der Kappes wohnst. Und meine Enkelin hast du auch noch mitgenommen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich fast denken, du hättest meinen Nicky verlassen."




    Sie sah mich so vorwurfsvoll an, dass sie mich damit komplett aus der Fassung brachte und ich nur noch wirres Zeug von mir geben konnte. Aber das war typisch für Glinda. Sie hatte mich zwar noch nie direkt angegriffen, aber wenn Dominik nicht in der Nähe war, dann steckte in jedem Satz der aus ihrem Mund kam ein versteckter Angriff. Ich war nicht gut genug für ihren Sohn und das gab sie mir jetzt auch schon seit sechs Jahren zu verstehen.




    Die Kinder waren inzwischen alle aus der Schule wieder zurück. Ein paar Schulfreunde waren gleich mit ausgestiegen und deren Gesellschaft tat Miranda, Hans und Desdemona richtig gut. Für einen Moment konnten sie vergessen, welches tragische Schicksal ihren Eltern widerfahren war. Auch Kingas Onkel Kevin war da. Er war Dominiks jüngster Bruder und gerade einmal drei Jahre älter als Kinga. Kinga möchte ihn eigentlich sehr gerne und die beiden spielten oft zusammen mit Constanze und Dominiks kleiner Schwester Kira drüben in der Simlane. Doch mit Elvira im Puppenhaus zu spielen war einfach noch spannender und dazu hatte der blonde Junge nun wirklich keine Lust.




    Viel Gelegenheit dazu blieb ihm ohnehin nicht. Glinda warf mir noch einige Male unterschwellig vor, dass ich Dominik vernachlässigen würde und meine Entschuldigung, dass ich die Kinder von Albert und Gerda in dieser Situation nicht alleine lassen könne, schmetterte sie mit den Worten "Wozu haben mir den das Amt für Jugend und Familie" ab. Damit war für sie alles geklärt. Sie ging in das Kinderzimmer, verabschiedete sich von ihrer Enkelin und nahm dann ihren jüngsten Sohn mit, der doch viel lieber noch bei den anderen Kindern geblieben wäre.







    Doch für mich war dieser Besuch zu viel gewesen. All die Jahre hatte ich Glindas Sticheleien über mich ergehen lassen, weil sie ja eigentlich Recht hatte. Ich war nicht gut genug für Dominik, denn ich liebte ihn nicht. Nicht so, wie er mich liebte. Aber ich fühlte mich deswegen schon schlecht genug, auch ohne dass sie mir deswegen immer wieder Vorwürfe machte. Als Albert mir in dem Motel in Ganado Alegro verkündete, dass er Gerda für mich verlassen würde, war ich so glücklich gewesen, denn endlich hätte meine Heuchelei Dominik gegenüber aufgehört und ich wäre mit Albert glücklich geworden. Und jetzt war alles nur noch furchtbar.




    Und ich schaffte es nicht mehr, dieser düsteren Stimmung zu entkommen. In jedem Augenblick, in dem ich nicht beschäftigt war, überwältigte mich meine Angst um Albert, mein schlechtes Gewissen Dominik gegenüber und die Ungewissheit über meine Zukunft. Nachts konnte ich kaum schlafen und am Tag musste ich mich zusammenreisen, um vor den Kindern nicht in Tränen auszubrechen. Das letzte, was sie gebrauchen konnten, war eine Aufsicht, die selber nicht mehr weiter wusste.




    Und gerade in einem meiner schwachen Momente bemerkte ich Dominik im Schatten der großen Weide vor dem Haus der Kappes. Verwundert ging ich hinaus und versuchte mir die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. "Du siehst aber ganz schön beschissen aus, Brodlowska", bemerkte er spöttisch. Diese Bemerkung brachte ihm einen sanften Hieb gegen seine Schulter ein, aber immerhin brachte er mich damit zum Lachen. "Ist irgendetwas passiert?", hakte er nun viel einfühlsamer nach. "Geht es Albert und Gerda, der alten Schabracke, etwa schlechter?" Ich wischte meine Nase an meinem Arm ab, da ich einfach kein Taschentuch griffbereit hatte und erklärte ihm dann, dass der Zustand der beiden nun schon seit Tagen unverändert blieb.




    "Du musst hier unbedingt mal raus, Brodlowska. Komm lass uns mal wieder ausgehen", schlug er deshalb vor. "Ein nettes Essen im Restaurant und dann sehen wir mal weiter. Alberts vier Blagen werden auch mal ein paar Stunden ohne dich auskommen. Und im Notfall ist unsere Kinga ja auch noch da. Die wird denen schon zeigen, wo es lang geht." Er wartete meine Antwort gar nicht erst ab, sondern schnappte sich meine Hand und führte mich zu dem ruhigen, vornehmen Lokal im Stadtkern von Sierra Simlone Stadt.




    Die Empfangsdame führte uns zu einem netten Tisch im klimatisierten Inneren des Restaurants. Die Plätze auf der Terrasse waren zwar auch sehr schön, aber selbst im Schatten des Baldachins wurde es draußen wieder unmenschlich heiß. Dabei hatten wir gerade erst Frühling. Der Sommer würde bestimmt wieder unerträglich werden. Eine Kellnerin brauchte uns die Speisekarte und nahm wenig später unsere Bestellung entgegen.




    "Danke, dass du vorbeigekommen bist, Dominik", erklärte ich aufrichtig, nachdem wir einige Minuten schweigend unser Essen genossen hatten. "Mutter war gestern bei mir und erzählte, dass sie bei dir war. Als ich das hörte, wusste ich sofort, dass du eine Aufmunterung gebrauchen kannst. Ma ist ein wenig überfürsorglich, wenn es um das Wohl ihres "Nicky" geht." Dominik lachte. "Aber egal, was sie auch gesagt hat, nimm es dir nicht zu sehr zu Herzen. Ich habe ihr gleich erklärt, dass Gerda deine beste Freundin ist und du ihre Kinder einfach nicht im Stich lassen kannst. Ein anderes Verhalten von dir hätte mich ehrlich gesagt auch fast enttäuscht."




    "Und was Gerda angeht, da mach dir bloß keinen Kopf. Die ist zäh wie ein Stück Leder und wird uns noch alle überleben. Du wirst es sehen." Er grinste über das ganze Gesicht. "Und Albert muss ohnehin der widerstandsfähigste Mann sein, den ich kenne. Mal von Gerda abgesehen, die vier Blagen müssen ihn doch den letzten Nerv kosten. Du bist gerade einmal ein paar Tage dort und deine Augenringe sind jetzt schon so dick wie die Schamlippen einer Elefantenkuh. Und er muss das Ganze schon seit fast 20 Jahren ertragen. Da wird ihm ein kleines Hirn-Aneurysma auch nichts anhaben können."




    Er fragte mich intensiv darüber aus, was Kinga den ganzen Tag so machte. Er telefonierte zwar regelmäßig mit seiner kleinen Prinzessin, aber gesehen hatte er sie die letzten Tage kaum. Solange ich bei Alberts Kindern war, musste er meine Arbeit auf unserer Farm mit übernehmen. Nach dem Essen gingen wir noch hinüber in den Pink Lips Club zum Billard spielen. Seit unserer ersten Verabredung war Billard eine der Aktivitäten, die ich wirklich gerne mit Dominik unternahm, doch heute konnte ich keinen Spaß an dem Spiel finden. Dabei bemühte Dominik sich wirklich sehr um mich, aber eben auf seine eher schroffe Art.




    "Es hilft wohl alles nichts", schüttelte er den Kopf, als meine Laune sich noch immer nicht besserte. Also schnappte er mich erneut an der Hand und schleifte mich hoch zur Bar. "Mix uns mal etwas Nettes zusammen, Barkeeper. Und für die Dame hier, sollte es etwas besonders starkes werden." Meine Proteste, dass ich im Moment lieber nichts trinken sollte, wischte er mit einer Handbewegung beiseite und prompt standen zwei Long Island Icetea auf der Theke.




    Es blieb nicht bei diesem einen Long Island. Und Dominik behielt Recht, denn bereits nach kurzer Zeit vergaß ich meine Ängste und Sorgen und konnte unbeschwert mit ihm lachen und Spaß haben. Doch Long Island Iceteas führen bei mir leider viel zu oft zu vollkommen unbedachten Handlungen. Denn als Dominik mich wieder am Haus der Kappes absetzte, schnappte diesmal ich seine Hand und führte ihn in das Schlafzimmer. Er genoss es sichtlich. Dieser Hauch vom Verbotenen, mit mir im Bett eines anderen Ehepaares zu schlafen machte ihn ganz wild. Und ich genoss jede Sekunde davon, denn in diesem Augenblick fühlte ich mich in seinen Armen so geborgen wie selten zuvor.




    Eng aneinander geschmiegt lagen wir noch eine Weile im Bett, wobei ich aufgrund des Schlafmangels und sicherlich auch wegen des Alkohols schnell einschlief. Ich bekam es kaum mit, als Dominik aufstand und sich mit einem Kuss auf meine Stirn von mir verabschiedete. "Ich gehe lieber, bevor die Kinder aus der Schule kommen. Ich hoffe, du kommst bald wieder nach Hause, Brodlowska." Ich murmelte etwas Unverständliches und schlief einfach weiter. Dominik zog sich wieder an und kehrte gut gelaunt in die Simlane zurück.

    Kapitel 62: Schlaflose Nächte




    Die Kinder merkten sofort, dass etwas nicht stimmte, als ich Gerdas Krankenzimmer betrat. Ihr Zustand war immer noch unverändert, aber die Nachricht von Alberts plötzlicher Not-OP traf sie schwer. Die Operation zog sich hin und es wurde Mittag, ohne dass wir irgendeine Information erhielten. Wir gingen alle in die Krankenhaus Cafeteria, aber wirklichen Hunger hatte niemand. Alle kauten eher lustlos auf ihren Burgern. Ansonsten wurde geschwiegen. Selbst Hans konnte seine Besorgnis nicht mehr mit seichtem Smalltalk überdecken.




    Das Essen war nur eine kurze Ablenkung und dann hieß es weiter bangen. Die älteren Mädchen unterhielten sich gedämpft miteinander und sahen immer wieder nach ihrer Mutter, die immer noch regungslos in ihrem Bett lag. Hans wanderte nervös von einem Ende des Krankenhauses zum nächsten und wirkte sehr gedankenverloren. Nur Elvira entspannte sich. Das war aber nicht zuletzt Kingas Werk, die ihre Freundin aufheiterte und sie mit Spielen von den Gedanken an ihre Eltern ablenkte.




    Dann endlich kam Roland mit einem älteren Arzt aus dem OP, den er als Dr. Mycin vorstellte. "Dr. Neopold Mycin ist der beste Hirnchirurg in der ganzen Sierra Simlone", erklärte er mir stolz. "Er war es, der Albert gerade operiert hat." Dr. Mycin reichte mir die Hand und begann dann sofort von der Operation zu berichten. "Herr Kappe hatte ein Hirn-Aneurysma, das zu einem pulsierenden Hämatom im Gehirn geführt hat. Doch dank der schnellen Reaktion von Dr. Reichardt konnten wir alle Schäden wieder beheben. Die Operation ist sehr gut verlaufen und Herr Kappe sollte sich schnell wieder erholen."




    Kaum war der andere Arzt verschwunden, fiel ich Roland überglücklich um den Hals. "Und ich dachte schon, dass Albert sterben würde", gestand ich ihm schluchzend, diesmal aber vor Freude. Und auch die Kinder atmeten erleichtert auf. Miranda war sogar so glücklich, dass sie sich Elvira schnappte und ein Tänzchen mit ihr aufführte und die Kleine freute sich riesig. Nur Desdemona schien nicht ganz so glücklich. Wahrscheinlich musste sie selbst in diesem herrlichen Moment an ihre arme Mutter denken, deren Zustand immer noch ungewiss blieb.







    Doch die Hochstimmung verflog sehr schnell wieder, als uns bewusst wurde, dass weder Albert und schon gar nicht Gerda über dem Berg waren. Wir durften nur ganz kurz zu Albert, doch er war nach seiner Operation immer noch nicht bei Bewusstsein. Und auch Gerdas Zustand blieb unverändert schlecht. Wir blieben bis zum späten Abend im Krankenhaus, bis Roland uns versicherte, dass wir ruhigen Gewissens nach Hause fahren könnten. Sollte sich irgendetwas am Zustand von Albert und Gerda ändern, würde er sofort bescheid geben. Ich kochte noch ein Abendessen für die Kinder und hatte eigentlich vor, danach nach Hause in die Simlane zu gehen, da ja jetzt geklärt war, was mit Albert und Gerda passiert war. Aber es kam anders. Desdemona warf beim Essen ihrer Schwester einen fragenden Blick zu und als diese kaum merklich nickte, fragte sie mich, ob ich noch etwas bei ihnen bleiben könnte? Wie hätte ich eine solche Bitte abschlagen sollen?




    Nach dem Essen saßen wir noch gemeinsam vor dem Fernseher, aber wirkliches Interesse an der Sendung zeigten höchstens Kinga und Elvira. Hans war der Erste, der in seinem Zimmer verschwand. Als Kinga und Elvira dann beide auf dem Teppich einnickten, machten sich auch Desdemona und Miranda fürs Bett fertig. Die beiden Kleinen ins Bett zu bekommen war nicht schwer, da sie von der langen Fahr von Seda Azul nach Sierra Simlone Stadt ohnehin total ausgelaugt waren. Auch Miranda war erschöpft, doch das lag nicht an der anstrengenden Autofahrt, sondern viel mehr an den vielen Sorgen, die sie plagten. Sie wollte optimistisch sein, doch die Angst um ihre Eltern ließ sie einfach nicht los.




    Und Desdemona erging es da nicht anders. Sie verkroch sich unter ihre Bettdecke und versuchte stark zu sein, doch ein leises Wimmern verriet Miranda, dass sie es nicht schaffte. Miranda hätte ihre jüngere Schwester gerne getröstet, doch sie wusste einfach nicht wie. Sie brauchte gerade doch selber Trost. Als vertiefte sie sich in ihre eigenen Sorgen, bis sie schließlich erschöpft einschlief.




    Ich versuchte zu schlafen, doch es gelang mir nicht. Ich musste immer wieder an Albert denken. Er musste einfach gesund werden. Er musste! Ich setzte mich auf die Bettkante und schaute mich in dem kleinen Schlafzimmer um. Alles hier erinnerte mich an ihn. Ich könnte sogar seinen Duft in dem Kopfkissen riechen. Wieso musste so etwas Schreckliches passieren? Warum könnte ich nicht einfach mit dem Mann glücklich werden, den ich liebte?







    Und wieder eine unruhige Nacht in der ich kaum ein Auge zu bekam. Ich stand auf, als die ersten Sonnenstrahlen durch das Schlafzimmerfenster fielen. Es war zwar erst kurz nach fünf, aber ich konnte ohnehin nicht schlafen. Ich fing an, das Frühstück vorzubereiten, als wenig später auch die älteren Kappekinder in der Wohnküche auftauchten. "Wir können ohnehin nicht schlafen", erklärte Miranda mit trauriger Miene. "Wenn ihr nicht wollt, dann müsst ihr heute nicht zur Schule gehen", bot ich ihnen an, als mir klar wurde, dass in etwa zwei Stunden der Schulbus kommen würde. Doch Desdemona schlug mein Angebot aus. "Ich möchte lieber hingehen, Oxana. Wenn wir hier weiter auf Neuigkeiten warten müssen, dann fällt mir nur die Decke auf den Kopf. Und gerade Elvira wird es ablenken, wenn sie ihre Freunde sieht."




    Miranda stimmt ihrer Schwester zu und packte schon mal ihre Schulsachen zusammen. Nur Hans wollte heute zuhause bleiben. Gleich als der Zeitungsbote die Tageszeitung auslieferte lief er hinaus, um nachzusehen, ob irgendetwas über den Unfall seiner Eltern berichtet wurde. Die Schlagzeile nahm natürlich der Casino-Großbrand in SimVegas ein, aber im Lokalteil fand sich tatsächlich ein kurzer Artikel über Albert und Gerda. "Die schreiben über Mama und Papa, als ob die beiden bloß zwei weitere Zahlen in der Statistik wären", bemerkte er bitter. "Nicht einmal ihre Namen haben sie genannt." Daraufhin faltete er die Zeitung zusammen und entsorgte sie umgehend im Müll.




    Als dann der Schulbus kam, stiegen nur die vier Mädchen ein. Kinga würde zwar erst in diesem Jahr in die erste Klasse kommen, aber wie alle Kinder in der SimNation ging sie schon zur Vorschule. Ich konnte sehen, wie Miranda und Desdemona mit gemischten Gefühlen in den Bus stiegen. Und ich konnte es ihnen nachfühlen. Sie hielten es nicht aus, tatenlos zu Hause zu bleiben, aber für die Schule waren sie auch nicht in der richtigen Verfassung.




    Obwohl er nicht zur Schule gegangen war, hielt Hans es im Haus nicht aus. Irgendetwas musste er tun, also ging er zum Schweinestall hinter dem Haus und fing an, den Mist, den die Ferkel im Freigehege hinterlassen haben, zu entfernen.




    "Soll ich dir bei irgendetwas helfen?“, fragte ich ihn nachdem ich ihm eine Weile bei der Arbeit zugesehen hatte. Erst verneinte er mein Angebot, doch dann legte er die Mistgabel beiseite und sah mich leicht verzweifelt an. "Wie soll es denn jetzt mit der Farm weitergehen? Mama und Papa haben bis jetzt alles geregelt. Ich habe zwar immer mitgeholfen, aber ich weiß nicht, worum ich mich alles kümmern muss. Ich kann die Schweine hier weiter füttern und mästen und auch das Futter kriege ich bestellt, aber wie finde ich einen Käufer? Und was ist, wenn die Ferkel krank werden? Die Saat auf unseren Feldern ist auch ausgebracht, aber ich habe keine Ahnung, ob und wann ich düngen muss und wann die Pestizide gespritzt werden müssen? Um so etwas hat Papa sich immer gekümmert."




    Er muss sich darüber Gedanken gemacht haben, seit er von dem Unfall seiner Eltern erfahren hatte. Und ich konnte sein Verzweiflung nachvollziehen. So ähnlich hatte ich mich gefühlt, als ich erfuhr, dass ich plötzlich selbst eine Farm führen musste. Aber ich hatte gelernt und inzwischen konnte ich mir ein Leben ohne "Grünspan" nicht mehr vorstellen. Die Farm war mir wirklich ans Herz gewachsen. "Mach dir nicht zu viele Gedanken, Hans. Deine Eltern werden sicherlich bald wieder aus dem Krankenhaus kommen. Und wenn Albert erst einmal wieder aufgewacht ist, wird er dir schon sagen können, was auf eurer Farm zu erledigen ist. Und ich bin auch noch hier. Schweine und Rinder sind sich gar nicht so unähnlich und zumindest was euren Mais angeht, kann ich dir alles Nötige erklären. Und wenn es nötig sein sollte, dann helfen Dominik und ich auch jederzeit mit."

    Kapitel 61: Dr. Reichardt




    Irgendwann muss ich doch eingeschlafen sein, denn das Klingeln des Telefons riss mich aus einem unruhigen Traum. Ich war von einer Sekunde auf die andere hellwach und eilte zum Telefon. Gerade als ich den Hörer abnahm, stürmten auch Alberts drei ältere Kinder herbei und sahen mich aus besorgt neugierigen Augen an. "Hier bei Kappe", meldete ich mich vorsichtig und war nicht wenig überrascht, als Roland sich meldete. "Oxana, Gerda und Albert wurden bei mir ins Krankenhaus eingeliefert, komm sofort mit den Kappe Kindern her."




    Der Weg nach Seda Azul zog sich endlos hin. Die Geschwindigkeitsbegrenzungen waren mir in diesem Moment egal. Ich wollte nur so schnell wie möglich ins Krankenhaus um zu erfahren, was mit Albert passiert war. Auch die Kinder waren furchtbar aufgeregt und nun konnten wir auch Elvira nicht mehr verheimlichen, dass mit ihren Eltern etwas nicht stimmte. "Wo finde ich Albert und Gerda Kappe", überfiel ich die Schwester im Empfang, die sichtlich verunsichert guckte, als sie den Haufen verängstigter Kinder bemerkte.




    Sie wollte gerade Antworten, als das "Pling" des Fahrstuhls erklang und Roland den Lift verließ. Ich vergaß die Schwester und rannte sofort auf ihn zu. "Roland, was ist passiert", redete ich wild drauf los. "Wie geht es Albert? Geht es ihm gut? Was ist mit Gerda?"




    Rolands Gesicht wirkte besorgt. "Sie wurden heute Morgen im Rio Seco gefunden. Scheinbar hat Albert die Kontrolle über das Fahrzeug verloren und sie sind fast dreißig Meter in die Schlucht gestürzt". Als Miranda das hörte, schrie sie entsetzt auf und wendete sich weinend von uns ab. Die restlichen Kinder und ich starten Roland nur schockiert an. "Wie geht es ihnen", fragte Desdemona, voller Angst vor der Antwort.




    "Albert ist stabil", erklärte Roland was mich hörbar aufatmen ließ. "Er ist zwar stark unterkühl, schließlich haben die beiden fast zwei Tage im Wasser gelegen. Er verliert immer wieder das Bewusstsein, aber ich denke, dass er bald wieder zu sich kommen wird." Dann wurde Rolands Stimme aber deutlich ernster und Desdemona und die kleine Elvira lauschten voller Angst seinen weiteren Worten. "Gerdas Zustand ist kritisch. Sie hatte starke innere Blutungen und wir mussten ihre Milz entfernen. Sie hat nicht einmal ihr Bewusstsein wiedererlangt, seitdem sie gefunden wurde. Wir haben alles getan, was in unserer Macht stand und können jetzt nur hoffen, dass sie einen starken Willen hat."




    Hans drehte sich gedankenverloren weg und erlaubte es niemandem, seine wahren Gefühle zu ergründen. Ich konnte nur erahnen, was er in diesem Moment fühlte. Elvira hatte noch nicht gelernt ihre Gefühle zu unterdrücken und fiel ihrer älteren Schwester weinend um den Hals. "Ich will zu meiner Mama!", weinte sie bitterlich und Desdemona konnte sie nur fest an sich drücken und ebenfalls ihren Tränen an Elviras Schulter freien Lauf lassen. "Können die Kinder zu ihrer Mutter?", hakte ich bei Roland nach und er nickte voller Mitgefühl.







    Der Anblick ihrer Mutter traf die Kinder hart. Insbesondere die beiden Jüngsten begannen entsetzlich zu weinen, als sie ihre Mutter mit all den Schrammen und Narben im Gesicht sahen. Gerda lag regungslos in ihrem Bett und nur ein sehr flaches Atmen verriet, dass sie noch unter den Lebenden weilte. Aber ihr Leben hing an einem seidenen Faden, zumindest war dies mein erster Gedanke, als ich ihr blasses Gesicht sah. "Wach bitte auf, Mami, bitte!", flehte Elvira ihre Mutter an und hätte sich fast auf Gerda gestürzt, wenn Hans sie nicht zurückgehalten hätte. "Mama braucht jetzt ruhe, Küken", sagte er in seinem mildesten Tonfall, aber mit deutlichem Zittern in der Stimme. Und Elvira begriff, dass sie jetzt besser auf ihren Bruder hören sollte.







    Ich zog mich mit Roland in eine Ecke des Zimmers zurück, um in Ruhe mit ihm reden zu können. "Sag mir die Wahrheit, Roland. Wird Gerda es schaffe?" Rolands zögern war mir Antwort genug. "Hätte man sie sofort gefunden, dann hätte ich viel mehr für sie tun können. Sie hat so viel Blut verloren. Und da ist auch noch…" Roland zögert. "Sag es mir, Roland, bitte. Sie ist doch meine beste Freundin!", flehte ich ihn an und das überzeugte Roland scheinbar. "Selbst wenn Gerda wieder aufwacht, wird sie nie wieder laufen können. Ihr Rückenmark wurde zu stark beschädigt."




    Ich hätte losheulen können. Warum musste dieser schrecklich Unfall bloß passieren? Das hatten die Kinder nicht verdient und auch Gerda nicht. Sie war immer so nett zu mir gewesen seit ich nach Sierra Simlone Stadt gezogen war und jetzt würde sie ihr Leben lang gelähmt bleiben. "Kann ich zu Albert?", bat ich Roland. Er nickte und führte mich aus Gerdas Krankenzimmer. Die Kinder blieben bei ihrer Mutter.




    Wir waren fast an Alberts Zimmer angekommen, als plötzlich eine Schwester aus der Tür gestürmt kam. "Dr. Reichardt, kommen sie schnell. Der Patient ist soeben kollabiert." "Warte hier Oxana", wies er mich an und rannte in das Zimmer, in dem mein geliebter Albert lag.




    Ich stand da und wusste nicht, was im Inneren des Zimmers vor sich ging. Ich hörte nur immer wieder Roland etwas brüllen, aber ich konnte nichts Genaues verstehen. Ich hatte Angst um Albert, so furchtbare Angst. Ich liebte ihn doch so sehr und der Gedanke ihn zu verlieren war unerträglich. Wir hatten doch gerade erst zueinander gefunden und jetzt sollte alles wieder vorbei sein? In meiner Verzweiflung brach ich in Tränen aus. Ich hatte nicht mehr die Kraft, länger stark zu bleiben.




    Plötzlich stand Kinga neben mir. "Mami, warum weinst du denn?", fragte sie in ihrer kindlichen Art. Bei ihrem Anblick fing ich nur noch heftiger an zu schluchzen und drückte sie fest an mich. "Es wir alles gut werden, Mami. Tante Gerda und Onkel Albert werden ganz sicher wieder gesund." Onkel Albert? Diese Worte aus ihrem Mund führten zu einem weiteren Heulkrampf. "Soll ich Papa anrufen?", fragte Kinga weiter und die Sorge in ihrer Stimme rührte mich auf unbekannte Weise. Wenn ich ihr doch nur alles erzählen könnte! Wenn ich ihr bloß sagen könnte, dass ihr Papa gerade hier im Krankenhaus lag und mit dem Tod rang! Wenn ich diese ständige Lügerei endlich beenden könnte!




    Plötzlich wurde die Tür des Zimmers aufgestoßen und das Krankenbett, mit Albert darauf, von der Schwester heraus geschoben. Roland folge ihre hastig und beide nahmen keine Notiz von mir. Albert lag regungslos auf der Liege. Es sah beinah so aus als ob..."Was ist mit ihm", schrei ich panisch und lief Roland und der Schwester hinterher. "Wahrscheinlich ein Hirn- Aneurysma", erklärte Roland kurz angebunden und damit beschäftigt, Albert zu versorgen. "Wir müssen sofort operieren."




    Ich sah nur noch, wie Albert in den Operationssaal geschoben wurde. Niemand erklärte mir etwas. Ich wusste nicht, was vor sich ging. Ein Hirn-Aneurysma? Was sollte das sein? Was bedeutete es für Albert? Er durfte nicht sterben. Er durfte einfach nicht! Ich liebte ihn doch so sehr.

    Kapitel 60: Rettung




    "Angel, verdammt, du hast gerade meinen letzten Donut aufgegessen." "Konzentrier dich lieber aufs fahren, Ramoz. Außerdem siehst du schon selber wie ein Donut aus. Was sagt den deine Juanita dazu?" " Halt lieber deine Klappe Junge und halt Ausschau nach diesem vermissten Auto. Deswegen sind wir schließlich hier." "Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass das vermisste Paar die alte Piste hier genommen hat. Die sind bestimmt über die neue Schnellstraße nach SimVegas gefahren. Wir verschwenden hier bloß unsere Zeit."




    "Moment mal, siehst du die Reifenspuren dort drüben, Angel?" "Verdammt, halt mal an, Ramoz. Die Spuren führen direkt auf die Schlucht zu." Das Polizeiauto hatte noch nicht vollständig gestoppt, als der jüngere der beiden Polizisten bereits die Tür aufriss und hinaus sprang. Er hatte sich zwar immer mehr Aufregung in seinem Beruf gewünscht, doch jetzt erschreckte ihn der Gedanke, dass es so weit sein könnte.




    Er lief auf die Klippe zu und sah sofort den stark beschädigten hellblauen Pickup, der etwa 30 Meter tiefer im seicht dahin fließenden Rio Seco lag. Er erkannte ihn sofort als den vermissten Wagen, nach dem er mit seinem Partner Ausschau halten sollte. "Ramoz, ruf sofort einen Bergungsteam und vordere einen Hubschrauber an", rief er seinem Kollegen zu und suchte sofort einen Weg herunter zu dem Wrack.




    Doch die Schlucht war einfach zu steil. Ohne entsprechende Ausrüstung konnte er den Pickup einfach nicht erreichen. Und Ramoz hatte auch keine guten Nachrichten. "Die können uns keinen Hubschrauber schicken. In SimVegas gibt es einen Casino-Großbrand und die brauchen dort jeden Mann. Wir müssen auf den Rettungswagen warten." Die beiden Polizisten mussten hilflos warten und das angeforderte Rettungsteam erreichte sie erst nach endlosen 45 Minuten. Doch dann ging alles relativ schnell.




    Die beiden Rettungssanitäter waren für genau solche Notfälle ausgebildet und ausgerüstete. Innerhalb weniger Minuten hatten sie sich zum Grund der Schlucht abgeseilt und auch dem jüngeren Polizisten heruntergeholfen, denn wahrscheinlich würden sie jede helfende Hand brauchen. Die junge Sanitäterin sicherte sich eilig am Ufer des Rio Seco und stieg in das warme, trübe Wasser.




    Ein Blick durch das Fenster zeigte ihr sofort das Ausmaß dieses Unfalls. Der Pickup war ein Totalschaden und im Inneren war überall Blut. So viel Blut. "Da sind zwei Menschen drin. Eine Frau und ein Mann. Beide um die 40. Wir müssen die beiden sofort da heraus holen!", schrie sie ihrem Kollegen zu und versuchte mit aller Kraft die eingedrückte Tür des Wagens zu öffnen.




    Ihr Zerren an der Autotür brachte nichts, aber mit dem entsprechenden Werkzeug schafften die drei es, die beiden verletzten aus dem Auto zu holen. Beide lebten, waren aber nicht bei Bewusstsein. Sie mussten so schnell wie möglich in ein Krankenhaus, aber ohne Helikopter würde es schwer sein, die beiden überhaupt aus der Schlucht zu bekommen. Jede Minute die sie hier unten vertrödelten, konnte die letzte für diese beiden Unfallopfer bedeuten.




    Irgendwie schafften sie es, die beiden Verletzten nach oben zur Straße zu transportieren. Doch der Weg zum Krankenhaus war noch weit. Am nächste war die Klinik in Seda Azul, aber auch sie lag etwa eine Stunde entfernt. Die Klinikleitung in Seda Azul wurde umgehend informiert und machte sich auf die Ankunft der beiden Unfallopfer bereit und als schließlich der Krankenwagen mit Blaulicht in die Einfahrt der Notaufnahme raste, eilte sofort eine Arzt und ein Schwester herbei.




    "Oh mein Gott", entfuhr es Roland, als er erkannte, wer da gerade in sein Krankenhaus eingeliefert wurde. "Beide sind stark unterkühlt", informierte ihn die Sanitäterin. "Der Puls ist sehr schwach. Der Mann hat auf der Fahr immer wieder das Bewusstsein erlangt. Die Frau reagiert nicht." Roland betrachtete einen Moment lang Gerdas entstelltes Gesicht. Es fiel ihm immer schwer, wenn der Patient kein namensloses Wesen blieb, sonder jemand war, den er wirklich kannte. Dann begann er umgehend mit der Untersuchung. "Schwester Julia, bereiten sie sofort OP 3 vor", wies er die Krankenschwester an, die mit ihm in die Notaufnahme geeilt war. "Der Bauch der Patientin ist ganz hart. Verdacht auf innere Blutungen. Wir müssen sofort operieren!"




    Dann lief er zu der zweiten Trage. Gerade in diesem Moment öffnete Albert erneut seine Augen und schaute Roland verwirrt an. "Albert, scheu mich an, Albert!", forderte Roland ihn auf und leuchtete mit einer kleinen Leuchte in sein Auge. Doch kurz darauf verlor Albert erneut das Bewusstsein. Ansonsten schien er stabil zu sein. Sein Puls war gleichmäßig und bis auf ein paar oberflächliche Platzwunden konnte Roland nichts entdecken. "Der Mann kommt umgehend auf die Intensivstation", wies er dennoch die Schwester an. "Und bereiten sie ihn für das Röntgen und den CT vor."

    Kapitel 59: Vorahnung




    Ich war mit der Situation überfordert. Die Kinder zu trösten oder ihnen die Sorge um ihre Eltern abzunehmen schien mir unmöglich. Und da war auch meine eigene tiefe Sorge um Albert. Was konnte bloß passiert sein? Hans verzog sich stumm vor den Fernseher und ich konnte nur erahnen, was in diesem Moment in seinem Kopf vor sich ging. Die einzige Unterstützung die ich den Kindern geben konnte war, sie in dieser Zeit der Ungewissheit nicht allein zu lassen und mich zumindest um ihr leibliches Wohl zu kümmern.




    Beim Abendessen herrschte eine betroffene Stimmung. Desdemona sprach kein Wort und rührte auch ihren Toast nicht an. Ebenso erging es Miranda, die den Eindruck machte, als ob sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen würde. Alberts Kinder taten mir so schrecklich leid. Lediglich Hans unterhielt sich in gedämpften Tonfall mit mir. Es ging um nichts wichtiges, nur um die Arbeit, die auf Norman, Alberts Farm, noch anstanden und um die er sich in der Abwesenheit seiner Eltern kümmern sollte. Es war immerhin eine kleine Ablenkung, für ihn und für mich.




    Dann kam auch schon Elvira ins Haus gehüpft. "Hallo, Tante Oxana", begrüßte sie mich freundlich und kletterte gleich auf den freien Stuhl an meiner Seite und biss von ihrem Brot ab. Am Tisch wurde es ganz still und das entging Elvira keinesfalls. Sie ist mit drei Geschwistern aufgewachsen und ein Essen ohne ein lautes Durcheinander war etwas, dass sie einfach nicht kannte. "Was ist denn los?", fragte sie deshalb vorsichtig. "Ihr seid alle so leise. Hab ich etwa irgendetwas ausgefressen?" Desdemona sah mit weit aufgerissenen Augen an und auch Hans und Miranda schauten unsicher zu mir herüber. Aber wie sollte ich Elvira die Situation erklären?




    Am besten gar nicht, entschied ich mich. Wir wussten doch selber nicht genau, was mit Albert und Gerda passiert war, und es machte doch keinen Sinn die Kleine zu verunsichern. Ich konnte mich noch genau daran erinnern, wie Dad meinen Paps, meine Schwester und mich verlassen hatte, als ich gerade sieben war. Dieses Gefühl war einfach nur schrecklich, insbesondere, da es mich damals so unvorbereitet getroffen hatte. Das wollte ich Elvira ersparen solange ich es konnte. "Wir haben nur ein Überraschung für dich und sind deshalb so still", flunkerte ich. Elviras Augen begannen erwartungsvoll zu leuchten, während Alberts drei andere Kinder mich neugierig musterten. "Ich werde für ein paar Tage bei Euch bleiben und Kinga kommt auch mit. Dann könnt ihr beide den ganzen Tag zusammen spielen."




    "Kinga kommt wirklich hierher!", kreischte Elvira und sprang von ihrem Stuhl. "Dann können wir ja ganz viele Sachen zusammen machen. Oh, dass wir so toll. Dürfen wir auch lange aufbleiben, Tante Oxana? Und dürfen wir uns Popcorn machen? Dürfen wir, dürfen wir?" Die Kleine freute sich wirklich riesig und mir fiel ein Felsbrocken vom Herzen. Und auch Hans zufriedener Gesichtsausdruck zeigte mir, dass er mit meiner Idee einverstanden war. Und Elviras fröhliche Art ließ uns zumindest für eine Weile unsere Sorgen vergessen.







    Ich rief auch gleich bei Dominik an und bat ihn, Kinga zu den Kappes zu bringen. "Ich erkläre dir alles, wenn du hier bist", versicherte ich ihm und eine viertel Stunde später standen meine Tochter und Dominik vor Alberts Haus. Elvira kam laut schreiend auf Kinga zugelaufen, als sie sie erblickte und die beiden Mädchen schlossen sich überschwänglich in die Arme. Dabei störte es King auch nicht im Geringsten, dass Elvira noch den Ferkeln im Schweinestall Gute Nacht sagen musste und auch dementsprechend roch, weil jedes Ferkelchen eine liebevolle Umarmung von der Jungbäuerin brauchte.




    "Und jetzt sag schon, Brodlowska, was ist hier eigentlich los?", verlangte Dominik eine Erklärung. "Du hast dich heute Morgen...seltsam verhalten, wenn ich das so ausdrücken darf. Und dann bist du so überstürzt zu den Kappes gefahren. Und jetzt soll ich auch noch Kinga hierher bringen. Ich will ein paar Antworten". Und die gab ich ihm, zumindest auf einige seiner Fragen. Ich erzählte ihm, dass Albert und Gerda verschwunden waren und dass ich die Kinder nicht alleine lassen konnte. Auch wenn Miranda auf dem Papier schon erwachsen war, so war sie in dieser Situation genauso sehr ein Kind wie ihre übrigen Geschwister.




    "Ich mache mir furchtbare Sorgen um Albert...und Gerda", fügte ich hastig hinzu und hoffte, dass Dominik meinen Versprecher nicht bemerkt hatte. "Was, wenn den beiden wirklich etwas passiert ist?" "Mach dir keine Sorgen über deine Freundin, Brodlowska", tröstete er mich und schloss mich in seine starken Arme ein. "Gerda geht es sicher gut. Diesen dürren Kaktus kriegt so schnell nichts klein und Albert muss auch ein zäher Bursche sein, wenn er es so lange mit ihr aushält. Wahrscheinlich hatte die beiden einfach genug von ihren vier Nervensägen zuhause und tauchen in ein paar Tagen wieder auf." Das war so typisch Dominik. Selbst in einer so ernsten Lage schaffte er es, aus allem einen Scherz zu machen und auch noch seine wenig schmeichelhafte Meinung über Gerda loszuwerden. Aber über die Jahre hatte ich mich so an seine Art gewohnt, sodass ich in seinen Worten tatsächlich Trost fand.




    Dominik blieb noch eine ganze Weile und wir saßen auf der Treppe der Veranda und unterhielten uns. Ich fühlte mich bei ihm geborgen. Geborgen wie bei einem älteren Bruder, der seine kleine Schwester tröstet und genau da lag das Problem. Denn er sah in mir nicht seine kleine Schwester, sondern die Frau an seiner Seite. Doch für mich war Albert der Mann an meiner Seite. Und der Gedanke ihn zu verlieren hielt mich bis tief in die Nacht wach. Doch schließlich fiel ich doch in einem unruhigen Schlaf.








    Ein Song spielt im Radio, Dolly Parton mit "I will always love you". Der Schotter knistert unter den Reifen des Wagens. Die beiden Insassen unterhalten sich. Über das Wetter, die Arbeit, den gemeinsamen Ausflug. Dann ein Knall. Das Auto gerät ins Taumeln. Die Frau schreit, der Mann versucht den Wagen wieder unter Kontrolle zu bringen. Doch er schafft es nicht. Das Auto schießt über den Abgrund hinaus und fällt und fällt und fällt…







    Schweißgebadet schreckte ich aus meinem Traum hoch. Mein Herz raste und ich hatte Probleme, wieder ruhig zu atmen. Es dauerte eine Weile, bis ich realisierte, dass es nur ein Traum war. Aber dieser Traum war so realistisch. Ich konnte alles genau sehen, hören, ja sogar die Hitze im Auto spüren. Nach einigen Minuten sackte ich wieder auf das Kopfkissen zurück. Meine Augen schloss ich aber nicht mehr, aus Angst, erneut zu träumen.


    PS: Entschuldigt die schlechte Qualität der Bilder in diesem Update. Ich hab leider zu spät gemerkt, dass ich im Spiel die Qualität der Bilder versehentlich von hoch auf mittel verändert habe.

    Kapitel 58: Spurlos verschwunden


    Was bisher geschah:
    (Zusammenfassung aller bisherigen Kapitel)


    Ich war gerade 18 als ich mit ansah, wie mein Dad meinen Vater im Suff verprügelte. Ich ertrug es nicht mehr, wie dieses Schwein meinen Vater behandelte und rief die Polizei. Doch anstatt sich bei mir zu bedanken, holte meine Vater seinen Ehemann aus dem Gefängnis und ließ zu, dass Dad mich von Zuhause raus warf.


    Ich wusste nicht, wo ich hin sollte. Zunächst kam ich bei meinen Pateneltern in SimCity unter. Danach machte ich mich auf die Suche nach meiner Mutter, die ich noch nie im Leben gesehen hatte. Ich fand sie schließlich in Simbirien, hatte aber nicht den Mut ihr zu sagen, wer ich war, da sie kein Interesse an ihren Kindern zu haben schien. Am Boden zerstört floh ich zu meinen Großeltern nach Warschau, die mir für das nächste Jahr ein sicheres, geborgenes Zuhause gaben.


    Ich hatte nur noch Kontakt zu meiner Zwillingsschwester Joanna, die bei meinen Eltern in SimCity geblieben war. Und dennoch holten meine beiden Väter mich immer wieder ein und der einzige Ausweg den ich sah, war es zu verschwinden und komplett den Kontakt zu meiner Familie abzubrechen, selbst zu meinen geliebten Großeltern.


    Und so kam ich in die Sierra Simlone. Im Rahmen eines Besiedlungsprojekts in der Wüste fand ich ein neues Zuhause in dieser kargen Landschaft. In Roland fand ich einen treuen Mitbewohner und meinen besten Freund, in Benny meine erste große Liebe. Doch es stellte sich heraus, dass Roland in mich verliebt war und diese Erkenntnis veränderte unsere Beziehung unweigerlich.
    Der überraschende Tod meines Vaters stürzte mich in eine tiefe seelische Krise. Und als Reaktion darauf, trennte ich mich von Benny, den mein Entschluss vollkommen unvorbereitet traf. In Gerda Kappe fand ich eine treue Freundin, doch leider zeigte ich ein zu starkes Interesse an ihrem Ehemann Albert. Auf einer Feier des Bauernvereins kam es zu einer innigen Umarmung zwischen uns beiden und als Gerda kurz darauf ein ernstes Gespräch mit mir führen wollte, zog ich voreilige Schlüsse. Und obwohl sie nichts von der Umarmung zwischen Albert und mir mitbekommen hatte, stimmte ich zu, ihre Cousine Letizia bei mir einziehen zu lassen.


    Letizia entpuppte sich als ein wahres Monster. Und wir waren alle froh, als sie unser Haus wieder verließ. Wir, das waren Roland und ich und unser neuster Mitbewohner Tristan. Tristan stieß zu uns, als seine drei Mitbewohner herausfanden, dass er homosexuell war und er daraufhin seine bisherige Wohngemeinschaft verlassen musste.


    Fast verlor ich mein neues Leben in der Sierra Simlone wieder, als ein Brief ins Haus flatterte, der mir mitteilte, dass zu meinem Haus auch ein landwirtschaftlicher Betrieb gehöre, den ich bewirtschaften müsse. Zusammen mit Roland und Tristan entschloss ich mich, diese Herausforderung zu meistern und wurde zu einer der vielen Farmerinnen der Sierra Simlone.
    Doch lange hielten meine beiden Jungs nicht zu mir. Roland wurde eine Stelle als Arzt in einer nah gelegenen Klinik angeboten und Tristan stieg rasant in der Ölindustrie auf. Die Zukunft der beiden lag einfach nicht in der Landwirtschaft. Meine dagegen schon, auch wenn ich dabei Unterstützung nötig hatte. Und die erhielt ich von Albert.


    Es war unausweichlich, dass wir uns bei unserer engen Zusammenarbeit näher kamen und an einem besonders heißen Sommertag konnte ich ihm nicht mehr widerstehen. Wir liebten uns, auch wenn uns beiden klar war, dass es bei diesem einen Mal bleiben würde. Und damit hätte die Geschichte beendet sein können, wäre diese eine Nacht nicht ohne Folgen geblieben.
    Als ich erkannte, dass ich schwanger war, schob ich in Panik das Kind einem anderen Mann unter, der bereits zuvor auf unverschämte Art und Weise um mich geworben hatte. Ich konnte es nicht ertragen, dass Gerda von Alberts Betrug erfuhr und ich mit meiner Tat womöglich eine ganze Familie zerstört hätte. Zu behaupten, Dominik sei der Vater meines Kindes, schien die einfachste Lösung. Doch ich ahnte nicht, wie sehr Dominik seine Tochter und auch mich lieben würde. Mir dagegen wurde schnell klar, dass Albert der einzige Mann war, den ich liebte.
    Und dennoch blieb ich mehr als fünf Jahre bei Dominik und teilte Tisch und Bett mit ihm, immer in dem Bewusstsein, dass ich einen anderen liebte. Dies führte sogar dazu, dass ich meiner eigenen Tochter nicht die Liebe schenken konnte, die sie verdient hätte. Ich sah in ihr viel zu sehr die Sünde, die ich begangen hatte. Die Situation spitzte sich für mich noch weiter zu, als das Jugendamt Letizias Baby bei uns absetzte. Wie sich rausstellte, hatten sie und Roland eine kurze Affäre, aus der eine Tochter hervorgegangen war, Constance.


    Anders als bei meiner eigenen Tochter, empfand ich gegenüber diesem Kind so viel Liebe, dass es mir den Umgang mit meiner Tochter noch weiter erschwerte. Und immer noch kreisten meine Gedanken um Albert. Dominik merkte davon allerdings nichts und machte mir sogar einen Heiratsantrag. Nur dem Tod meines Dads hatte ich es zu verdanken, dass ich mich aus dieser Situation noch einmal herauswinden konnte.
    Und dann ließ ich mich auf eine Affäre mit Albert ein. Ich konnte es nicht mehr ohne ihn aushalten und bei vielen geheimen Treffen genossen wir unsere Liebe. Und bei unserem letzten Treffen gestand Albert mir dann, dass er seine Frau verlassen würde, dass er nur mich lieben würde. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Entschlossen fuhr ich vom Motel in die Simlane um Dominik zu verlassen. Ich hatte die Worte fast schon über die Lippen gebracht, als plötzlich meine kleine Tochter mit dem Telefon auf uns zugerannt kam...


    "Mama, Mama, komm bitte schnell. Hier ist eine Miranda Kappe am Telefon und sie hört sich ganz aufgeregt an. Mach schnell!"





    Kinga hopste die vier Treppenstufen herunter und streckte mir den Telefonhörer entgegen. Unsicher schaute ich erst zu ihr und wand meinen Blick dann wieder Dominik zu. Er sagte zwar nichts, aber ich spürte genau, wie er mich misstrauisch musterte. Ich hatte zwar noch nicht zu Ende gesprochen, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, als ob er ahnte, was ich sagen wollte. Aber jetzt war es ohnehin egal. Direkt vor Kingas Augen konnte ich mich schließlich nicht von ihrem Vater trennen.




    Kinga drückte mir einfach den Telefonhörer in die Hand, sodass mir gar keine andere Wahl blieb, als mit Miranda zu sprechen. Warum musste sie auch ausgerechnet jetzt anrufen? "Hallo, Miranda? Hier ist Oxana. Kinga sagte es wäre dringend?" "Oxana, kannst du bitte sofort vorbeikommen?", meldet sich Miranda so hastig, dass sich ihre Stimme fast überschlug. "Ich weiß nicht, was ich tun soll! Mama und Papa...ich weiß nicht was ich Hans und den anderen erzählen soll. Ich weiß nicht was ich machen soll." Ich konnte ihrem wirren Gebrabbel kaum etwas entnehmen, aber Miranda klang wirklich verzweifelt. "Ok, Miranda, versuch dich zu beruhigen", redete ich auf sie ein. "Ich komme gleich bei euch vorbei."




    "Was wollte denn die junge Kappe von dir?", fragte Dominik und sah mich immer noch misstrauisch an. "Sie...sie klang ziemlich aufgebracht. Ich soll sofort zu ihr kommen." Erst jetzt wurde mir bewusst, dass sie von Albert und Gerda gesprochen hatte. Hatte Albert Gerda und den Kindern etwa schon gesagt, dass er sie verlassen würde? Wollte Miranda etwa darüber mit mir sprechen. Dominik muss mir meine plötzliche Verwirrung angemerkt haben. "Alles in Ordnung bei dir?" Sofort verschwand dieser prüfende Blick und er berührte beruhigend meinen Arm. "Ja...ja es geht mir gut. Aber ich muss sofort zu den Kappes."




    Ich gab den Telefonhörer an Kinga zurück und machte mich sofort auf den Weg zum Haus von Albert und Gerda. Mit jedem Schritt, der mich dem Haus näher brachte stieg auch meine Anspannung. Was konnte Miranda bloß von mir wollen? Ich könnte mich noch lebhaft daran erinnern, wie sie mich vor vielen Jahren beschuldigt hatte, ihren Vater zu verführen. Zu dem damaligen Zeitpunkt trafen ihre Vorwürfe nicht zu, aber jetzt hatte sich die Situation geändert. Ich liebte ihren Vater und er liebte mich. Ich wollte gar nicht wissen, wie sie reagieren würde, wenn sie von uns beiden wusste. Als das Haus in Sichtweite kam, könnte ich Miranda bereits auf der Veranda stehen sehen und beobachten, wie sie unruhig hin und her lief und sich immer wieder mit beiden Händen an den Kopf fasste.




    Als sie mich erblickte, hastete sie die Treppe hinunter und kam auf mich zugerannt. "Gott sei Dank bist du hier, Oxana. Gott sei Dank! Ich weiß nicht mehr was ich machen soll!", plapperte sie hysterisch drauf los. Ich konnte spüren, dass sie den Tränen nahe war. "Miranda, beruhig dich doch", versuchte ich auf sie einzureden. Doch sie redete immer weiter, wurde immer panischer und ich verstand nichts von dem, was sie mir sagen wollte.




    "Miranda. Miranda!", meine laute Stimme ließ sie zusammenzucken, aber immerhin beruhigte sie sich dadurch. "Was ist passiert?", fragte ich mit ruhiger und eindringlicher Stimme. Doch Miranda starte nur hilflos auf den Boden. "Miranda!", ermahnte ich sie ein weiteres Mal und endlich rückte sie mit der Sprache heraus. "Meine Eltern sind verschwunden, Oxana". Ihre Stimme zitterte. "Sie sind vor zwei Tagen weggefahren um ein gemeinsames Wochenende zu verbringen. Papa hatte irgendeine Überraschung für Mama. Zumindest glaube ich das, denn er hatte sich ihr gegenüber ganz seltsam verhalten. Die beiden wollten in einen kleines Bergdorf nördlich von SimVegas. Da waren sie schon öfters gewesen. Doch sie sind dort nie angekommen."




    "Was soll das heißen, sie sind dort nie angekommen?", hakte ich mit wachsender Besorgnis nach. Miranda konnte ihre Tränen kaum noch zurückhalten, als sie weiter sprach. "Mama hat gesagt, dass sie noch am gleichen Abend anruft, sobald sie angekommen sind. Doch sie rief nicht an. Ich machte mir erst gar keine Gedanken. Sie würde bestimmt am nächsten Morgen anrufen. Doch das tat sie auch nicht. Ich habe versucht, die beiden auf ihrem Handy zu erreichen, doch es meldet sich niemand. Und am Abend habe ich schließlich in dem Hotel angerufen, wo die beiden hin wollten. Doch der Mann an der Rezeption sagte mir nur, dass die beiden nie angekommen wären."




    Um ihre Geschwister nicht zu beunruhigen hatte Miranda versucht ihre Ängste tief in ihrem Inneren zu verbergen. Doch jetzt kamen sie mit voller Wucht zu Tage. "Was soll ich jetzt bloß machen, Oxana?", schluchzte sie bitterlich. Doch eine Antwort hatte ich nicht parat. Dazu war ich selber viel zu verwirrt. Ich konnte sie lediglich in den Arm schließen um sie auf diese Weise zu trösten. Und trotz ihrer fast 19 Jahre weinte sie sich wie ein kleines Kind an meiner Schulter aus.




    Bereits nach einem kurzen Augenblick hatte sie sich wieder gefasst, aber die Hilflosigkeit stand ihr noch immer ins Gesicht geschrieben. Ihr Blick war so flehend, dass ich einfach etwas unternehmen musste. Schließlich ging es doch um Albert. "Wir sollten die Polizei anrufen", war der einzige Einfall, der mir spontan kam und das tat ich auch. "Wir werden einen Streifenwaagen losschicken, der die Strecke von Sierra Simlone Stadt zu dem Bergdorf abfährt", versicherte mir die Polizeibeamtin, nachdem ich ihr die Situation geschildert hatte. Mehr konnten sie zurzeit leider nicht tun. Ich versuchte weiterhin gelassen zu bleiben, aber langsam stieg auch in mir die Panik auf.




    Miranda bat mich, bei ihr zu bleiben. Sie wollte jetzt nicht alleine sein und vor allem wollte sie nicht alleine sein, wenn ihre Geschwister in wenigen Stunden nach Hause kämen. "Wahrscheinlich sind sie einfach nur mit dem Wagen liegen geblieben und stecken in einem Funkloch. Wir brauchen uns gar keine Sorgen zu machen", versuchte ich sie zu beruhigen, doch ich merkte selbst, wie mit jedem Wort meine Stimme schriller wurde. Selbst ich glaubte meinen eigenen Beschwichtigungen nicht. Wir versuchten ein wenig zu plaudern, doch die Situation blieb angespannt und mit jeder Stunde die verging, wurde die Anspannung größer.







    Etwa gegen vier Uhr nachmittags kamen Mirandas jüngere Geschwister Hans und Desdemona von der Schule zurück. "Hallo, Oxana", begrüßte mich Hans noch bevor er richtig durch die Tür getreten war und kam, von Desdemona begleitet, auf mich und Miranda zu. Doch er bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Mirandas und mein Gesichtsausdruck sprachen wohl Bände. "Ist irgendetwas passiert?", fragte er allarmiert.




    Augenblicklich schossen Miranda die Tränen in die Augen und sie verließ fluchtartig den Wohnraum und lief in ihr eigenes Zimmer. "Ist etwa irgendetwas mit Elvira?", folgte panisch die nächste Frage von Hans. Desdemona versteifte sich merklich und blickte ängstlich abwechselnd von Hans zu mir. "Nein, mit Elvira ist alles in Ordnung", konnte ich ihn beruhigen. "Aber...vielleicht stimmt etwas mit euren Eltern nicht."




    Hans starte mich entsetzt an und Desdemona umklammerte ängstlich ihrer Brust. "Was ist passiert?", fragte Hans atemlos. "Wir wissen noch nichts genaues", versuchte ich die beiden Jugendlichen zu beruhigen. "Eure Eltern haben sich seit zwei Tagen nicht mehr gemeldet. Sie gehen nicht an ihre Handys und im Hotel in dem Bergdorf bei SimVegas sind sie auch nicht angekommen. Sie scheinen einfach verschwunden zu sein. Ich habe bereits die Polizei benachrichtigt und sie suchen Eure Eltern. Das ist alles, was ich euch im Moment sagen kann."




    Obwohl ich versuchte, so besonnen und unbesorgt wie möglich zu klingen, gelang es mir nicht die beiden zu beruhigen. Hans fing an mich immer weiter auszufragen, doch ich wusste keine Antworten. Desdemona lief dagegen ihrer Schwester hinterher und warf sich ihr weinend um den Hals. "Wo sind Mama und Papa? Wo sind unsere Eltern?", fragte sie ihre große Schwester immer und immer wieder und erhielt doch keine Antwort.

    Kapitel 57: Solang ich dich hab




    "Und komm schnell wieder zurück. Kinga und ich vermissen dich jetzt schon." Dominik drückte mir zum Abschied einen dicken Kuss auf die Lippen. "Ich bin doch nur für ein paar Tage weg", entgegnete ich. "Außerdem ist das Seminar über Rinderzucht gleich in Ganado Alegro. Ich bin doch fast gar nicht von Zuhause weg." Dominik hob meinen Koffer auf die Ladefläche des Wagens während ich einstieg. "Wunder dich aber nicht, wenn bei deiner Rückkehr eine Horde wilder Frauen auf der Veranda lauert. So einen heißen Typ wie mich sollte man einfach nicht alleine lassen." Durch das geöffnete Fenster küsste ich ihn noch einmal zum Abschied und fuhr dann los.





    Langsam wurde ich wach. Es war früher Morgen. Die Sonne war gerade erst aufgegangen und die ersten Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster in das Motelzimmer und kitzelten mein Gesicht. Draußen hörte man noch nichts von dem geschäftigen Treiben, das gestern Abend herrschte. Das einzige Geräusch war das monotone Brummen der Klimaanlage, die dieses ansonsten eher schäbige Motel deutlich aufwertete. Ich hätte am liebsten weiter geschlafen, doch dann spürte ich, wie eine Hand verspielt meinen Rücken kitzelte.




    "Guten Morgen, mein wildes Cowgirl", lächelte Albert mich an und ich lächelte überglücklich zurück. "Ich hoffe, du hast genauso gut geschlafen wie ich. Auch wenn die Nacht eher kurz war, aber daran bist du nicht ganz unschuldig." Ich nahm seine Hand und hielt sie fest umschlossen, denn ich hatte Angst, dass alles nur ein Träum war. Ich würde aufwachen und Albert würde nicht mehr neben mir liegen. Doch es war kein Traum, Albert Lag tatsächlich neben mir im Bett und drückte meine Hand.




    "Halt mich einfach ganz fest. So sehr, dass es weh tut. Nur damit ich glauben kann, dass du wirklich hier bist", flüsterte ich Albert zu und schob mich sofort in seine starken Arme. "Ich wünschte, dieser Morgen könnte ewig dauern." Glücklich seufzte ich und auch Albert tat es mir gleich. "Ich weiß nicht, ob ich vollkommen wahnsinnig bin, mich hier mit dir zu treffen, oder ob es die weiseste Entscheidung meines Lebens ist, Oxana. Aber seitdem ich dich kenne, sehe ich die Welt durch ganz andere Augen. Du hast mich verzaubert mit deinem Charme."




    Und er hatte mich verzaubert. Als er mich zurück auf das Bett sinken ließ und sich über mich beugte, konnte ich es kaum erwarten, ihn noch einmal zu lieben. Mir war klar, dass wir niemals ein Paar werden würden. Oder zumindest hätte es mir klar sein müssen. Aber es war mir auch vollkommen egal. Solange er bei mir war, war ich glücklich. Ich wollte einfach nur diesen Moment genießen und nicht an morgen denken.




    "Lass uns einfach den ganzen Tag im Bett bleiben", schlug ich vor, nachdem wir uns wieder erholt hatten. "Wen interessiert schon so ein Seminar über Rinderzucht?" "Nichts lieber als das", antwortete Albert lachend. "Nur halte ich dieses Seminar. Ich glaube es würde auffallen, wenn ich fehle." Nachdem er gegangen war, sprang ich unter die Dusche und schon jetzt vermisste ich ihn. Wir sahen uns so selten. Vielleicht alle zwei Monate, wenn wir Glück hatten öfter und das erst seit etwa einem Jahr. Aber wir nutzten jede Gelegenheit, um uns zu sehen, jede Viehauktion, jeden Lehrgang, jedes Seminar. Und dieses Seminar würde noch zwei wundervolle Tage dauern.




    Doch die Tage vergingen viel zu schnell. An unserem letzten Abend saßen wir im Schnellrestaurant des Motels und genossen unsere letzten Minuten zu zweit. Albert schien besonders bedrückt zu sein. Aber ich verstand das nur zu gut, denn bald würden wir wieder für eine unbestimmte Zeit getrennt sein. Er nahm meine Hand und streichelte sie. "Oxana", blickte er mich fragend an, "was würdest du davon halten, wenn…", er stockte, "...wenn ich Gerda verlasse?"




    Ich sah in erstaunt an. Darüber hatten wir noch nie miteinander gesprochen. Ich hätte nicht einmal in Erwägung gezogen, dass er Gerda verlassen könnte. Und trotzdem war ich tief im Inneren überglücklick. Und Albert sah mir das deutlich an. "Oxana, du bist die einzige Frau für mich. Es hätte keinen Sinn mehr, weiterhin bei Gerda zu bleiben und etwas vorzugaukeln. Ich liebe nur dich." Jetzt strahlte ich über das ganze Gesicht. "Und du bist dir wirklich ganz sicher?" Diese Frage musste ich stellen, denn wenn er auch nur den kleinsten Zweifel hegte, dann würde ich es nicht zulassen. Doch er hatte keinen Zweifel. "Ich werde mit Gerda sprechen, sobald ich wieder in Sierra Simlone Stadt bin. Es hat keinen Sinn, es noch länger hinauszuzögern." "Und ich werde mit Dominik reden. Dann hat dieses Versteckspiel endlich ein Ende."







    Ich blieb noch einige Tage länger in Ganado Alegro. Einerseits hatte ich noch einige Dinge, welche die Farm betrafen, zu erledigen. Andererseits brauchte ich etwas Zeit, um richtig zu begreifen, was Albert da vorgeschlagen hatte. Endlich hatten wir beide eine Chance zusammen glücklich zu werden. Ich wusste, dass es für Gerda und Alberts Kinder, aber auch für Kinga und Dominik schwer werden würde. Aber sie würden es überstehen, so wie ich es überstanden hatte, so viele Jahre getrennt von Albert zu leben. Als ich Zuhause ankam, sah ich Kinga und Constance vor dem Haus spielen. Als Kinga mich sah, stürmte sie sofort auf mich zu und sprang mir um den Hals. "Wo ist Papa?", fragte ich, nachdem ich sie mit einem Kuss auf die Stirn begrüßt hatte. "Er ist hinter dem Haus und er hat dich gaaanz doll vermisst."




    Wie Kinga gesagt hatte war Dominik hinterm Haus und trainierte. Er hatte sich vor einiger Zeit dieses Laufband gekauft und überraschenderweise benutze er es auch regelmäßig. Für seine Arbeit als Wachmann war es hilfreich, einen durchtrainierten Körper zu besitzen. Aber Dominik legte ohnehin großen Wert auf seinen Körper und sein Aussehen im Allgemeinen. Als er mich kommen sah, drückte er sich sofort vom Laufband ab, um es anzuhalten und zu mir zu kommen.




    Noch bevor ich etwas sagen konnte. Zog er mich an seinen schweißnassen Körper und küsste mich. "Da bist du ja endlich wieder, Brodlowska. Ich hoffe, du hast deinen wundervollen Mann genauso vermisst, wie ich dich vermisst habe." Warum machte er es mir bloß so schwer? Konnte er nicht fies und gemein sein, so wie er sich zum Beispiel Roland gegenüber verhielt? Dann könnte ich ihm viel leichter das sagen, was ich ihm sagen musste.




    Ich wusste, dass dieser Moment und dieser Ort nicht unbedingt die geeignetsten waren, um Dominik mitzuteilen, dass ich ihn verlassen würde. Aber gab es dafür überhaupt einen passenden Moment? Ich wollte es einfach nur so schnell wie möglich hinter mich bringen. Auf der Fahr von Ganado Alegro hatte ich mir eine wunderbare Rede überlegt, doch jetzt war mein Kopf wie leergefegt. "Dominik, ich hatte bei dem Seminar Gelegenheit, über einige Dinge nachzudenken", begann ich zu stottern. "Über uns beide nachzudenken. Und manchmal, da passiert es einfach, dass die Gefühle, von denen man glaubte, dass sie für immer seinen, sich plötzlich ändern. Und dann ist es notwendig, dass man sich selbst verändert."




    Oh, Gott, was für einen Blödsinn gab ich denn da von mir? An Dominiks Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass er nicht im geringsten Begriff, wovon ich da überhaupt sprach. Also musste ich es einfach geradeheraus sagen. "Dominik, ich werde mich von dir tr..." Plötzlich kam Kinga mit dem Telefon in der Hand aus dem Haus gelaufen. "Mama, Mama, komm bitte schnell. Hier ist eine Miranda Kappe am Telefon und sie hört gar nicht auf zu weinen. Komm schnell!"


    Gedanken:
    Es war so weit. Nach fast sechs Jahren des endlosen Lügens und Vortäuschens würde ich endlich zu Albert finden, dem einzigen Mann, den ich wirklich liebte. Ich wusste, dass es Dominik hart treffen würde, aber ich konnte nicht mehr länger bei ihm bleiben. Allerdings würde ich ihm nicht alles erzählen. Ich würde verschweigen, dass ich ihn nie geliebt hatte. Das musste er nicht wissen. Genauso wie Albert nie erfahren musste, dass Kinga seine und nicht Dominiks Tochter war. Denn Kinga war Dominiks Tochter, da änderten auch biologische Tatsachen nichts, und was immer ich auch für Albert empfand, das tiefe Band zwischen Dominik und Kinga wollte ich auf keinen Fall zerstören.


    Obwohl ich immer noch ein schwieriges Verhältnis zu Kinga hatte, ließ ich sie das nicht spüren. Zumindest versuchte ich es und seitdem ich mich mit Albert traf, fiel mir der Umgang mit ihr deutlich leichter. Und alles was ich ihr an Liebe nicht geben konnte, erhielt sie doppelt und dreifach von Dominik. Ich war mir sehr sicher, dass sie bis jetzt eine sehr glückliche Kindheit gehabt hatte.


    Bei Constance verhielt es sich leider anders. Roland gab sein Bestes, um seiner Tochter einen guten Start ins Leben zu ermöglichen, doch die traumatischen Erlebnisse in ihren ersten beiden Lebensjahren konnte sie nie wirklich überwinden. Noch heute war sie sehr zurückhaltend und misstrauisch. Selbst nach den drei Jahren, die sie bei uns lebte, schien sie keinem von uns völlig zu vertrauen.


    Nach Dads Tod konnte ich meiner Familie endlich meinen Aufenthaltsort verraten. Endlich mit meinen Großeltern sprechen zu können war eine riesige Erleichterung für mich und als sie mich das erste Mal nach Jahren Besuchten und ihre Urenkelin zum ersten Mal sahen, sind wir alle in Tränen ausgebrochen. Leider verschlechterte sich mein Verhältnis zu Joanna merklich. Wir telefonierten immer noch regelmäßig, aber ich spürte, dass es nicht mehr so war, wie früher. Ich glaube, sie hat mir nie verziehen, dass ich nicht zu Dads Beerdigung gekommen bin. Und was meinen Bruder anging, so hatte ich nie mehr wirklich Anschluss zu ihm gefunden. Ich hatte einfach zu viele entscheidende Jahre seines Lebens verpasst. Aber mit viel Arbeit ließ sich da sicherlich noch etwas machen.

    Kapiel 56: Die weise Nonne




    Ein Zucken an meinem Oberschenkel ließ mich aufschrecken und befreite mich aus meiner Erstarrung. Dem Vibrationsalarm meines Handys folgte sogleich der Klingelton. "Ich muss rangehen, die Kinder werden sonst wach", redete ich mich hastig heraus und holte das Handy aus meiner Tasche. Ich sah die Enttäuschung in Dominiks Gesicht, als er sich langsam wieder aufrichtete. Es war Joanna die anrief. Sie sprach so hastig, dass ich kaum etwas verstehen konnte. "Es tut mir leid", flüsterte ich Dominik entschuldigend zu, der das Schmuckkästchen in seinen Händen langsam schloss und richtete meine volle Aufmerksamkeit auf meine Schwester.




    "Noch einmal ganz langsam, Jojo. Ich kann dich kaum verstehen. Was ist passiert?" Meine Schwester schluchzte mehrmals heftig, bevor sie weitersprach. "Dad ist tot, Xana. Er ist tot." Sie brach komplett in Tränen aus und schluchzte bitterlich. In meinem Kopf begann sich alles zu drehen. "Wie?", hauchte ich benommen. "Er...er ist mit der Yacht rausgefahren." Joannas Stimme zitterte so sehr, dass ich Schwierigkeiten hatte, alles zu verstehen. "Dad hatte wieder einmal getrunken. Dann ist er hinüber zum Hafen. Er wusste, dass ein Sturm im Anmarsch war. Und trotzdem ist er rausgefahren. Die Küstenwache hat drei Tage nach ihm gesucht. Und heute haben sie die Trümmer des Botes gefunden. Etwa hundert Kilometer von Festland entfernt. Er hatte keine Chance."




    Ich stand da und wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Ich hätte Joanna so gerne getröstet, doch ich wusste nicht wie. Ich...ich musste erst einmal selber damit fertig werden. Dad lebte nicht mehr? Und plötzlich spürte ich, wie sich in meinem Herzen ein tiefer Schmerz ausbreitete. "Oxana, ich glaube, er wollte sterben", flüsterte Joanna, nachdem sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. "Warum sonst hätte er in den Sturm rausfahren sollen?" Ich schwieg. "Ich muss noch so viel Organisieren, Xana. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Die...die Beerdigung muss geplant werde. Ich muss einen Bestatter anrufen und die Gäste einladen. Und die Blumen! Was für Blumen soll ich bloß bestellen?" Joanna wurde wieder hysterisch. "Du schaffst das schon, Jojo", versuchte ich sie aufzumuntern. "Du wirst doch kommen, Xana? Du wirst zu Dads Beerdigung komme?" Ich schluckte tief, denn die Antwort fiel mir nicht leicht. "Du solltest lieber nicht mit mir rechnen, Jojo. Verzeih mir."




    Was folgte, war ein gemeinsames Weinen mit meiner Schwester am Telefon. Erst nach zwei Stunden legte Joanna auf. Am Ende hatte sie akzeptiert, dass ich nicht zu Dads Beerdigung kommen würde. Aber ich wusste, dass sie es nicht verstand. Sie hatte Dad schon immer vergöttert und ihm alles verziehen. Ich konnte das nicht. Erschöpft legte ich mich ins Bett. Dominik schlief schon. Dann fiel mir der Antrag wieder ein. Ich schaute mich hastig um, doch der Ring war nirgends zu entdecken. Ich wusste nicht, ob es die Erleichterung war oder doch die Trauer, aber ich schloss meine Augen und begann heftig zu schluchzen.




    Mein Weinen musste wohl Dominik geweckt haben. Er richtete sich auf und kam dicht zu mir herüber. "Brodlowska, du musst nicht weinen, nur weil ich schon eingeschlafen bin", scherzte er herum. "Du brauchst mich nur zu wecken, dann mache ich dich sofort glücklich." "Warum bist du nur so lieb zu mir?", fragte ich schluchzend. "Weil du es verdienst." Dann küsste er mich und ich küsste ihn zurück. Und als seine Hände meinen Körper streichelten und immer fordernder wurden, ließ ich ihn gewähren. Und zum ersten Mal seit langer Zeit, ließ ich ihn meine Leidenschaft spüren, die sonst so oft fehlte, wenn wir miteinander schliefen. Denn das war das mindeste, was er verdient hatte.







    Diese Nacht mit Dominik war...war wirklich schön gewesen. Und dennoch fühlte ich mich am nächsten Morgen schuldig und dreckig. Denn ich hatte Dominik wieder einmal nur benutzt. Er war da gewesen, um mir den Kummer von der Seele zu nehmen, als ich Halt brauchte und nur deshalb hatte ich mich ihm so hingegeben. Noch bevor er aufgestanden war, verließ ich das Haus und ging in das Kloster St. Ansbald. Dieser Ort war so angenehm und beruhigend und trotzdem konnte ich die Unruhe in meiner Seele nicht besänftigen.
    Das falsche Spiel, das ich mit Dominik trieb, wuchs mir allmählich über den Kopf und ich wusste einfach nicht, wie ich aus dieser Situation entkommen konnte. Eins stand für mich fest: Ich konnte Dominik auf keinen Fall heiraten.




    Und dann war da noch Dad. Erst hier in der Stille des Klosters begriff ich, dass er wirklich tot war, dass ich ihn nie wieder sehen würde. Ich würde ihm nie mehr verzeihen können. Diese Erkenntnis traf mich sehr. Er war ein Schwein gewesen, oh ja, dass war er wirklich! Aber er war auch mein Vater. Er hatte mich aufgezogen, mich zum Kindergarten gebracht, mich von der Schule abgeholt. Und so sehr ich ihn später auch verachtet hatte, im Hinterkopf hatte ich immer gewusst, dass ich ihm eines Tages verzeihen würde. Es wäre dann so, wie vor der Zeit, als er mich aus dem Haus geworfen hatte. Und er wollte auf mich zugehen. Er wollte sich in Simtropolis entschuldigen, aber ich habe ihn weggestoßen, weil ich zu stolz war, ihm zu verzeihen. Und jetzt war es zu spät. Was ist, wenn er meinetwegen sterben wollte? Dieser Gedanke ließ mich nicht mehr los und grub sich tief in mein Herz. Dad ist gestorben, weil ich ihm nicht verzeihen wollte.




    Eine alte Nonne trat zu mir herüber. "Kind, warum weinst du denn? Ich sehe dich so oft bei uns im Kloster am Brunnen sitzen und jedes Mal wirkst du so traurig." Ich stand auf und versuchte mir die Tränen aus den Augen zu wischen, doch es wollte mir nicht gelingen. Also gab die Alte mir einen Rat. "Manchmal mag es so erscheinen, als ob es keinen Ausweg mehr gäbe. Es sieht so aus, als ob Gott dich verlassen hätte, mein Kind. Aber du musst vertrauen. Unser Gott ist ein guter und gütiger Vater. Was immer auch auf deiner Seele lasten mag, er wird dich leiten. Er verlässt seine Kinder nicht. Glaube nur fest daran und alles wird sich zum Guten wenden."





    Und ich hörte auf den Rat der Nonne. Ich vertraute darauf, dass Gott mich leiten und dass sich am Ende alles zum Guten wenden würde. Und so vergingen die Jahre. Ich versuchte mir keine Schuld an Dads Tod zu geben und mit den Jahren wurde es immer einfacher. Und das Thema Heirat kam nie wieder auf. Dennoch versuchte ich meinem Kind eine gute Mutter und Dominik eine gute Partnerin zu sein. Und es schien mir zu gelingen. An Kingas fünften Geburtstag wirkten wir wie eine kleine glückliche Familie.




    Es war nur eine kleine Feier im Kreis unserer ungewöhnlichen Wohngemeinschaft, die nun beinah schon sechs Jahre bestand. Lediglich Dominiks Vater Anan ließ es sich nicht nehmen selbst dabei zu sein, wenn seine Enkeltochter ihre Ehrentag feierte. "Mama, Opa guckt mal!", schrie sie aufgeregt. "Onkel Tristan hat ein Feuerwerk für mich angezündet!" Kinga hüpfte aufgeregt auf und ab und ihre Augen strahlten. Das Feuerwerk war wirklich hübsch anzuschauen und ich hatte selber nicht gewusst, dass Tristan eins geplant hatte.




    Und Geschenke durften natürlich auch nicht fehlen. "So viel Geschenke!", staunte Constance. "Sind die wirklich alle für mich?", fragte Kinga mit großen Augen. "Hhm, lass mich mal überlegen", antwortete Tristan. "Wie viele Geburtstagskinder gibt es denn hier? Also ich sehe nur eins. Also würde ich vermuten, dass die wirklich alle für dich sind." Kinga kreischte vor Freude und ich beobachtete die Szene lächelnd aus dem Hintergrund. "Hilf mir alles nach drinnen zu tragen", forderte Kinga Constance auf. "Dann können wir gleich alles auspacken." Und schon waren die beiden Mädchen mit voll beladenen Armen im Haus verschwunden.




    Und während Constance und Kinga sich im Haus vergnügten, feierten wir Erwachsenen unsere eigene Party draußen im Garten weiter, mit reichlich zu essen und selbstverständlich auch zu trinken. Nach ein paar Gläschen zog Roland mich dann zur Seite. "Brandi und ich werden diesen Sommer heiraten", kicherte er mir ins Ohr. "Du darfst es aber noch keinem verraten. Sie will es nämlich bei ihrem Geburtstag in zwei Wochen verkünden." Im ersten Moment war ich baff, doch dann freute ich mich unheimlich für Roland und umarmte meinen besten Freund. Wer hätte gedacht, dass die beiden noch heiraten würden. Nachdem Brandi von Constance erfuhr, hatten die beiden fast zwei Jahre nicht miteinander gesprochen und jetzt wollten sie heiraten. Diese Geburtstagsparty war für alle ein voller Erfolg. Die Kinder hatten ihren Spaß und wir Erwachsenen auch. Und ich kannte jetzt ein kleines süßes Geheimnis, welches wirklich ein Grund zur Freude war.