Kapitel 71: Im Albtraum gefangen
Panisch riss ich meine Augen auf. Es dauerte einige Sekunden, bis ich realisierte, dass ich nur geträumt hatte. Nichts davon war real gewesen. Es gab keine Hochzeit, keine Ringe, keinen Albert. Albert war tot. Im Halbdunkel des Schlafzimmers konnte ich Dominik erkennen, der ruhig neben mir im Bett schlief. Ich war also einem Alptraum entflohen, um im nächsten aufzuwachen.
Ich konnte nicht länger neben Dominik liegen bleiben. Ich wollte nur noch weg. Im Dunklen tastete ich mich in Wohnzimmer und setzte mich mit angezogenen Beinen auf die Couch. Es waren nun schon drei Wochen vergangen seit Albert…seit er mir so grausam entrissen worden war. Doch es wurde nicht leichter, ganz im Gegenteil.
"Brodlowska! Hey, alles in Ordnung bei dir?", Dominik stand plötzlich vor mir und starrte mich besorgt an. Als er das Wohnzimmer betrat, fand er mich auf dem Sofa vor, wie ich geistesabwesend den ausgeschalteten Fernseher anstarrte. Er muss mich schon mehrere Mal angesprochen haben, doch erst jetzt nahm ich ihn wahr. Trotzdem antwortete ich ihm nicht, sondern schaute nur ausdruckslos in sein Gesicht.
Als ich weiterhin keine Anstalten machte irgendetwas zu erklären oder überhaupt zu reagieren, setzte er sich zu mir. "Brodlowska, es ist gerade mal halb vier morgens. Komm zurück ins Bett. Bitte!" Ich starrte weiter die Wand an. "Du musst damit aufhören, Brodlowska. Du kannst doch nicht ständig in der Nacht allein im Dunkeln sitzen. Das ist nicht gut für dich." Er klang aufrichtig besorgt, doch zu mir drang dies nicht durch.
"Komm wieder mit mir mit." Er streckte seinen Arm aus um mich an der Schulter zu fassen und mich sanft zurück in das Schlafzimmer zu geleiten.
Doch als ich die Berührung seiner Hand spürte, zuckte ich erschrocken zusammen und zog mich von ihm zurück. Mein Gesichtsausdruck muss entsetzt gewirkt haben, denn Dominik hatte Mühe, seine Fassung zu bewahren. In seinen Augen mischten sich Sorge, Angst, Wut, Resignation und Enttäuschung. Vor allem Enttäuschung. Doch ich konnte darauf keine Rücksicht nehmen.
Er Rang mit sich selbst. Noch einmal streckte er seinen Arm aus, um mich zu berühren, doch mein verängstigter Blick ließ ihn im letzten Augenblick seine Hand zurückziehen. Er seufzte resigniert und ging zurück ins Schlafzimmer. Ich saß noch eine ganze Weile regungslos auf dem Sofa. Schließlich legte ich mich hin. Und obwohl ich zum Umfallen müde war, schaffte ich es nicht einmal meine Augen geschlossen zu halten.
Irgendwann realisierte ich, dass ich vor Rolands Bett stand. Ich überlegte nicht lange, sondern ging einfach an die leere Bettseite und legte mich zu ihm unter die Decke.
Roland begann sich zwar etwas herumzuwälzen, aber er wachte nicht auf. Zunächst beobachtete ich nur, wie das Mondlicht seine blonden Haare anstrahlte. Eher unbewusst begann ich damit, mit meinem Finger den Umriss seines Schulterblattes nachzuzeichnen. Und eh ich es mich versah, schmiegte ich mich eng an den Rücken meines besten Freundes. Und augenblicklich fielen meine Augen zu und ich fiel in einen erholsamen Schlaf.
Als ich am Morgen aufwachte, war das Bett an meiner Seite leer. Es war schon hell draußen und ein Blick auf den Wecker verriet mir, dass es bereits nach neun war und Roland somit längst im Krankenhaus sein musste. Ein wenig war ich enttäuscht, dass er fort war. In seiner Nähe fühlte ich mich nach wie vor am geborgensten.
Auch die Kinder, Tristan und Dominik waren nicht mehr im Haus. Ich war froh, sie nicht um mich haben zu müssen. Ich ertrug es nicht, wenn sie in meiner Nähe waren. Sie versuchten ständig, mich aufzuheitern, doch ich wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden. Und Kinga...wenn ich sie sah, dann kamen sofort alle Erinnerungen an Albert hoch. Und das tat einfach zu weh. Ich wollte meine Tochter nicht um mich haben. Das einzige, was mir Halt gab, war die Arbeit auf der Farm.
Die Tiere brauchten mich. Und diese tägliche Pflicht hielt mich davon ab, völlig in einem Sumpf aus Trauer und Schmerz zu versinken. Gleich nach Alberts Beerdigung war ich in ein tiefes Loch gefallen. Ich hatte einfach keine Kraft mehr. Ich wollte nur noch zu Albert und es schien einen einfachen Weg zu geben, dieses Ziel zu erreichen. Es waren nicht Dominik oder Kinga, die mich davon abhielten mit dem Wagen in die nächste Schlucht zu stürzen. Es war Grünspan, meine Farm, mein Land, meine Heimat die mich davon abhielt. Aber immer noch stand ich vor diesem düstern Loch und war kurz davor hinein zu springen.
Ich arbeitete stumpf vor mich hin, nur um eine Beschäftigung zu haben. So ging das nun schon seit Wochen und es half mir, nicht völlig zusammen zu brechen. Während der Arbeit auf der Farm blendete ich alles um mich herum aus. Ich befand mich dann in einer Art Trancezustand und hatte nicht mehr die volle Kontrolle darüber, was ich tat. Und so gewann mein Unterbewusstsein immer wieder die Oberhand und plötzlich stand ich an Alberts Grab auf dem Friedhof von Sierra Simlone Stadt.
Mich überkam wieder dieser Schmerz, als ich Alberts Namen auf dem schweren Grabstein sah. Weinen konnte ich schon lange nicht mehr. Meine Tränen waren versiegt. Leichter wurde es dadurch nicht, denn so fehlte mir jede Möglichkeit, meinem Schmerz aus mir heraus zu lassen. Ich fühlte mich einfach nur traurig, leer und einsam.
Ich fand keinen Trost in meiner Familie. Das letzte Jahr mit Albert, die Angst um ihn nach dem Unfall und das unendliche Gefühl des Glücks, als er endlich aus dem Koma erwachte und mir seine Liebe versicherte, hatten mir deutlich gezeigt, dass ich Dominik nicht liebte und ihn auch nie würde lieben können. Und deshalb fürchtete ich mich vor jeder Begegnung mit ihm, denn dadurch wurde mir wieder bewusst, was ich verloren hatte.
Und auch Kingas Gegenwart machte es mir nicht einfacher. Sie war Alberts Tochter. Das einzige, was mir noch von ihm geblieben war. Aber ich sah sie nicht als Trost, sondern als eine ständig quälende Erinnerung an meine große Liebe, die so unerwartet von mir gerissen wurde. Da ich tagsüber mit der Farmarbeit beschäftigt war, sah ich sie glücklicherweise so gut wie überhaupt nicht. Aber mit Dominik, Roland und Tristan blieben ihr genügend Menschen, die sich um sie kümmerten.
Diejenige, die unter meiner labilen mentalen Lage am meisten litt, war Constance. Seit das Jugendamt Roland seine Tochter vorbeibrachte, hatte ich sie ins Herz geschlossen. Meine Beziehung zu ihr war in vielerlei Hinsicht sogar besser als zu meiner eigenen Tochter. Doch jetzt war ich viel zu sehr mit meinen eigenen Problemen beschäftig, um auf sie Rücksicht nehmen zu können. Jetzt musste Roland alleine zusehen, wie er seiner Tochter helfen konnte.
Ich blieb bei Alberts Grab, bis die Sonne hinter dem staubigen Horizont versank. Dann fuhr ich zurück nach Hause. Ich hatte Glück, dass niemand im Wohnzimmer saß, so konnte ich mich unbemerkt ins Schlafzimmer schleichen. Und auch das Bett war noch leer. Mir fiel ein Stein vom Herzen, denn ich hätte vielleicht nicht die Kraft aufgebracht, mich zu Dominik zu legen. Wenn ich Glück hätte, schlief ich bereits tief und fest, bevor er sich auch schlafen legte. Zumindest hoffte ich es sehr.