Kapitel 89: In der Hand meiner Schwester
Meine Hilfe? Meine Schwester erzählte mir gerade, dass sie eine Verbrecherin war und erwartete auch noch Hilfe von mir. Ich konnte nicht mehr länger sitzen bleiben. Wenn sie nicht meine Schwester wäre, meine Zwillingsschwester, dann hätte ich umgehend die Polizei gerufen. Ich schüttelte entschieden denn Kopf. Ich würde ihr ganz sicher nicht helfen. „Ich versteh, dass es ein Schock für dich sein muss, Xana. Aber du musst mir helfen. Ich verlange es von dir und ein Nein werde ich nicht gelten lassen.“
Langsam drehte ich mich um und sah sie ungläubig an. War diese Frau wirklich meine Schwester? Ich erkannte nichts von dem lebenslustigen, fröhlichen Mädchen, mit dem ich aufgewachsen war. Ihr Blick war so eindringlich, dass mir ein kalter Schauer den Rücken herunter lief. „Diese Organisation, Xana, das ist nicht irgendein belangloser Verein. Es ist ein Familienbetrieb. Und du gehörst auch zu dieser Familie, Xana. Du bist eine Brodlowska und als solche stehst du in deiner Pflicht. Unsere Großmutter, Justyna Brodlowska, hat diese Familienorganisation gegründet. Und Dad hat sie fortgeführt, genauso, wie ich es jetzt tue.“
Mir wurde schwindelig. Ich musste träumen, eine andere Erklärung gab es nicht. „Aber Dad hat doch für ein Transportunternehmen gearbeitet“, flüsterte ich heiser. „Und unsere Großmutter Justyna ist seit Jahren verschwunden. Das ist doch alles nicht möglich.“ „Es ist möglich, Xana. Hast du dich nie gewundert, warum Dad nachts ständig fort war? Warum sollte er für eine Transportfirma ausgerechnet mitten in der Nacht arbeiten? Nein, Xana, Dad war ein geschickter Schmuggler und ein raffinierter Einbrecher, der sich einen Namen in der Unterwelt von SimCity gemacht hat. Und unsere Großmutter Justyna, Dads Mutter, hat die ganze Zeit über ihn gewacht und ihn in die richtige Richtung gelenkt. Ich kann dir ihre Tagebücher zeigen, Xana. Sie hat alles aufgeschrieben.“
Ich wusste nicht warum, aber ich glaubte ihr. Auch wenn mir Joanna in diesem Moment wie eine Fremde erschien, so war sie meine Zwillingsschwester. Ich hätte es gespürt, wenn sie mich jetzt angelogen hätte. Trotzdem spürte ich, wie meine Beine nachzugeben drohten und setzte mich rasch wieder hin. „Ist Dad wirklich tot?“, schoss es aus mir heraus. Wenn alles, was ich über meine Familie zu wissen glaubte, eine Lüge war, dann war vielleicht Dad auch noch am Leben. „Ja, Xana, Dad ist tot.“ Ich sah den Schmerz in Joannas Augen und wusste, dass sie nicht log. Sie hatte Dad immer bewundert und geliebt, etwas, was ich nie verstanden hatte. „Er hat Paps Tod nie verkraftet. Und die Organisation hatte ihn überfordert. Ja, er ist tot. Genauso, wie unsere Großeltern Justyna und Don Carlos.“
„Dads Eltern sind tot?“ Ich war entsetzt. Großmutter Justyna hatte ich nie wirklich kennen gelernt, aber abuelo Carlos hatte ich in mein Herz geschlossen. Mit Tränen erinnerte ich mich daran, wie er meine Schwester und mich zu unserem 18. Geburtstag mit wunderschönen Kleidern überrascht hatte. Ich bekam ein Rotes und Joanna ein Weißes, beide im kubanischen Stil, dem Heimatland von abuelo Carlos. „Wie?“, hauchte ich. Joanna fiel es schwer weiter zu sprechen. Also war doch noch die Schwester in ihr, die ich einmal gekannt hatte.
„Abuelo Carlos hat unsere Großmutter erschossen. Kurz danach hat er sich eine Kugel in den Kopf gejagt.“ Ich sah meine Schwester entsetzt an. „Großmutter Justyna hatte zuvor versucht, Dad zu töten….dabei hatte sie aber mich statt ihm getroffen.“ Noch während sie sprach hob Joanna ihr Oberteil und enthüllte mir eine Narbe an der Seite ihres Bauches.
„Das war an meinem Hochzeitstag, Xana. Kannst du dir vorstellen, was damals in mir vorging? Ich stand da in meinem weißen Kleid, mit einem Blutfleck, der immer größer wurde. Und vor mir lagen meine erschossenen Großeltern. Dad war nicht mehr in der Lage klar zu denken und Paps war vom Krebs schon zu geschwächt. Tante Ewa, Dads jüngere Schwester, weinte bloß hysterisch. Also musste ich handeln. Ich musste die Leichen beseitigen und die Trauung durchziehen, als ob nichts gewesen wäre. An diesem Tag habe ich mich endgültig der Organisation angeschlossen, mit Herz und Seele. An diesem Tag erkannte ich zum ersten Mal, welche Verantwortung auf meinen Schultern lastete.“ Ich war geschockt. Es war einfach zu viel für mich. Zu viele Informationen, die auf mich niederprasselten.
„Hör auf, Jojo! Hör auf!“ Ich sprang vom Sessel auf und hielt mir die Ohren zu. Es war alles zu schrecklich. Doch sie hörte nicht auf. „Du, Xana, unser Bruder Orion und ich, wir sind jetzt für die Organisation verantwortlich. Wir müssen dafür sorgen, dass sie stark und auf Kurs bleibt, dass sie weiterhin so geführt wird, wie unsere Großmutter, Donna Justyna, es gewollt hat.“ „Nein, Jojo! Nein! Ich will nichts damit zu tun haben. Ich will nichts von dieser Organisation wissen.“
Plötzlich verfinsterte sich der Blick meiner Schwester. „Es spielt keine Rolle, was du willst, Xana. Du bist eine Brodlowska und du wirst mir helfen. Bis jetzt habe ich dir deine Freiheit gelassen. Ich wusste, wenn es darauf ankommt, würdest du zur Familie halten. Ich will mich nicht in dir getäuscht haben.“ Die letzten Worte waren eine klare Drohung, die mich erzittern ließen. Doch ich blieb hart. „Ich will nichts mit deiner Organisation zu tun haben“, erklärte ich entschieden.
Plötzlich zeigte sich ein bittersüßes Lächeln auf den Lippen meiner Schwester, welches ich noch nie zuvor an ihr gesehen hatte. Und dieses Lächeln jagte mir eine viel stärkere Angst ein, als es jede Drohung vermocht hätte. „Oh, du wirst mir helfen, Xana. Du willst doch nicht, dass dein Mann zufällig von der wahren Vaterschaft seiner Ältesten erfährt“. Joanna hätte einen Dolch in mein schlagendes Herz rammen können und mich doch nicht mehr verletzt. „Das würdest du nicht machen, Jojo. Wir sind doch Schwestern“. Ich weinte. Ich wollte es nicht, aber ich weinte.
„Das liegt ganz in deiner Hand, Xana.“ Joanna lächelte immer noch. „Ich möchte deiner Familie doch nicht schaden, Schwesterherz. Ich weiß doch, wie wichtig sie dir ist. Du bist ein Familienmensch, Xana. Und deshalb wirst du doch einsehen, wie wichtig es ist, mir, deiner Schwester, zu helfen. Deine Familie zählt auf dich.“
Ich wollte schreien. Ich wollte die Bilder von der Wand reisen und sie zertrümmern. Ich wollte die Vase neben mir schnappen und sie meiner Schwester ins Gesicht schleudern. Doch ich konnte nicht…ich durfte nicht. Nicht wenn ich Dominik nicht verlieren wollte. Nicht wenn ich einem Vater sein Kind und einer Tochter ihren Vater entreißen wollte. Joanna hatte mich in der Hand und das wusste sie. Ohne Hoffnung auf einen Ausweg sackte ich zusammen und gab nach. „Was soll ich für dich tun, Joanna?“