Kapitel 2
"Sssscht!" Papa wischte mir eine Träne aus dem Gesicht. "lass uns hinsetzen." Er zog mich zum Sofa. Meine Knie waren butterweich und er musste mich stützen. Ich fühlte mich hundeelend. Wieso hatte ich nicht bis Morgen gewartet und ganz in Ruhe mit Papa geredet? Mama fand sowieso immer einen Grund an mir zu nörgeln und nun hatte ich ihr auch noch eine richtig schöne Vorlage gegeben! Jetzt war ich total unten durch!
Als ob er meine Gedanken lesen konnte sah mein Vater mich an und versuchte mich aufzumuntern:
"Lass den Kopf nicht hängen, so schlimm wird es schon nicht werden!"
Ich brach erneut in Tränen aus. "Du darfst mich nicht alleine bei Mama lassen! Du weißt doch das sie mich hasst!"
"Pia! So etwas möchte ich nicht noch einmal hören! Deine Mutter hasst dich nicht!" Er wechselte schnell das Thema: "Außerdem kannst du an den Wochenenden zu mir kommen und in der Woche seht ihr euch doch kaum! Ein Schulwechsel wäre jetzt völliger Unsinn! In vier Monaten ist das Jahr vorbei! Danach können wir immer noch sehen, ob du die Oberstufe woanders besuchen kannst!"
Für ihn war das Thema erledigt.
"Komm, ich bringe dich ins Bett!"
Papa deckte mich zu und gab mir noch einen Kuss. Dann setzte er sich auf die Bettkante und summte mir das Schlaflied vor, das mir als Kind schon immer beim Einschlafen geholfen hatte.
Um ihn zu beruhigen tat ich nach ein paar Minuten so, als wäre ich tatsächlich eingeschlafen. Er stand auf und streichelte über meine Haare.
"Es tut mir so leid mein Schatz!" flüsterte er. "Ich habe es weiß Gott nicht so geplant!"
Er ging hinsaus und schloss die Tür.
Ein paar Minuten lag ich noch wach und dachte über mein trauriges Dasein nach, dann glitt ich in einen unruhigen Schlaf.
"Na Schwesterchen, soll ich dir auch eines meiner berühmten Sandwiches machen?" Jan grinste und schloss die Kühlschranktür. Er sah gut aus: Groß, schlank, blond, außerdem war er intelligent und höflich. Alle meine Freundinnen waren in ihn verliebt, genauso wie 90% der Mädchen auf unserer Schule.
"Nein danke!" grinste ich zurück, "Ich habe schon gegessen!" Jan hatte sicherlich viele Talente, aber Kochen gehörte nicht dazu.
Hätte ich gewusst, was an diesem Tag passieren würde, dann hätte ich bestimmt anders reagiert!
"Wir sehen uns heute Abend!" hatte ich gerufen und war aus dem Haus gelaufen.
Leider sah ich Jan nie wieder. Auf dem Weg zur Schule nahm ihm ein Laster die Vorfahrt und das Leben! Er hätte an diesem Tag seine letzte Abi-Klausur geschrieben und ein glänzenden Notendurchschnitt erhalten. Er wollte Medizin studieren und eine Familie haben, aber innerhalb einer Sekunde war sein Leben ausgelöscht!
Wir waren alle am Boden zerstört. Aber meine Mutter traf es am härtesten! Jan war ihr Goldkind gewesen. Der Mittelpunkt ihres Lebens! Ihr Wunschkind! Während ich nur ein Unfall war und ihren Zukunftsplänen im Weg stand. Sie bevorzugte Jan wo sie konnte und ließ mich immer wieder spüren, das ich ein Eindringling war, der ihr Familienglück störte!
Um so mehr ich mich um ihre Anerkennung bemühte, desto mehr schien sie mich zu ignorieren!
Man müsste meinen, daß sich nach Jans Unfall alles ändern sollte, aber es kam anders...
Mama fiel in eine Depression und stand wochenlang nicht aus dem Bett auf. Mein Vater und ich taten unser Bestes um es ihr Recht zu machen, aber nichts schien ihre Laune zu verbessern.
Ich kam grade aus der Schule und wollte in mein Zimmer, als ich Stimmen aus dem Schlafzimmer hörte.
"... eine 2 in Chemie. Und beim Tennis macht sie große Fortschritte!" hörte ich meinen Vater sagen. Ich spähte um die Ecke. Meine Mutter saß auf dem Bettrand und machte ein grimmiges Gesicht.
"Jan war in ihrem Alter schon Bezirksmeister und seine Noten waren um einiges besser als Pias!" schnaubte sie verächtlich.
"Jan ist TOT!" sagte mein Vater ein wenig zu grob zu meiner Mutter.
"Ich weiß!" flüsterte sie "Ich wünschte nur Pia wäre es an seiner Stelle!" Mein Vater holte aus und gab meiner Mutter eine Ohrfeige. Ich rannte in mein Zimmer.
Ich war 13 Jahre alt. Von diesem Tag an muss ich mit der Gewissheit leben, daß meine Mutter mich hasst!
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