Beiträge von Innad

    Kapitel 10



    Tessa schlug die Autotür hinter sich zu und atmete tief durch, als sie vor ihrem Elternhaus stand. Sie betrachtete es - den gepflegten Garten, den grünen, auf den Zentimeter genau gemähten Rasen, die hellen Fensterfronten, die dank Tru immer glänzten und funkelten, als wissen sie nicht, dass es etwas wie Staub gäbe...
    Normalerweise erfüllte sie ein Gefühl von Geborgenheit und Heimat, wenn sie nach Hause kam, doch heute sträubte sich alles in ihr dagegen, in dieses Haus zu gehen.
    Ein Blick ins Wohnzimmer verriet ihr, dass ihre Eltern nicht zu Hause waren. Erleichtert seufzte sie auf, sie hätte im Moment keine Nerven dafür gehabt, sich mit ihnen auseinander zu setzen.
    In ihrem Zimmer angekommen ließ sie sich auf die Couch fallen. Es war still, nur das fröhliche Zwitschern eines Vogels drang von draußen ins Zimmer, sowie das Rauschen der sich langsam verfärbenden Blätter der Bäume.
    Tessa seufzte schwer.



    Sie fühlte sich heute noch hilfloser und trauriger als sonst. Noch nie hatte sie Jess so fertig und abgespannt gesehen – und das schlimmste war, dass sie genau wusste, dass eben jener Anblick, der sich ihr heute geboten hatte, nur die Spitze des Eisberges darstellte – er hatte vermutlich recht aufgeräumt ausgesehen, dafür, dass er mal wieder unter leichten Entzugserscheinungen litt.
    Manchmal rutschte sein Ärmel ein Stück nach oben und entblößte den erschreckenden Anblick von kleinen Einstichstellen, die teilweise von hässlichen Blutergüssen umrandet waren. Jedes mal wenn Tessas Blick über diese so verräterischen Zeichen seines „anderen Lebens“ streifte, schien sich ihr Herz zusammenzuziehen und hin und wieder packte sie das Gefühl, Jess zu schütteln, anzuschreien, zu ohrfeigen – wie ein ungezogenes Kind, und das alles nur, um irgendein Ventil für ihre Angst zu finden.
    Doch selbst das würde nichts helfen, das wusste sie. Sie musste ihn so nehmen, wie er war… so schwer und unmöglich das auch schien.
    Tessa sah vor ihrem inneren Augen das erschöpfte Gesicht von Jess auftauchen und spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete. Erfolglos schluckte sie gegen die Tränen an, die ihr in die Augen stiegen und gab ihren Widerstand schließlich auf und schluchzte hinter vorgehaltenen Händen: „Ach Jess! Wenn ich doch nur wüsste, wie ich dir helfen könnte! Könntest du doch nur aufhören, dieses gottverdammte Zeug zu nehmen!“



    Tessa wischte sich die Tränen aus den Augen. Was half es schon, wenn sie weinte und schluchzte – es änderte nichts.
    Wieso konnte Jess kein normaler junger Mann sein? Er wäre der beste Mensch, den sie gekannt hätte… das beste, war ihr je passiert wäre…
    Tessa spürte, wie sie ein schlechtes Gewissen überkam. War es das nicht auch so schon…?



    Das Klopfen der Tür riss sie aus ihrem Gedankenstrom. Sie hatte nicht bemerkt, dass ihre Eltern zurückgekehrt waren. Schnell wischte sie sich die letzten Tränenspuren aus dem Gesicht und stand auf, als ihr Vater ins Zimmer trat.
    „Hallo Tessa!“
    „Ich hab euch gar nicht kommen hören“, sagte sie schnell. „Wo… wo ward ihr denn?“
    Ihr Vater sah sie ernst an. „Dasselbe könnte ich dich fragen…“
    Tessa schluckte und spürte, wie sie ein ungutes Gefühl beschlich.
    „Was meinst du?“



    „Niklas war vorhin bei uns. Er sagte uns, dass er nichts von einem Treffen mit dir wüsste. Wenn also Niklas bei uns war und du fort, so frage ich mich, wo du warst und viel mehr noch, warum du uns sagtest, du habest eine Verabredung mit Niklas?“

    @Luxa/SCW: :D Oho, ein neuer Name :) VIelen Dank für Deinen KOmmi, freut mich, dass Dir die Bilder gefallen, hab mal ein bißchen mehr dran gebastelt als sonst ;)



    Ines: Du Liebe, wieder so ein toller Kommi von Dir! Ja, Du hast recht- Tessa sollte achtgeben, dass sie sich nicht in einem Sumpf aus Traurigkeit ziehen lässt von Jess. Er selbst ist zur Zeit nicht in der Lage, Licht am Ende des Tunnels zu sehen sozusagen, das stimmt.



    Kiara: Ok, dann hab ich Dich falsch verstanden :D

    Zu Deiner Theorie: :roftl:roftl Ich sag nix!!!!




    Dani: Danke für deinen lieben Kommi! Ja, Jess tut einem auch wahnsinnig leid... man würde so gerne helfen, aber wie??? Das ist ja genau das, was Tessa so traurig macht.

    Juhuu, endlich eine Fortsetzung!

    Mensch, nun tut mir ja Eric fast leid. Antoinette ist ja schon hart zu ihm. Ich find es toll und mutig von ihm, dass er es ihr gesagt hat. Ich meine, es ist ja keine echte Affäre - ein Ausrutscher, nichtmal von ihm iniziiert! Sie wird ihm das doch wohl verzeihen... ich meine, jeder Mensch macht Fehler...

    Ich kann gut verstehen, dass sie etwas Zeit zum Nachdenken braucht und deswegen zu ihren Eltern geht.

    Was mich nur etwas verwirrt ist, dass sie zuerst nur von einer Nacht spricht und am Schluss hört sich das so endgültig an :eek::confused:

    Sie wird ihn ja wohl nicht wirklich verlassen, also endgültig? Das wäre sehr schlimm, auch für die beiden Kinder...


    Hoffentlich wartest Du nicht zu lange mit einer Fortsetzung!

    „Ich muss dir nicht alles auf die Nase binden.“ Innerlich gratulierte er sich zu seinem entschlossenen Tonfall.
    Wieder war es Susan, die fröhlich kicherte und Oberwasser hatte. „Schon klar. Ich gehe hier nicht eher weg, bis ich weiß, WER sie ist.“
    „Du kennst sie nicht, Susan. Lass mir doch mein Geheimnis. Es war ohnehin nichts Besonderes. Eher ein One-Night Stand.“ Im nächsten Augenblick schämte er sich schrecklich. Sich selbst und allen voran Marie gegenüber. Es war nicht fair, sie dermaßen zu verleugnen. Doch blieb ihm etwas anderes übrig?
    „Wie bitte?“ Konsterniert musterte Susan ihren Bruder.



    „Das passt doch gar nicht zu dir – das glaub ich nicht. Du willst mich nur vom Thema abbringen. Erzähle mal, wer ist sie?“
    Er begann, sich wirklich über diese bohrenden Fragen zu ärgern. „Susan, nun lass mich doch endlich zufrieden. Ich kannte sie doch erst ein paar Stunden. Es hat sich so ergeben. Beide hatten wir zu viel getrunken. Der Abend war perfekt und es passte einfach alles – so kam es über uns. Das war es aber auch. Ungezwungen und ohne Verpflichtungen.“
    Erschrocken hielt sich Susan eine Hand vor den Mund. „Du meinst das wirklich ernst, oder? Cedrik, so kenne ich dich gar nicht.“



    Das wiederum störte ihn auch gewaltig. Susan sollte kein schlechtes Bild von ihm bekommen. Doch wenn er Marie damit schützen konnte, musste er das wohl auf sich nehmen. Doch ein Leben ohne Susan war genauso unvorstellbar wie ohne Marie… Ach Marie!
    Kurz überlegte Cedrik, ob es nicht besser war, Susan die Wahrheit zu sagen. Wenn man es genauer betrachtete, hatten die Stunden mit Marie nichts mit ihm und Susan zu tun. Genauso würde es auch der Freundschaft zwischen Susan und Marie keinen Abbruch tun. Aber er kannte Susan nun mal besser wie jeder andere auf diesem Planeten. Trotz der seltenen Besuche waren sie einander sehr nah.



    Konnte, durfte er diese besondere Geschwisterliebe zerstören?





    Fortsetzung folgt!



    Text by FunnyChrissy
    Fotos by Innad

    Kapitel 6
    Geschwisterliebe



    „Was wird das, wenn es fertig ist?“ Leicht schwankend war sie vor ihm gestanden und hatte ihn etwas verwirrt angesehen. Es war auch wirklich eine unmenschliche Zeit, um am Küchentisch zu sitzen und einen Kaffee zu trinken. Zugegeben, es gab gewiss nicht viele Menschen die versuchten, sich um ein Uhr nachts mit einem pechschwarzen Gebräu abzulenken.



    „Ich trinke Kaffee!“ Ironisch hatte das geklungen, zweifellos.
    „Danke, das sehe ich selbst. Nur ist mir nicht ganz klar, warum du das ausgerechnet um diese Uhrzeit tust. Gegen Schlaflosigkeit hilft eher ein heißer Kakao.“ Verschlafen wischte sich Susan über ihre Augen.
    Cedrik hob kurz seinen Kopf, blickte seine Schwester mit einer Mischung aus Hilflosigkeit und Verwirrtheit im Gesicht an und widmete sich umgehend wieder seiner Tasse.
    Diese tippte ungeduldig mit den Fingerspitzen auf den Tisch. Etwas, das sie immer tat, wenn sie nicht weiter wusste.
    „Susan, du machst mich nervös. Könntest du das bitte sein lassen?“ Ärgerlich musterte er sein Gegenüber.
    „Nur, wenn du mir sagst was eigentlich mit dir los ist.“ Auffordernd warf ihm seine Schwester einen wütenden Blick zu.



    Er zuckte scheinbar unwissend mit den Schultern. „Was soll los sein? Darf ich jetzt nicht mal Kaffee trinken oder was?
    „Cedrik, du bist so komisch. Ich erkenne dich nicht mehr wieder. Als du hier angekommen bist war alles wie immer. Doch seit vorgestern ist etwas anders. Du wirkst total abwesend, ein Gespräch mit dir ist so gut wie unmöglich, weil du einfach keine Antwort gibst. Mir ist, als würdest du regelrecht meine Nähe meiden. Du weichst mir aus, warum Cedrik?“
    Wieder bekam Susan erstmal keine Antwort. Cedriks Gedanken schweiften erneut ab. Vor seinem inneren Auge erschien ein schmales Gesicht, welches von großen, strahlenden Augen beherrscht wurde. Rehbraun waren diese und von solch intensivem Glanz, dass ihm ganz flau im Magen wurde.



    Er fragte sich bis heute, ob diese „Diamant-Augen“, wie er sie insgeheim nannte, immer so glitzerten oder es auf ihn zurückzuführen war. Darunter saß eine kleine, hübsche Nase, ein fein gezeichneter Mund und ein schmales Kinn. Die Wangenknochen stachen minimal hervor, was das Gesicht ein wenig energisch wirken ließ. Ihre Wangen waren rund und rosig. In ihren Mundwinkeln zeichneten sich zwei Grübchen ab, was das Gesicht noch anziehender wirken ließ. Ihre vollen Lippen verführten direkt zum Küssen. Wie gern dachte er an den seidigen Schimmer ihrer Haut. An das braune, wie Gold glänzende, lange Haar.
    Es war ihr in weichen Wellen auf die Schultern gefallen, leicht durchgestuft… es passte hervorragend zu ihrem Typ. Jedes Detail hatte sich in sein Gedächtnis geprägt. All das sah er vor sich – binnen weniger Sekunden. Sie war in seinem Herzen und er befürchtete fast, daraus würde er sie so schnell nicht wieder heraus reißen können. Wollte er das überhaupt?
    „Ach Marie, ich liebe dich!“
    „Was ist?“ Die Stimme seiner Schwester riss ihn aus seiner Träumerei.
    Erschrocken erwachte er aus diesem tranceähnlichen Zustand. Hatte er gerade wirklich seine Gedanken laut ausgesprochen?
    Das Gesicht seiner Schwester machte ihm schnell klar, dass dies tatsächlich der Fall war. Jedoch hatte er absolut keine Ahnung, wie deutlich seine Stimme geklungen hatte.



    „Du liebst WEN?“ Jetzt wandelte sich Susans Gesichtsausdruck, wurde wissend, neugierig, aufhorchend. Sie kicherte freudig. „Jetzt verstehe ich dein Verhalten! Du bist verliebt! Mein kleiner Bruder hat sich verliebt!“ Begeistert klatschte sie in die Hände.
    Cedrik hingegen sandte einen Stossseufzer gen Himmel. Zum Glück hatte sie den Namen „Marie“ überhört.
    Ihm war allerdings auch klar, dass er Susan nun nicht einfach so abfertigen konnte. Gebannt hing sie an seinen Lippen. Immer darauf bedacht, kein Wort zu verpassen. Doch was sollte er ihr erzählen? Er konnte unmöglich von dem zarten Frühlingsduft erzählen, welchen er noch heute in der Nase spürte. Mehr als einmal hatte er seine Nase in ihrem duftenden Haar verschwinden lassen, um diesen betörenden Duft aufzunehmen. Auch ihre Haut roch nach einer wahren Blütenpracht. Doch DAS seiner Schwester sagen? Unmöglich.
    „Mensch Brüderchen, spann mich nicht so auf die Folter. Ich bin schließlich älter als du und muss auf dich aufpassen.“ Sie legte den Kopf leicht schief, was ihr ein keckes Aussehen verlieh.



    Er lächelte leicht. „Meinst du? Ich hab eher das Gefühl, dass ich der Ältere bin. Zumindest was das Leben an sich betrifft.“ Was redete er da für einen Blödsinn? War es vielleicht vorbildlich gewesen, als er sich vor einigen Stunden total hatte gehen lassen? War es vorbildlich gewesen, nach ein paar Blicken mit einer völlig Fremden zu schlafen? NEIN! Und doch….VERDAMMT! Er bereute keine einzige Sekunde.
    „Lenk nicht vom Thema ab. Nun sag schon. Wer ist sie? Wie sieht sie aus? Wo habt ihr euch kennen gelernt?“ Mit einer aufgeregten Handbewegung untermalte sie die Dringlichkeit dieser Worte.
    Panisch suchte Cedrik nach einem Ausweg aus dieser Lage. Er wusste, wie Susan an ihm hing. Wie wichtig er für sie war. Ob sie es einfach so hinnahm, dass er ausgerechnet mit ihrer besten Freundin geschlafen hatte… das bezweifelte er. Noch dazu nach einer doch relativ kurzen Zeitspanne. Bei diesem Gedanken hätte er beinahe trocken aufgelacht. KURZ war noch leicht untertrieben.
    Er versuchte, sich in seine alte Gelassenheit zu retten. „Was du dir schon wieder zusammen reimst. Es ist alles in Ordnung. Mir schwirrt derzeit nur viel im Kopf herum. Warum denkt ihr Frauen immer, dass sich alles nur um euch dreht?“



    Susan lachte. „Du täuschst mich nicht. Ich kenne dich in- und auswendig. Mir kannst du nichts vormachen. Du tust nur immer so stark und hart. In Wirklichkeit hast du ein Herz aus Gold, bist feinfühlig und sensibel. Also, jetzt rede schon.“
    Genervt blies sich Cedrik eine nicht vorhandene Haarsträhne aus der Stirn. Diese Geste wirkte direkt hilflos. Er fühlte sich regelrecht gefangen und sah keine Chance, dieser Situation zu entkommen.

    Ines: Mal wieder einen riesigen Dank für diesen tollen, ausführlichen Kommi! Es ist wahnsinnig toll, wie Du Dich in die Storys reinfühlst, das ist das allergrößte Kompliment, das Du uns machen kannst!! :)

    Ja, Du hast recht - es könnten schon einige Stunden vergangen sein, man weiß es nicht genau, was Susan mitten in der Nacht oder am späten Abend noch hinausgetrieben hat. Aber vielleicht erfährt man es bald ;)

    Wie schwer sie verletzt ist, werdet ihr auch bald erfahren! Versprochen!

    Danke für Dein Lob, das freut uns riesig!


    Kiara: ist doch logisch, dass wir an der Stelle aufhören ;)

    Ja, die beiden halten Händchen, das stimmt. Ich weiß nicht genau, ob man in solch einer situation nicht froh ist, wenn man sich im wahrsten Wortsinn an "jemandem festhalten" kann...? Abgesehen davon - ja, man weiß ja zumindest, dass Marie schon etwas für Cedrik empfindet. Seine Empfindungen kennt man freilich noch nicht, aber das erfahrt ihr schon sehr bald.

    Danke für Deinen lieben Kommi!



    Rivendell:
    Irgendwie macht man als Kind schnell schlechte Erfahrungen im Krankenhaus, nicht wahr? Kenn das auch.

    Traust du uns wirklich zu, dass wir Susan sterben lassen :eek: Obwohl :rollauge.... :roftl Du wirst es ja sehen! Auch Dir vielen lieben Dank für diesen schönen Kommi!



    Und hier kommt auch schon Kapitel 6! Viel Spaß!

    Kapitel 9



    Im Auto schossen Tessa hunderte von Gedanken durch den Kopf.
    Natürlich hatte sie gewusst, dass ihre Mutter in etwa so denken würde wie sie es gesagt hatte. Und doch war sie geschockt über die Härte und Achtlosigkeit ihrer dahin geworfenen Worte. Wieso waren ihre Eltern nicht fähig hinter die Schicksale dieser Menschen zu sehen? Wer war schon gerne drogenabhängig? Nur weil ein Mensch Fehler machte, konnte man ihn doch nicht aufgeben, ihn als überflüssigen Bestandteil einer Gesellschaft ansehen.
    Das Problem lag einfach darin, dass viele Menschen sich für völlig immun gegenüber jedwedem Unheil zu halten schienen. So lange man glücklich und behütet lebt, ist die Vorstellung, in derartige Schwierigkeiten zu kommen, weit fort. Doch hätte nicht auch sie selbst, Tessa, unter Umständen in Jess` Situation kommen können? Ihre Kindheit und Jugend war wohl behütet, aber nicht einfach gewesen. Wer konnte schon sagen, ob aus diesem einen Joint nicht irgendwann mehrere geworden wären und sich die Situation irgendwann verschlimmert hätte bis zu einem Punkt, an dem Jess nun war? Gab es für so etwas überhaupt Garantien? Tessa glaubte nicht daran.



    Sie ließ die vergangenen fünf Wochen mit Jess Revue passieren. Obwohl beide so unterschiedlich waren, hatten sie bemerkt, dass sie auf der gleichen Wellenlänge schwammen. In diesen fünf Wochen hatten sie sich darum fast täglich getroffen, fast immer brachte Tessa etwas zu essen oder trinken mit und Jess hatte seine anfängliche Scham, ihre Gaben anzunehmen, schnell überwunden. In diesen fünf Wochen hatte Tessa ihn nie unter irgendwelchen Entzugserscheinungen oder in anderen extremen Situationen gesehen.
    Er hatte ihr gesagt, dass er die Drogen meist früh morgens und am Abend nahm, so war er in der Mittagszeit meist sehr entspannt und fast „normal“.
    Natürlich hatte es immer wieder Tage gegeben, an denen sie ihm angemerkt hatte, dass er zu wenig bekommen hatte – er war dann nervöser, fahriger und auf eine unbeschreibliche Art weniger gegenwärtig als sonst.
    Tessa hatte bisher niemanden von Jess erzählt – und nach dem Gespräch am Vorabend war sie froh, dass sie sich so entschieden hatte. Erst jetzt wurde ihr klar, in welcher wohlbehüteten, aber mit Vorurteilen nur so überfluteten Gesellschaft sie groß geworden war. Sie seufzte und stellte den Wagen einige Straßen vom Bahnhof entfernt ab.



    Es gäbe wohl wenige ihrer Bekannten, die verstehen würden, warum sie sich mit Jess traf, warum ihr etwas an ihm lag – ihre Eltern als allerletzte.
    Was würde geschehen, wenn sie es eines Tages erfahren würden? Sie konnten nichts dagegen tun, sie war zwanzig und konnte tun und lassen, was sie wollte – sicher… Und doch würde es furchtbar schwierig werden.
    Tessa stieg aus dem Wagen aus und steuerte zu Fuß den Bahnhof an.
    Sie war traurig und fühlte sich in der momentanen Situation immer unwohler. Die ständige Geheimnistuerei, wo sie hinginge und wo all das Essen blieb, machte sie langsam mürbe. Aber das war nicht einmal das schlimmste. Was sie wirklich belastete, war diese Angst, die zusammen mit Jess in ihr Leben getreten war.


    Oft lag sie nachts wach und fragte sich, was er wohl gerade tat. Schreckliche Gedanken schossen dann durch ihren Kopf – Bilder von Jess, der unter schlimmsten Entzugserscheinungen litt, durchdrehte oder gar irgendwo tot am Boden lag – erschlagen, erstochen oder durch den eigenen „goldenen Schuss“ dieser Welt entrissen, die so ungerecht zu ihm gewesen war.



    Heroin war die schlimmste aller Drogen und Tessa wusste, dass ihre Sorgen alles andere als unbegründet waren.
    Einige Male hatte sie vorsichtig versucht, ihn erneut auf einen Entzug anzusprechen. Sie konnte einfach nicht begreifen, wie er sein junges Leben derart achtlos wegwerfen konnte – denn er war sich durchaus darüber bewusst, dass er auf diese Art und Weise nicht mehr lange weiterleben konnte – vielleicht ein oder zwei Jahre, so lautete seine eigene, traurige Prognose für sein eigenes Leben.
    Immer wieder hatte sie ihn sanft angesprochen, hatte sich vorher im Internet informiert, ja, sogar schon Adressen von Entzugskliniken im Umkreis herausgefunden. Doch Jess schüttelte jedes Mal heftig den Kopf.
    „Nein, Tessa – hör auf, in diesem Punkt auf mich einzureden. Ich kann nicht mehr. Du weißt nicht, wovon du sprichst, es hört sich so einfach an, wenn man es auf einem Blatt Papier liest, aber das ist es nicht. Ich hab es dreimal probiert bisher, das letzte Mal Anfang des Jahres. Nach drei Tagen hatte mich die Realität wieder – oder eher die Straße. Die Frustration war größer als alles andere – all die Qualen waren für die Katz und so wäre es wieder. Nein, ich werd das nicht mehr tun.“ Sein Gesicht drückte dann immer eine unnachgiebige Entschlossenheit aus, die Tessa signalisierte, dass sie nicht weiter bohren durfte.



    Am Bahnhof angekommen sah Tessa sich nach Jess um, ohne ihn entdecken zu können. Für ihre Verhältnisse war sie auch wirklich relativ früh.
    Nach einer Weile jedoch hörte sie seine inzwischen vertrauten Schritte und sah auf, als er sich neben sie auf die Holzbank setzte, auf der sie gewartet hatte.
    „Hallo Jess“, sagte sie lächelnd und griff in ihre Tasche, um ihm etwas zu essen zu geben. Doch er schüttelte den Kopf.
    „Nein, Tessa – ich… ich bin heute nicht hungrig.“
    Tessa sah ihn prüfend an. Er sah schlecht aus an diesem Tage, schlechter als sonst.
    „Fühlst du dich nicht gut?“ fragte Tessa besorgt und beugte sich zu ihm.
    Jess seufzte, schüttelte den Kopf und sagte dann rasch: „Nein, mir geht es nicht gut heute – ich… ich sollte besser gehen.“
    Und er stand abrupt auf.



    Tessa sprang ebenfalls auf und hielt ihn sachte zurück. „Nein, Jess, bleib hier – bitte.“
    Jess sah sie hilflos an und sagte dann mit dünner Stimme. „Ach, Tessa – ich… ich habe Angst.“
    „Angst? Wovor?“ Tessa hatte ihn noch nie so niedergeschlagen erlebt wie heute und sein Anblick ließ ihr das Herz schwer werden.
    „Ich habe Angst, dass du mich eines Tages in einem anderen Licht sehen wirst… wenn du in eine Situation gerätst, in der ich nicht so bin, wie ich gerne wäre, wie du mich kennst… heute, das ist kein allzu schlechter Tag. Oft ist es noch viel schlimmer.“
    Tessa schluckte. „Was hast du genommen?“
    „Einige Pillen, die es ein bisschen besser machen.“ Er sah sie ernst an. „Tessa, bitte frag mich das nicht!“
    Betreten blickte Tessa zu Boden. Wieso blieben diese Dinge zwischen ihnen nur immer so unausgesprochen? Gaukelten sie sich nicht etwas vor, das nicht real war?
    Doch Jess unterbrach ihren Gedankengang, seine Stimme war sanfter geworden, als er fragte: „Was ist mit dir los? Du bist anders als sonst. Ist etwas geschehen?“
    Er sah sie ernst und forschend an.



    Überrascht blickte Tessa auf und in ihrem Gesicht spiegelte sich der Gefühlstumult wieder, den sie innerlich empfand. Selbst nach fünf Wochen schaffte Jess es immer wieder, sie mit seiner unglaublichen Einfühlsamkeit und dem Gespür für sie zu überraschen.
    Doch was sollte sie ihm schon antworten? „Meine Eltern halten dich für Abfall, der schnellstmöglich entsorgt werden sollte, abgesehen davon mach ich mir Tag und Nacht Sorgen um dich und reden kann ich mit keinem darüber, weil all meine Bekannten und Verwandten arrogante Spießer sind?“ Wohl kaum…
    Also zuckte sie nur mit den Schultern und sagte leichthin: „Ich hatte Streit mit meinen Eltern, das ist alles.“
    Sie war stolz darauf, dass ihre Stimme so gelassen geklungen hatte. Doch wieder einmal war Jess einen Schritt weiter als sie.
    „Wissen sie von mir?“
    Tessa stockte einen Moment der Atem, doch dann seufzte sie resigniert und schüttelte den Kopf.
    Jess lachte kurz auf, doch sein Lachen war bitter. „Sie würden dir wohl verbieten, mich zu treffen, oder?“
    Tessa sah auf und ihr Gesicht verzog sich. „Das können sie nicht. Ich bin fast zwanzig, vergiss das nicht.“



    „Außerdem“, fügte sie etwas ruhiger hinzu. „Außerdem bist du nur ein guter Freund. Was sollten sie dagegen einzuwenden haben?“
    Beide sahen sich schweigend an, und beide wussten, dass es tausende gute Gründe gab, die gegen ihre Freundschaft sprachen – doch sie schwiegen, bis Jess müde lächelte.
    „Du hast vermutlich recht. Ich bin froh, dass du da bist, Tessa. Einfach dass du bei mir bist. Dass es jemanden gibt, dem ich nicht egal bin…“
    Tessa lächelte ihn sanft an. Er sah so müde aus, so unendlich traurig und erschöpft.
    Sie griff nach seinen Händen und drückte sie einen Moment sachte. Er erwiderte ihre Berührung, seine Hände waren rau und kräftiger, als sie gedacht hätte – und fühlten sich in diesem Moment einfach nur gut an.



    „Alles wird gut“, flüsterte Tessa. „Irgendwann… irgendwann wird alles gut…“
    Jess richtete den Blick nach oben und sah sie an. Er lächelte, doch dieses Lächeln war voll solch unsagbarer Traurigkeit, dass Tessa sich abwenden musste, um ihm nicht die Tränen zu zeigen, die ihr in die Augen gestiegen waren...





    Fortsetzung folgt!

    @SCW: Danke für Deinen Kommi! :) Kann Dir nicht gerade verübeln, dass Du Tessas Eltern nicht gerade sympathisch findest!


    @ineshnsch: Ich bin einfach immer wieder sprachlos über Deine tollen Kommis! Du hast das so toll beschrieben, wie Du Tessas Eltern empfindest und genauso denke ich mir das grundlegend auch. Sie leben in ihrer eigenen Welt, die mehr oder minder hauptsächlich aus Arbeit und Geld besteht. Ok, das ist eben ihre Welt - aber sie sind kaum in der Lage, über den Tellerrand zu schauen. Und natürlich wünschen sie sich für ihre Tochter im Prinzip das gleiche Leben - gesichert, finanziell und sozial gesehen. Dass Tessa vielleicht etwas ganz anderes möchte, ist ihnen gar nicht klar, ist für sie evtl auch gar nicht wichtig.

    Ein super Kommi, Ines! Wie immer, vielen DANK!



    Kiara: Mh, ich sehe es schon ein wenig anders als Du. Ich denke, eine Rechtfertigung ist eine schlechte Kindheit nicht, schon gar nicht für "echte" Verbrechen wie Mord oder Vergewaltigung. Das wäre ja zu einfach. Aber ich denke schon, dass gerade das, was in unserer Kindheit geschieht, von uns als Kindern nicht veränderbar ist, denn wir sind eben noch sehr hilflos. Wenn man sich das so anschaut, sind ja auch fast alle "Traumen", die man als Erwachsener so hat, in der Kindheit verwurzelt. Darauf läuft immer alles zurück. Wenn das mistig läuft, da kann keiner was dafür. Dass manch ein Mensch daran zerbricht, ist dann nicht verwunderlich und ich hab da schon Verständnis für.

    Natürlich hätte ich im "real life" auch Angst vor Drogenabhängigen. Ich denke, letztlich ist es eben doch eine Story und nicht 100prozentig realistisch. Ich sag ja auch - ich find Tessa selbst eine Spur zu leichtsinnig oder gutgläubig. Das alles könnte auch noch böse in die Hose gehen und wirds vielleicht ja auch ;) , wer weiß.

    Was Niklas betrifft - ;) ich seh schon, Deine Spürnase sucht noch :D Mal sehen, ob Du die richtige Fährte hast ;)


    Danke auch DIr wieder für diesen schönen Kommi!



    Dani: Ich freu mich sehr, dass Du Dich meldest und keine Bange, ích wusste ja, dass Du ziemlich im Stress warst die letzte Zeit.

    Du hast recht - Jess tut mir auch sehr leid. Man würde ihn am liebsten an der Hand nehmen und förmlich aus der Sch... rausziehen. Leider geht das nicht so einfach, denn es liegt an ihm selbst, das zu tun.

    Ja, ihre Mutter ist sich eben nicht bewusst, was sie da plappert. Aber für Tessa muss es schlimm sein.

    Übrigens find ich es ja echt niedlich, wie sehr Du Dir Tessa und Jess als Paar wünschst. Aber da ist ja auch noch Niklas und zur Zeit sind Jess und Tessa einfach nur gut befreundet. ;)



    So, ihr Lieben, heute kommt Kapitel 9 - viel Spaß!

    Mh..... nun weiß ich wenigstens, wieso Rose Anna nicht angerufen hat. Ich hab mich ja doch schon schwer gewundert gehabt, denn ich konnte mir gar nicht vorstellen, wieso sie es nicht tun sollte, die beiden sind doch so eng befreundet.

    Dass Rose ihren eigenen Geburtstag vergessen hat, find ich ja zum Schießen :roftl Dieses Studium ist aber wirklich SEHR zeitraubend, nicht gerade märchenhaft, was ;)

    Und wessen Augen Casta da wohl erblickt? Sieht für mich fast nach Heinrichs Augen aus, ich kann mich aber auch irren.

    Wenn ich nun mal so spekulieren darf, könnte ich mir vorstellen, dass es wirklich Heinrich ist und Casta evtl diejenige ist, die ihn erlöst - durch den Kuss der wahren Liebe ???? Wer weiß, wer weiß :)

    Also mach bitte schnell weiter, ja? Ich bin SOOO gespannt.

    Erst einmal möchten wir uns bei euch für eure lieben Kommis bedanken!!!!


    @ineshnsch: Du hast vermutlich vollkommen recht damit, dass Marie sich besser ein paar Gedanken weniger machen würde über diese Nacht. Aber für sie ist das eben nicht so einfach. Sie hatte ihre klaren Vorstellungen, wie ihr Leben zu laufen hat - mh, oder eher, wie es NICHT zu laufen hat. Und diese Nacht hat all ihre Wertvorstellungen völlig durcheinander gebracht. Sie wollte sich immer für den "richtigen" aufheben zum einen. Dann auch noch mit dem Bruder ihrer besten Freundin. Sie schämt sich - am meisten natürlich vor sich selbst, aber auch vor allen anderen.

    Ich stell mir das schon doof vor, wenn man aller Welt immer recht uneinsichtig (und so muss man sich Marie wohl vorstellen) zu verstehen gegeben hat, dass man genau eine solche handlungsweise total daneben findet - und dann handelt man so mir nichts-dir nichts selbst auf diese Art und Weise... und das erschreckenste ist ja, dass man danach auch noch feststellt, dass das ja "eigentlich" gar nicht soooo schlimm war wie man dachte.

    Für Marie ist es diese Scham und die Verwirrung über sich selbst, die sie so sehr belasten. Die Sache an sich mag gar nicht so "schlimm" sein, aber für Marie ist es wirklich problematisch, sich damit abzufinden, dass sie nicht so perfekt ist wie sie gerne wäre.

    Dein Kommi war mal wieder sehr toll, vielen lieben dank! *knuddel*



    Jule: Auch vielen lieben Dank für Deinen Kommi! Das Lob bzgl der Bilder gebe ich an Chrissy weiter - sie hat das mal wieder supergut hinbekommen, finde ich.

    Susan ist natürlich an maries Konflikt nicht ganz unschuldig. Dass er Susans Bruder ist, macht das ganze noch schwieriger als es ohnehin schon ist - alleine weil sie immer wieder mit ihm konfrontiert sein wird. Wäre es irgendein Typ gewesen, dem sie nie wieder über den Weg läuft, wäre es vielleicht nicht ganz so doof für sie.

    Danke für Dein Lob bzgl der Teamarbeit! Chrissy und ich arbeiten da wirklich sehr eingespielt, das ist eine tolle Erfahrung für uns beide!




    Rivendell: Ein hessischer Gruss an Dich! :D
    Ich freu mich sehr, dass Du auch zu uns gefunden hast bzw. WIR freuen uns sehr.

    Warum findet Marie die Sache eigentlich so schlimm? Einiges hab ich ja schon bei Ines geschrieben - sie hat einfach ihre Wertvorstellungen, die sie hopplahopp in einer Nacht völlig über Bord geworfen hat. Kennst Du das, wenn morgens aufwacht und sich fragt, welcher Mensch man ist, weil man etas getan, gesagt oder gemacht hat, was man sich selbst nie zugetraut hat? Das eigene Bild, das man von sich hat, steht einem meistens am allermeisten im Weg.

    Stimmt, Susan sagte, Cedrik sei eine Sünde wert. Nur glaube ich, dass sie dentk, Marie wäre von allen die letzte, die jemals sündigen würde - passend zu ihrem Namen sozusagen *gg*
    Und ob sie so begeistert wäre, ihre Freundin und ihren Bruder teilen zu müssen - möglicherweise fände sie es toll, möglicherweise wäre sie aber auch supersauer. Alleine weil man es ihr verschwiegen hat? Wer weiß - keine Ahnung.

    Dass Marie mit Susan reden sollte, wäre bestimmt die beste Lösung. Vielleicht tut sie das ja auch noch? Schlecht wär es mal nicht.

    Danke Dir auch für Dein Lob bzgl unserer Bilder! Da freuen wir uns ganz besonders arg, Chrissy besonder, weil sie ja immer behauptet, sie könne das nicht *kopfschüttel* Ich denke, sie hat uns eines besseren belehrt *lach*


    ---


    @ALL: Leider muss ich Euch mitteilen, dass es mit der Fortsetzung, also Kapitel 5, noch ein wenig dauert. Chrissy steckt zur Zeit mitten im Umzugschaos und hat keine Zeit, zu posten.

    Da wir ab Kapitel 4 nicht mehr nur abwechselnd posten, weil wir teilweise mehr als ein Kapitel geschrieben haben, ist sie also nochmal dran :D und sobald sie ein wenig Land sieht, wird sie die Fortsetzung online stellen - spätestens nächstes Wochenende, versprochen! :)

    So lange danke für eure Treue und ich versichere euch, dass sich das Warten lohnen wird - wir haben uns bis zu diesem Punkt erst noch warm geschrieben ;) und im kommenden Kapitel wird es richtig spannend!

    Also bis dann und viele liebe Grüße von
    Innad und Chrissy

    Tessas Mutter seufzte ergeben. „Ja, okay, ich hab es verstanden. Ich find es nur so schade, er ist so ein netter Junge.“
    Tessa schoß mit einemmal der Gedanke durch den Kopf, was ihre Mutter wohl sagen würde, wenn sie mit einem Freund wie Jess nach Hause käme und als ihren Partner vorstellte. Sie würde durchdrehen.
    „Was findest du an Niklas eigentlich so toll?“
    Ihre Mutter sah sie erstaunt an. „Naja – er… er… hat einen guten Charakter. Er sieht gut aus, ist nett, höflich, stammt aus guten Verhältnissen und hat eine vielversprechende Zukunft. Er ist einfach perfekt.“



    Tessa spürte, wie ihr Herz ein Stückweit sank. Sie hatte befürchtet, dass ihre Mutter es genau so sehen würde.
    „Und – was wäre, wenn er einen genauso guten Charakter hätte, aber arm wäre?“ stieß sie hervor. Ihre Mutter blickte erstaunt auf.
    „Wieso fragst du das?“
    Tessa biss sich auf die Lippen, doch eine vernünftige Antwort fiel ihr nicht ein, also sagte sie. „Ich weiß nicht. Ich will es einfach wissen.“
    „Naja – ich fände es schon besser, wenn du einen Mann mit guten Umständen bekommen würdest, aber das ist nicht das wichtigste“, beschwichtige ihre Mutter. „So lang er keine Drogen nimmt oder stiehlt oder in der Gosse lebt.“ Sie lachte.
    Tessa jedoch war nicht zum Lachen zumute. „Und was wäre dann?“
    „Was soll dann sein? Solche Leute sind sozialer Abfall, wenn du mich fragst.“ Ihre Mutter betrachtete sich gelangweilt die Fingernägel. „Wenn ich schon nur diese Junkies am Bahnhof sehe. Ich verstehe einfach nicht, wieso die Polizei da nicht durchgreift. Ich würde sie einfach alle einsperren, damit sie die Bevölkerung nicht mehr belästigen.“



    Ihr Vater, der die ganze Zeit in seiner Zeitung versunken gewesen war, horchte kurz auf und warf ein: „Aber meine Liebe, denk doch mal daran, was das den Staat kosten würde.“
    „Na und, lieber ein paar Kosten mehr als dieses Geschmuddel...“
    Tessa konnte nicht mehr zuhören, wie ihre Eltern sich in einer Grundsatzdiskussion verstrickten, in der jedes Wort so verrächtlich gegen Menschen wie Jess war.
    Sie drehte sich um und verließ schweigend das Zimmer.



    In ihrem Zimmer kroch sie unter die Bettdecke, rollte sich ein wie ein Baby und weinte sich in den Schlaf…



    Als sie am kommenden Morgen aufwachte, fühlte sie sich schlechter denn je. Unter der Dusche versuchte sie, wieder klare Gedanken fassen zu können.



    Ihre Eltern mussten ja nichts von Jess erfahren, warum auch. Es war traurig zu erkennen, wie sie dachten – aber das änderte nichts an ihrer Loyalität zu Jess, der ihr in den letzten Wochen immer mehr ans Herz gewachsen war und mit dem sie inzwischen eine fast so innige Freundschaft verband wie mit Niklas.
    Frisch geduscht saß Tessa kurz darauf in ihrem Zimmer. Die Worte ihrer Mutter wollten ihr nicht aus dem Kopfe gehen. Sie fühlte sich elend und schuldig gegenüber Jess.
    Dass ihre Mutter so hart denken würde, war ihr nicht klar gewesen – mit einemmal realisierte sie, welche Kluft ihre Freundschaft zu Jess überbrückt hatte.
    Sie hatte immer gedacht, Klassenunterschiede seien etwas aus dem Geschichtsbuch – kein Wunder, sie war ja auch immer unter „ihresgleichen“ gewesen.



    Sie wollte gar nicht daran denken, was passieren würde, wenn ihre Eltern eines Tages herausbekämen, dass sie mit „sozialem Abfall“ – sie schüttelte sich bei diesen Worten – befreundet war…
    Tessa sah sich um und mit einemmal widerte sie alles in diesem Haus – ihrem Elternhaus – regelrecht an. Raschen Schrittes sprang sie auf und machte sie auf den Weg zu einem Menschen, der sie – wie sie bitter erkennen musste – bereits nach fünf Wochen besser verstehen konnte als ihre Eltern, die sie doch immerhin seit Beginn ihres jungen Daseins kannten...



    Fortsetzung folgt.

    Kapitel 8




    „Du bist so blaß, Tessa. Geht es dir gut?“
    Tessas Mutter musterte ihre Tochter mit einer Spur Besorgnis. Tessa sah auf und nickte.
    „Ja, Mama, es ist alles in Ordnung.“
    Es war Samstagabend und sie saß mit ihren Eltern beim Essen, das Tru ihnen am Tag vorher gekocht und kaltgestellt hatte – Tessas Mutter kochte nur höchst selten.
    Dass die Familie so gemütlich beisammen saß, kam selten vor und eigentlich hatte Tessa diese Augenblicke immer genossen, doch heute hätte sie sich am liebsten alleine in ihrem Zimmer verkrümelt. Hungrig war sie ohnehin nicht, also schob sie den halbvollen Teller beiseite.
    Tessas Mutter schien mit ihrer Antwort zufrieden zu sein und plauderte munter weiter: „Diese Woche habe ich in der Stadt ein tolles Kleid gesehen, das wäre genau das richtige für dich, Tessa. Wie wäre es, wenn wir uns diese Woche einfach in der Stadt treffen und zusammen shoppen gehen? Wir haben das schon viel zu lang nicht mehr gemacht.“



    Tessas Vater brummte belustigt. „Das sehe ich anders, wenn ich mir die Rechnungen des letzten Monats anschaue, meine Liebe. Aber so lang ihr damit glücklich seid, soll es mir recht sein.“ Er grinste Tessa verschwörerisch an und sie lächelte zurück.
    „Mama, das hört sich wirklich verlockend an, aber ich hab einfach zu viel Arbeit, ich kann nicht mittags gehen, wann ich will, ich hab feste Arbeitszeiten.“
    „Das nenne ich Pflichtbewusstsein“, sagte Tessas Vater mit unverhohlenem Stolz.



    Ihre Mutter ließ sich jedoch nicht beirren.
    „Aber wir müssen das unbedingt wiederholen, zur Not eben am Wochenende, vielleicht nächsten Samstag?“
    Tessa seufzte. Ihr stand der Sinn nicht danach, sinnloses Geld für Klamotten auszugeben, die sie so gut wie nie tragen würde – ihr Kleiderschrank platzte doch ohnehin aus allen Nähten.
    Abgesehen davon würde ihre Mutter mit großer Wahrscheinlichkeit am kommenden Samstag letztlich doch wieder keine Zeit haben – eigentlich umso besser. Darum nickte sie nur schweigend.



    Gemeinsam aßen sie zu Ende und während ihr Vater sich auf die Couch verzog, um seine Zeitungen zu studieren, sprach ihre Mutter Tessa plötzlich auf eine Sache an, die bei Mutter und Tochter meistens zu Konflikten führte.
    „Tessa, sag mal“, es sollte wie beiläufig klingen. „Wieso kommt Niklas in letzter Zeit eigentlich so selten zu Besuch? Habt ihr Streit?“
    Tessa seufzte. Sie hatte schon seit Tagen auf eine derartige Frage gewartet und gerade heute stand ihr überhaupt nicht der Sinn danach.
    „Mama, du sprichst von ihm, als seien wir immer noch zusammen.“
    Ihre Mutter zuckte gleichmütig die Achseln. „Ich weiß, ich weiß, ihr seid nur platonisch befreundet. Aber mir kommt das einfach spanisch vor. Bist du dir sicher, dass du nicht mehr verliebt in ihn bist?“



    Tessa zog die Augenbrauen hoch. Sie konnte nicht mehr zählen, wie oft sie dieselbe Frage mit ein- und derselben Antwort bedacht hatte: „Ja, ich bin sicher. Wir sind nur gut befreundet, mehr nicht.“ Und schnell fügte sie hinzu: „Abgesehen davon hat er seit einer Weile eine neue Freundin, Mutter. Das ist auch der Grund, warum er nicht mehr so viel Zeit mit mir verbringen kann.“
    Tessas Mutter sah ihre Tochter argwöhnisch an. „Bist du darum in letzter Zeit so verändert?“
    „Was heißt verändert?“ Tessa winkte ab. „Ich hab einfach viel zu tun. Außerdem – warum sollte es für mich wichtig sein, ob er eine Freundin hat oder nicht?“
    Ihre Mutter lächelte verschmitzt. „Ich denke oft, dass du ihn immer noch sehr magst.“
    Tessa seufzte ergeben. „Ja, das tu ich auch – als meinen allerbesten Freund, begreif das doch.“
    „Ich find es wirklich seltsam, dass du einen Mann zum Freund hast. Was ist mit all den Mädchen, die du kanntest?“
    „Mutter, du weißt genau, dass ich keine gute Freundin mehr hatte, seit Lena vor 5 Jahren aus der Stadt gezogen ist. Und unsere Clique hat sich einfach verstreut – die meisten anderen Mädchen sind in andere Städte gezogen, um dort zu studieren oder haben einfach keine Zeit mehr. Niklas ist mein bester Freund, das reicht – und himmel, du weißt das! Ich hab es dir schon hundertemale gesagt!“ Tessa sah ihre Mutter ärgerlich an.
    „Nun sei nicht so unwirsch“, erwiderte diese stirnrunzelnd. „Ich verstehe dich einfach nicht. Du hattest seit Niklas keinen Freund mehr. Da stimmt doch was nicht.“
    Tessa spürte, wie sich die Wut einen Weg durch ihren Magen in Richtung Hals bahnte. Mit ihrem letzten Funken Selbstbeherrschung sagte sie darum leise: „Nun leg doch nicht ständig den Finger in diese Wunde. Ich kann doch auch nichts dafür, dass ich bisher noch niemanden gefunden habe. Ich bin knapp 20, ich habe noch alle Zeit der Welt.“



    „Ich hab in deinem Alter bereits deinen Vater gekannt“, gab ihre Mutter ihr altklug zur Antwort. „Außerdem solltest du ab und an mal raus, nicht immer zu Haus sitzen und arbeiten und arbeiten. Du bist doch noch jung.“
    Tessa seufzte schwer. Es war sinnlos, als rede man gegen eine Wand aus zwei Meter dickem Beton. Also schüttelte sie nur den Kopf und versuchte, dem Gespräch ein Ende zu setzen. „Das war auch eine ganz andere Zeit bei dir. Und ich gehe oft genug weg – alleine morgen bin ich den ganzen Tag unterwegs, weil ich mich mit jemanden treffe.“
    „Und mit wem?“ fragte ihre Mutter sofort hellhörig.
    Tessa biss sich auf die Lippen. Sie hatte ihren Eltern noch nichts von Jess erzählt, auch wenn das erste Treffen mit ihm inzwischen fünf Wochen her war. Sie schalt sich selbst dafür, so unüberlegt gesprochen zu haben.
    „Mit – Niklas“, log sie schnell. Ihre Mutter lächelte, als wäre sie erleichtert.
    „Wie schön! Dann ist also doch alles in Ordnung zwischen euch!“
    Tessa starrte ihre Mutter an, als habe diese den Verstand verloren. Sie merkte, dass sie ihre Wut nicht mehr kontrollieren konnte und bevor sie etwas tun konnte, brach es aus ihr heraus. „Was soll das? DU hast gesagt, wir hätten Probleme, nicht ich! Du – du gehst mir auf die Nerven, Mutter! Du hast absolut keine Ahung, wie die Sache läuft! Zuerst denkst du, ich sei in Niklas verliebt, dann meinst du, wir hätten Probleme miteinander! Ich hab das nie gesagt, wie kommst du darauf? Hörst du mir überhaupt zu, wenn ich mit dir spreche?“



    Sie funkelte ihre Mutter zornig an. Diese wurde nun ebenfalls ärgerlich und antwortete säuerlich: „Wieso kann es dir nie jemand recht machen? Was ist nur los mit dir?“
    Tessa schüttelte den Kopf. „Ich weiß ja nicht, ob du es wirklich nicht verstehst oder es nur nicht verstehen WILLST. Ich liebe Niklas nicht mehr, ok?“

    cassio: Da hast Du vollkommen recht. Man lügt sich leider nur allzu oft selbst etwas vor. Ich denke übrigens auch, dass Tessa das in diesem Kapitel gemerkt hat. Sie hätte sich gerne vorgegaukelt, dass alles toll ist. Ich denke, grundlegend steht ihr das Mitleid für andere besser als das Eingeständnis an sich selbst, auch eigene Probleme zu haben.

    Dein Kommi war kurz - aber treffend! Vielen Dank! :)



    @ineshnsch: Diesen Satz von Dir find ich einfach hammergenial!

    Man kann reich oder arm sein, Glücklich ist immer der, der seinem Herzen folgt.



    Da hast Du so recht und das hast Du so toll formuliert, ich krieg da regelrecht Gänsehaut, wenn ich das lese.
    Und Du hast wirklich recht - auch Tessa merkt in diesem Gespräch, dass ihr Leben nicht so ist wie es sein soll. Sie fühlt sich stark und reich gegenüber Jess und das suspekte an der Situation ist, dass ausgerechnet er ihr aufweist, dass es auch in ihrem Leben Trauer und "Fehlen" gibt.

    Und ich denke auch, dass Du recht hast - Tessa will sich selbst eher nicht helfen lassen. Sie fühlt sich besser, wenn sie anderen hilft, zumindest momentan noch.

    Dein Kommi war mal wieder einfach nur wow! Vielen Dank!



    @SCW: Keine Angst, ich dachte mir schon, dass Du nur mitliest. Ich lese auch oft nur, weil mir Zeit und Muse zum KOmmentieren fehlen oder ich gar nicht so recht weiß, was ich schreiben soll. Bin aber trotzdem froh, wenn Du Dich meldest und wenn es auch nur ein Piep ist *lach*


    Schön, dass Du weiter dabei bist!



    So heute gibt es Kapitel 8. Viel Spaß dabei.

    „Wollten Sie nicht meine Bilder sehen?“
    „Aber natürlich.“
    Er zog eine Mappe mit Zeichnungen heraus und Tessa stockte der Atem, als sie die Gemälde durch ihre Finger gleiten ließ.







    „Jess… das ist wunderbar. Einfach wunderbar. Sie haben Talent, großes Talent.“
    Jess zuckte mit den Schultern. „Es nutzt mir nur leider nicht viel. Aber lassen Sie uns nicht von mir sprechen. Ich wollte vorhin wissen, ob Sie glücklich sind und ich warte immer noch auf eine echte Antwort.“
    Tessa stand auf und ging ein paar Schritte, er folgte ihr. Dann sagte sie langsam. „Manchmal fühl ich mich so alleine. Seit der Schule habe ich so viele Freunde aus den Augen verloren und – naja, es ist eben, wie es ist.“
    Sie sah ihn an und er lächelte sie sachte an. „Ich habe von Anfang an, als ich Sie im Supermarkt sah, gespürt, dass Sie ein gutes Herz haben, aber sehr sensibel und verletzlich sind. Oder etwa nicht?“
    Tessa zuckte erneut die Schultern. „Ich weiß es nicht. Wer ist schon nicht verletzlich?“



    Er lächelte wieder. „Haben Sie denn keinen Freund?“
    Tessa schüttelte den Kopf. „Nein, wieso? Dachten Sie das?“
    „Naja, warum nicht – Sie sind attraktiv und hübsch, warum sollte es anders sein?“
    Tessa sah verlegen zu Boden. „Sie schmeicheln mir.“
    „Nein“, sagte Jess schlicht. „Ich sage einfach nur, was ich sehe.“
    Die beiden schwiegen eine Weile und plötzlich merkte Tessa, wie sich Jess´ Körper anspannte.
    „Ich muss jetzt gehen, Tessa“, sagte er und seine Stimme klang auf einmal härter als vorher.



    Sie warf ihm einen raschen Blick zu. „Das ist schade. Ist… alles in Ordnung?“
    Seine Augen waren trüber geworden und ein banges Gefühl beschlich Tessa. Jess sah sie an und nickte, sein Lächeln war gequälter als vorher. „Ja, alles in Ordnung. Ich muss jetzt aber wirklich gehen.“
    „In Ordnung – ich verstehe.“ Tessa schluckte. Es war glasklar, dass Jess gehen musste, weil er eine neue Dosis Drogen brauchte. Seine fiebrige Nervosität wurde sekündlich schlimmer.
    „Passen Sie auf sich auf“, sagte Tessa darum nur rasch. „Ich – ich werde morgen oder übermorgen wieder herkommen, etwa zur selben Zeit. In Ordnung?“
    Jess nickte. „Ich werde versuchen, hier zu sein.“

    Mit diesen Worten verschwand er aus Tessas Augen. Diese jedoch blieb zurück und kämpfte gegen den dringenden Wunsch an, aufzuspringen und ihn zurückzuhalten.



    Sie spürte, wie ihr Körper leicht zu zittern begann, als sie an ihn dachte – an diesen wundervollen Mann, der ihr Herz mit seinen wenigen, wahren Worten so tief berührt hatte und der nun davon ging – um sich mit einer weiteren Dosis Heroin eben jenes unwirkliche, aber so herrlich scheinende Glück zu erkaufen, über das sie beiden noch vor wenigen Momenten so ernsthaft gesprochen hatten…


    Fortsetzung folgt!

    Tessa betrat die Bahnhofshalle und blieb einen Moment unschlüssig an der Tür stehen und sah sich um. Sie mochte diesen Ort nicht besonders gerne, aber heute hatte sie einen guten Grund hier zu sein. Ihr Blick schweifte über die vorbeihastenden Passagiere, Kinder, Senioren und Erwachsene, doch nirgends konnte sie Jess entdecken.
    Unschlüssig, was sie nun machen sollte, schlenderte sie ein wenig durch die Halle und setzte sich dann schließlich gegenüber des großen Springbrunnens in der Hallenmitte auf eine Bank, um geduldig auf Jess zu warten.



    Lange musste sie nicht ausharren, kurz darauf tauchten seine verschlissenen Jeans vor ihr auf und er winkte ihr lächelnd zu und setzte sich neben sie.
    „Sie sind also wirklich gekommen“, stellte er fest und warf ihr einen kurzen Seitenblick zu.
    Tessa nickte. „Das hab ich doch gesagt. Und ich hab hier was für Sie.“
    Sie nahm ein in Alufolie gewickeltes Päckchen aus ihrer Tasche.
    „Was ist das?“
    „Apfelkuchen“, sagte Tessa schlicht und drückte Jess das Päckchen in die Hand. Zögernd schaute er es an und sagte dann langsam: „Tessa, ich…“



    Doch Tessa schnitt ihm sofort das Wort ab. „Ich will nichts hören, Jess. Bei uns zu Haus bleibt jeden Tag eine Menge Essen übrig, während Sie fast jeden Tag hungrig sind. Das ist doch unsinnig. Es ist wirklich das geringste, was ich für Sie tun kann, also bitte schlagen Sie mir das nicht ab und seien Sie nicht zu stolz dafür. Es ist immer noch besser als…“
    Tessa unterbrach sich. „Als zu stehlen?“ vollendete Jess ihren Satz und Tessa blickte beschämt zu Boden. Jess lächelte aufmunternd. „Da haben Sie wohl recht. Nun gut – vielen Dank. Haben Sie den gebacken?“



    Tessa lachte auf. „Um Himmels willen, nein, ich will Sie ja nicht umbringen. Den hat Tante Tru gemacht.“
    Jess sah sie an. „Genau, Tessa – wir haben gestern nur von mir gesprochen, reden wir jetzt doch einfach mal von Ihnen.“
    „Was soll ich Ihnen da großartig erzählen?“ sagte Tessa achselzuckend.
    Er lächelte wieder. „Na, erzählen Sie mir von sich, von Ihrem Leben. Was machen Sie so, außer Ihrem Beruf, und sind Sie eigentlich glücklich?“
    Tessa sagte nachdenklich: „Was für eine Frage, im Vergleich zu Ihnen bin ich das absolut.“
    Jess runzelte die Stirn. „Ich wollte nicht, dass Sie Ihr Leben mit meinem vergleichen. Ich habe gefragt, ob Sie glücklich sind.“
    Tessa seufzte und richtete ihren Blick einen Moment unschlüssig in die Menge der vorbeihastenden Menschen. Dann sagte sie. „Ja, meistens schon. Glück ist ziemlich relativ, nicht wahr?“
    Jess nickte. „Und ob. Wie ist das, leben Sie noch bei Ihren Eltern? Kommen Sie gut mit ihnen aus?“
    Tessa sah ihn verblüfft an. Wie konnte das sein, dass ihr dieser völlig fremde Mensch so schnell hintereinander genau die richtigen Fragen stellte?
    „Nun ja- was man eben auskommen nennt“, antwortete sie langsam. „Sie sind ziemlich selten da, aber es ist nicht schlimm für mich. Ich bin ja erwachsen. Es war ohnehin schon immer so.“
    Die beiden schwiegen eine Weile und hingen ihren Gedanken nach, bis Jess sagte: „Sind Sie sicher? Dass es Ihnen nichts ausmacht?“
    Tessa sah ihn lange an. „Ja, ich denke schon. Natürlich war es nicht immer einfach, aber ich hatte ja Tru, unsere Haushälterin und… nun ja, ich hatte mehr Freiheiten. Das ist doch auch gut.“
    Jess erwiderte nichts und sagte nach einer Weile: „Und wieso sind Ihre Eltern so selten zu Haus?“



    Tessa seufzte. „Sie arbeiten ständig. Sie sind beide selbstständig, da bleibt nicht viel Zeit für alles andere übrig.“
    „Und Ihre Geschwister?“
    Tessa lachte, aber es klang bitterer als sie gedacht hatte. „Ich hab keine. Ich bin ein Einzelkind. Meine Eltern hätten für mehr Kinder gar keine Zeit gehabt.“
    Jessa sah sie lange und intensiv an und sagte dann schlicht: „Sie sind nicht glücklich, Tessa. Nicht wirklich.“ Seine Stimme klang sehr sanft. „Ich spüre das und ich sehe es. Da ist etwas, das Sie unglücklich macht. Oder?“
    Tessa sah ihn an und wusste nicht recht, was sie sagen oder fühlen sollte. „Nun… nein… Sie haben unrecht, Jess… ich bin glücklich… ich meine, Glück ist relativ…“



    „So relativ nun auch wieder nicht. Glück ist Glück“, erwiderte Jess nüchtern und wurde dann wieder sanfter: „Und das Leben ist es immer wert, Glück anzustreben, oder?“
    Tessa fand keine Worte und blickte auf ihre Fußspitzen. Wer war dieser Mensch, der da neben ihr saß? Hätte er ihr gestern nicht mit eigenen Worten gesagt, dass er drogenabhängig war, sie hätte es nicht geglaubt. Er war so sanft und einfühlsam wie niemand sonst, den sie kannte.
    „Jess – ich bin verwirrt“, sagte sie nach einer Weile zu ihm. „Ich meine, wir kennen uns noch keine zwei Tage und schon haben Sie erkannt, wo ich meine wunden Punkte habe. Wie machen Sie das bloß?“
    Jess zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Ich hab schon so viel gesehen und gehört, dass ich es vermutlich gelernt habe, in die Menschen zu sehen. Man glaubt gar nicht, wie viel von dem, was man den anderen zeigt, nur Maskerade ist.“



    Gerührt sah Tessa ihn an. Seine Worte erreichten sie bis ins tiefste Herz.
    „Ja, Jess“, sagte sie langsam. „Sie SEHEN die Menschen. Sie fühlen sie.“

    Kapitel 7




    An diesem Abend fühlte Tessa sich vollkommen erschöpft, als sie nach Hause kam. Sie sprang unter die Dusche und hüllte sich sofort in einen Schlafanzug, auch wenn es noch nicht spät war. Kurz darauf lag sie im Bett und versuchte, sich mit einem Buch abzulenken, doch das funktionierte nur bedingt. Während sie mehrere Minuten auf ein und dieselbe Seite starrte, ohne die Worte auf dem Papier auch nur wahrzunehmen, schossen ihr zahlreiche Gedanken durch den Kopf.



    Wo war Jess jetzt, was tat er in genau diesem Moment?
    Sie ließ den Nachmittag noch einmal Revue passieren und erneut beschlich sich das Gefühl, unter der Ungerechtigkeit der Welt die Luft anhalten zu müssen.
    Sie hatte nie gedacht, dass sie einmal von solch einem Leid so nah berührt werden würde. Natürlich war ihr klar, dass Jess´ Geschichte nur eine von vielen war – es mochte schlimmere und traurigere geben. Und doch – theoretisch wusste man über alles Bescheid, was in der Welt vor sich ging. Doch wenn einem das Schicksal eines anderen so nahe kam wie ihr das von Jess´ fühlte sich mit einemmal alles anders an.
    An der Haustür klingelte es und Tessa setzte sich auf. Wer mochte so spät noch zu Besuch kommen, es war nach neun Uhr. Das konnte ja fast nur einer sein…
    „Hallo Niklas!“
    Niklas steckte vorsichtig den Kopf zur Türe herein. „Bist du noch wach?“
    „Sonst würde ich wohl kaum mit dir sprechen.“
    Tessa stand auf und ging barfuss auf ihn zu. Sie umarmten sich lächelnd.



    „Anscheinend ist es momentan unser Schicksal, dass du mich im Schlafanzug siehst.“ Sie lächelte.
    Niklas grinste zurück. „Ich werde es schon überleben.“
    „Was machst du hier?“
    „Ich hab mir Sorgen um dich gemacht. Du bist gestern so schnell verschwunden und heute Nachmittag hab ich dich angerufen, doch dein Handy war aus.“
    „Ich hab gearbeitet“, sagte Tessa schnell. „Und gestern war ich wahnsinnig müde, darum war ich so früh weg.“
    „Und was ist heute mit dir los? Seit wann liegst du an einem Samstagabend um neun Uhr im Bett? Bist du krank?“
    Tessa lachte. „Aber nein, ich bin einfach nur fertig, es war ein harter Tag.“
    „Seit wann muss du eigentlich samstags arbeiten?“
    „Ich hatte eine Story zu schreiben – einen Artikel, mein ich. Und dafür war ich unterwegs.“
    „Mal wieder in einem Hühnerzuchtverein?“



    Tessa biss sich auf die Lippen. Sie hätte sich Niklas gerne anvertraut, aber irgend etwas hielt sie zurück. „Nein, diesmal nicht“, sagte sie darum nur grinsend und wechselte schnell das Thema. „Aber was hast du hier zu suchen? Ist deine Bettina nicht eifersüchtig?“
    Irgendwie klang es bissiger als es hatte sein sollen. Niklas sah sie forschend an.
    „Bist du eifersüchtig?“
    Tessa winkte ab. „Quatsch mit Soße! Ich wundere mich nur, dass DU an einem Samstagabend nichts besseres zu tun hast als mich vom Schlafen abzuhalten.“
    „Naja, inzwischen kann man ja zu jedweder Uhrzeit kommen, du schläfst immer“, lachte er frech. Dann sagte er ernster. „Ich fahr gleich noch zu Bettina, wir gehen in die Disco. Ich dachte, du wolltest vielleicht mitkommen?“



    Tessa lag schon auf der Zunge zu sagen. „Als fünftes Rad am Wagen? Nein danke!“ doch sie schüttelte nur den Kopf und sagte statt dessen: „Du siehst ja, dass ich schon im Bett war. Ich wills mir einfach nur noch bequem machen heute, mein Buch weiterlesen und bald schlafen. Sei nicht sauer, ein andermal gerne.“
    Niklas nickte. „Na gut, dann will ich dich nicht länger stören. Telefonieren wir nächste Woche?“
    Tessa nickte. „Sicher doch.“
    „Dann gute Nacht, Tessa.“
    „Gute Nacht, Niklas – oder eher viel Spaß beim Ausgehen!“
    Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss und Tessa legte sich wieder aufs Bett.
    Sie fühlte sich noch schlechter als vor Niklas´ kurzem Besuch und wusste nicht einmal, warum.



    Mit dem Gedanken an den morgigen Tag und das Wiedersehen mit Jess schlief sie schließlich nach einer Weile erschöpft ein.

    Mist, nun hab ich so schön ausführlich auf eure Kommis geantwortet und das Netz hat sie mir gefressen :angry


    @ineshnsch: Ich danke Dir für diesen tollen, ausführlichen Kommi - Du hast mal wieder alles so schön beschrieben, das ich gar nicht mehr viel dazu sagen muss :)


    Kiara: Interessant, was Deine Spürnase da für Fährten aufnimmt :) Aber ich hülle mich noch in Schweigen!


    cassio: Ich hab Dir so eine lange Antwort geschrieben, die nun weg ist, und nicht mehr so viel Zeit nun. Aber ich möchte Dir von ganzem Herzen für diesen wunderbaren Kommi danken, der mich sehr berührt hat. Du hast mit so vielen Dingen recht, die Du schreibst und ich kann vieles davon dick und fett unterstreichen!

    Danke für Dein Lob und die Anerkennung! Ich hoffe, Du liest weiterhin mit, das würde mich unheimlich freuen



    So, und nun gibts Kapitel 7

    Was für eine traurige Fortsetzung irgendwie... mir tut Annabelle so wahnsinnig leid! Ich hab ja schon befürchtet, dass es so kommt, wie es nun gekommen ist - dass Justus sie eigentlich gar nicht so wirklich liebt und nur irgendwas böses im Schilde führt :(

    Aber dass es direkt so heftig wird, hätte ich nicht gedacht. Sie tut mir echt voll leid. An ihrem Geburtstag vergessen von allen - wie schrecklich! Wo sind denn all ihre freunde? Rose - ok, sie hat College-Stress, aber man kann doch nicht den Geburtstag der besten Freundin verdummbeudeln deswegen. Und was ich am schlimmsten finde - ihr Papa! Wie kann der nur seine einzige Tochter vergessen?

    Und Casta - was ist mit Casta? Kann die Annabelle denn nicht helfen????

    Ich hab echt Bammel, was das nun wieder mit der Prophezeiung auf sich hat. Justus sollte man rechts und links eine knallen und in hohem Bogen mit seinem ganzen Verwandtschaftspack in die Wüste Ghobi verbannen! :angry

    Bin sehr gespannt auf eine Fortsetzung - wart nicht zu lange!!!

    Er sah sie sanft an. „Sie sind so gütig, Tessa, aber auch naiv. Es ist nicht so einfach, es gibt nicht für jedes Problem eine Lösung.“

    Tessa seufzte schwer und merkte, dass sie hier nicht weiterbohren konnte und durfte, so schwer es ihr auch fiel, zu akzeptieren, dass Jess sich praktisch bereits aufgegeben hatte.
    „Wie finanzieren Sie sich die Drogen?“ fragte sie nach einer Weile des Schweigens und sah Jess zu, wie er die letzten Puddingreste aus den Gläsern kratzte. Vermutlich hatte er schon seit Ewigkeiten nichts vergleichbares mehr gegessen.
    Er zuckte mit den Schultern. „Mit allem erdenklichen. Aber ich gehe nicht anschaffen, das habe ich mir geschworen!“ Er sah Tessas entsetzten Blick und lächelte gütig. „Das ist nunmal die Wahrheit, Tessa. Viele tun das, besonders die Frauen. Es ist der beste Weg, an schnelles Geld zu kommen.“



    Ich versuche, das Geld so gut es geht, ehrlich zu verdienen“, fuhr er fort.
    „Wie soll das gehen?“ entfuhr es Tessa. „Heroin ist bestimmt nicht billig.“
    „Ich nehme nicht immer Heroin, manchmal reicht das Geld einfach nicht“, erwiderte Jess und seufzte schwer. „Manchmal müssen einige Pillen oder einfach eine Brise Koks oder sogar nur ein Joint reichen, auch wenn es schwer ist, damit zu leben. Ich arbeite für die Drogenbehörde und schreibe an und an kleine Berichte für diese Straßenzeitung, die einmal monatlich herausgebracht wird. Allerdings geben die uns natürlich kein Bargeld, sondern nur Essen für unsere Dienste. Meistens male ich und verkaufe einige Bilder in der Fußgängerzone oder im Bahnhof, wo ich meistens bin. Aber ich muss zugeben…“, sein Gesicht wurde traurig und er sah beschämt zu Boden. „Dass das meistens alles nicht ausreicht. Also schließe ich mich ab und an einigen Banden und stehe Schmiere, wenn wir irgendwo einbrechen. Ich hasse mich selbst dafür, aber ich kann nichts dagegen tun, denn ich brauche das Geld, um zu überleben.“




    Tessa sog hörbar die Luft ein und aus und richtete für einen Moment den Blick an die Decke, um nicht zu zeigen, dass ihr Tränen in die Augen gestiegen waren. Wie sehr Jess sich selbst für das, was er tat, verurteilte, rührte sie und zugleich fühlte sie sich auf seltsame Weise abgeschreckt von ihm und seinem Geständnis, doch was hatte sie erwartet? Dass er Äpfel und Bananen verkaufte, um sich seine Drogen zu finanzieren?
    Nein, was er sagte, war nicht wirklich überraschend und doch wünschte sich Tessa, er hätte ihr etwas anderes sagen können…



    Viel sprachen die beiden nicht mehr. Tessa bezahlte die Rechnung und ließ ihr Aufnahmegerät wieder in ihrer Handtasche verschwinden. Nach einigen Minuten traten beide nach draußen und blieben unschlüssig voreinander stehen, bis Jess schließlich sagte: „Nun ja,Tessa – ich hoffe einfach, dass ich mit meiner Schilderung helfen konnte und vielleicht den ein oder anderen wachrütteln. Das wäre mir viel wert, denn ich wünsche niemanden, in meine Situation zu kommen. Und nun muss ich los. Vielen Dank für das Essen.“
    Er wollte schon gehen, doch Tessa hielt ihn zurück und sagte: „Nein, Jess – bitte… bitte lassen Sie mich jetzt nicht so stehen. Ich…“ Tessa suchte verzweifelt nach Worten und sah ihn schließlich offen an.



    „Lassen Sie mich nicht mit diesem Gefühl der Hilflosigkeit zurück. Dass ich nichts für Sie tun kann. Wenn ich Sie jetzt gehen lasse, werde ich mir ewig Vorwürfe machen, dass ich nicht mehr getan habe. Und…“ sie zögerte einen Moment, bevor sie weitersprach. „Ich weiß nicht wieso, Jess, aber … Sie bedeuten mir einfach etwas. Sie sind mir nicht egal.“
    Jess sah Tessa einen Moment gerührt an und sagte dann leise: „Tessa – das hat schon lange niemand mehr zu mir gesagt… und dafür will ich Ihnen danken. Aber ich kann Sie da nicht mit reinziehen. Es ist meine Sache und Sie haben damit nichts zu tun. Ich denke, es wäre besser, wenn Sie in Ihrem Leben bleiben und ich in meinem…“
    „Aber was ist IHR Leben?“ Tessa stützte die Hände in die Hüfte und sah ihn provozierend an. Sie hatte entschieden, ihn so nicht gehen zu lassen. Er gehörte auf unerklärliche Weise in ihr Leben, das war ihr klar. Und sie musste etwas tun, um ihm zu helfen, was auch immer es sein mochte.



    „Was ist denn Ihr Leben? Sie brauchen das nicht, Sie könnten etwas ändern“, platzte es aus ihr heraus.
    Jess seufzte. „Das weiß ich, aber…“
    Sie unterbrach ihn. „Ich will Ihnen keinen Vortrag halten, Jess. Aber ich will Ihnen helfen, verstehen Sie. Ich mag Sie und kann doch nicht einfach so tun, als seien wir uns nie begegnet und Ihre Geschichte ginge mich nichts an. Ich will Sie morgen Mittag treffen, geht das?“
    Jess seufze erneut und merkte, dass er gegen Tessas Entschluss nicht ausrichten konnte.



    „Wir treffen uns in der Bahnhofshalle, in Ordnung? Vielleicht können Sie mir eines Ihrer Bilder zeigen?“
    Tessa sah ihn fest an. Jess nickte langsam. „In Ordnung, auch wenn die Bahnhofshalle nicht gerade ein guter Ort für Sie ist…“
    Tessa runzelte die Stirn. „Jess, ich bin kein Kind mehr, ich weiß, was ich tu…“
    Jess nickte erneut und sagte dann langsam. „Gut, Tessa, nur eines noch… eines muss ihnen klar sein…“ Er sah sie fest an. „Wenn wir uns weiterhin treffen wollen, befreundet sein wollen, muss Ihnen klar sein, dass ich ein Mensch bin, der drogenabhängig ist. Das bedeutet, dass ich in manchen Situationen nicht mehr fähig bin zu begreifen, was ich sage oder mache… ich habe mich nicht immer im Griff und manchmal kann ich zu einem Menschen werden, mit dem Sie wohl kaum etwas zu haben wollten…“
    Tessa fühlte, wie sich ihr Hals zuschnürte bei dem Gedanken an einen Jess, der auf der Suche nach neuem Heroin war und dem es schlecht ging. Wie mochte er wohl aussehen, wenn er in einer solchen Phase war, wie sich verhalten? Sie betete, dass sie es nie erfahren würde und sah ihn fest an.
    „Das weiß ich sehr gut“, erwiderte sie.



    Jess sah sie eine lange Weile an, dann nickte er schweigend, hob die Hand zum Gruß und ging langsam davon, die Straße hinab in Richtung Bahnhof.
    Tessa hingegen stand wie angewurzelt auf dem Bürgersteig und sah ihm hinterher, bis sie ihn nicht mehr erkennen konnte. Sie fühlte sie außerstande, einen klaren Gedanken zu fassen.
    Sie wusste nur eines: wie sie ihn in der Ferne verschwinden sah, wäre sie ihm am liebsten nachgelaufen und hätte ihn zurückgeholt – nicht zu sich, sondern ins Leben und in das, was sich Glück nannte… etwas, das Jess wohl nur noch als Legende kannte.




    Fortsetzung folgt!

    Er sah sie ernst an. „Es ist eine Hemmschwelle, die fällt - und wenn sie einmal gefallen ist, dann ist es verdammt schwer, sie wieder zu bekommen.“



    Tessa sah ihn betroffen an. Sie dachte an einen Abend vor zwei Jahren zurück, an dem auch sie nach einer wilden Party im Freundeskreis einmal eine Runde Gras mit den anderen geraucht hatte. Es hatte ihr nicht geschmeckt und sie fand den leicht berauschenden Zustand danach nicht der Rede wert, das schlechte Gewissen, das sie noch tagelang plagte, jedoch umso mehr.
    Die Bedienung trat an den Tisch und servierte ihnen einen Pudding zum Nachtisch. Tessa schob wie selbstsverständlich und mit den Worten „Ich bin pappsatt“ ihren Pudding zu Jess und während er aß, sagte sie: „Aber – gab es denn einen Auslöser für das alles? Ich meine – war es wirklich nur zum Vergnügen? Denn bei Marihuana ist es ja nicht geblieben, nehme ich an. Oder, Jess? Was war passiert, dass es so viel schlimmer wurde? Und haben Ihre Eltern oder Freunde nichts dagegen zu utnernehmen versucht?“
    Sie dachte mit Schaudern daran, was Tru oder ihre Eltern mit ihr gemacht hätten, wenn sie auch nur von diesem einen Hasch-Erlebnis Wind bekommen hätten!



    Er zuckte mit den Schultern. „Mein Vater starb, als ich noch ein Kleinkind war. Meine Mutter hat das niemals richtig verkraftet, als ich neun war, ist sie gestorben. Ich weiß bis heute nicht, was genau sie das Leben gekostet hat, ob sie es selbst getan hat oder wirklich krank war. Ich habe dann bei meinen Großeltern gelebt und eigentlich war ich dort gut aufgehoben. Aber sie waren einfach schon sehr alt und als ich zwölf war, hatte mein Großvater einen Herzinfarkt und wurde zum Pflegefall – da bleibt nicht viel Zeit für einen pubertierenden Teenager übrig.“
    Tessa schluckte und fühlte ihren Mund trocken werden. Sie hatte sich Jess´Geschichte schlimm vorgestellt, aber ihr dämmerte, dass die Wahrheit all ihre Vorstellungen zu übertreffen schien.



    Sie schluckte wieder und sagte dann leise: „Jess – das ist ja wirklich furchtbar. Kein Wunder, dass sie so auf die schiefe Bahn gerutscht sind. Hatten Sie denn niemanden, der für sie da war?“
    „Meine Großmutter tat ihr bestes, aber sie war schon alt und musste meinen Großvater pflegen – für mich fehlte einfach die Zeit“, sagte Jess achselzuckend.
    „Und… welche Drogen… nehmen Sie heute?“
    Tessa wagte es kaum ihn anzusehen.



    Jess machte eine hilflose Geste. „Was soll ich Ihnen sagen? Ich nehme, was ich kriegen kann, was es irgendwie besser macht…“ er zögerte einen Moment weiterzusprechen. „Aber hauptsächlich nehme ich Heroin.“ Er seufzte schwer.
    „Damals lief einfach alles aus dem Ruder. Meine Schulnoten gingen in den Keller, ich fand die falschen Freunde – vermutlich eine Standardgeschichte. Mit sechzehn kokste ich das erste Mal. So schaukelte sich alles langsam nach oben und vor einem Jahr begann ich mit dem Heroin, weil mir alles andere nicht mehr reichte.“
    Er blickte wie geistesabwesend zum Fenster hinaus.



    „Und Ihre Großmutter? Hat Sie nichts gemerkt, nichts dagegen unternommen?“ Tessa konnte sich einfach nicht vorstellen, dass man sein Kind – auch wenn es nur der Enkel sein mochte – nicht mit allen Mitteln aus diesem Teufelskreis zu holen versuchte.
    „Sie war eben alt und als ich sechzehn war, starb Großvater dann endgültig. Sie erfuhr irgendwann von unserem Direktor, dass ich mit Drogen zu tun hatte und wusste sich nicht zu helfen – sie hatte keine Kraft, etwas dagegen zu tun. Es gab nur noch Streit, und sie baute auch zusehendes ab. Als ich achtzehn war und immer noch nicht von den Drogen weg, wies sie mir die Tür.“
    Tessa sah ihn ungläubig an. „Sie hat sie rausgeschmissen?“



    Jess zuckte mit den Schultern. „Sie war am Ende ihrer Kräfte. Nur wenig später kam sie selbst in ein Pflegeheim. Ab und an besuche ich sie, aber meist regt es sie zu sehr auf. Ich wünschte einfach, ich hätte diese Drogensache nicht angefangen. Heute kann ich einfach nicht mehr heraus. Schreiben Sie das bloß hinein, Tessa, damit es jedem eine Lehre ist. Drogen zu nehmen ist wie in eine Sackgasse zu fahren – nichtmal in eine Einbahnstraße, nein, in eine Sackgasse, denn es gibt keinen Weg mehr heraus. Für mich gibt es diesen Weg jedenfalls nicht mehr…“
    Er sah traurig zu Boden. Tessa spürte, wie sich alles in ihr gegen seine Worte zu sträuben begann.



    Sie zwang sich, ruhig und sanft zu sprechen, als sie erwiderte. „Aber Jess, natürlich haben Sie recht, man sollte niemals anfangen, überhaupt Drogen zu nehmen, das steht völlig außer Frage. Und doch – wieso ist Ihr Weg zu Ende? Es gibt doch Mittel und Wege, der Sucht ein Ende zu setzen. Haben Sie denn nicht einmal darüber nachgedacht, eine Entziehungskur zu machen? Ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen? Jess, Sie sind doch jung und stark, ich bin mir sicher, dass Sie das schaffen würden…“
    Mit ihren blauen, fast unschuldig wirkenden Augen sah sie ihn fast flehend an. Er schluckte.


    „Oh, Tessa, so einfach ist das nicht. Meinen Sie denn, das hätte ich nicht schon lange versucht? Ich habe bereits drei Entziehungskuren hinter mir, die alle erfolglos waren. Irgendwann hält man es nicht mehr aus und bevor man weiß, wie einem geschieht, hat einen dieses Teufelszeug wieder in der Hand und beraubt einen jedweder Entscheidungsgewalt und Hoffnung.“