Kapitel 9
Im Auto schossen Tessa hunderte von Gedanken durch den Kopf.
Natürlich hatte sie gewusst, dass ihre Mutter in etwa so denken würde wie sie es gesagt hatte. Und doch war sie geschockt über die Härte und Achtlosigkeit ihrer dahin geworfenen Worte. Wieso waren ihre Eltern nicht fähig hinter die Schicksale dieser Menschen zu sehen? Wer war schon gerne drogenabhängig? Nur weil ein Mensch Fehler machte, konnte man ihn doch nicht aufgeben, ihn als überflüssigen Bestandteil einer Gesellschaft ansehen.
Das Problem lag einfach darin, dass viele Menschen sich für völlig immun gegenüber jedwedem Unheil zu halten schienen. So lange man glücklich und behütet lebt, ist die Vorstellung, in derartige Schwierigkeiten zu kommen, weit fort. Doch hätte nicht auch sie selbst, Tessa, unter Umständen in Jess` Situation kommen können? Ihre Kindheit und Jugend war wohl behütet, aber nicht einfach gewesen. Wer konnte schon sagen, ob aus diesem einen Joint nicht irgendwann mehrere geworden wären und sich die Situation irgendwann verschlimmert hätte bis zu einem Punkt, an dem Jess nun war? Gab es für so etwas überhaupt Garantien? Tessa glaubte nicht daran.
Sie ließ die vergangenen fünf Wochen mit Jess Revue passieren. Obwohl beide so unterschiedlich waren, hatten sie bemerkt, dass sie auf der gleichen Wellenlänge schwammen. In diesen fünf Wochen hatten sie sich darum fast täglich getroffen, fast immer brachte Tessa etwas zu essen oder trinken mit und Jess hatte seine anfängliche Scham, ihre Gaben anzunehmen, schnell überwunden. In diesen fünf Wochen hatte Tessa ihn nie unter irgendwelchen Entzugserscheinungen oder in anderen extremen Situationen gesehen.
Er hatte ihr gesagt, dass er die Drogen meist früh morgens und am Abend nahm, so war er in der Mittagszeit meist sehr entspannt und fast „normal“.
Natürlich hatte es immer wieder Tage gegeben, an denen sie ihm angemerkt hatte, dass er zu wenig bekommen hatte – er war dann nervöser, fahriger und auf eine unbeschreibliche Art weniger gegenwärtig als sonst.
Tessa hatte bisher niemanden von Jess erzählt – und nach dem Gespräch am Vorabend war sie froh, dass sie sich so entschieden hatte. Erst jetzt wurde ihr klar, in welcher wohlbehüteten, aber mit Vorurteilen nur so überfluteten Gesellschaft sie groß geworden war. Sie seufzte und stellte den Wagen einige Straßen vom Bahnhof entfernt ab.

Es gäbe wohl wenige ihrer Bekannten, die verstehen würden, warum sie sich mit Jess traf, warum ihr etwas an ihm lag – ihre Eltern als allerletzte.
Was würde geschehen, wenn sie es eines Tages erfahren würden? Sie konnten nichts dagegen tun, sie war zwanzig und konnte tun und lassen, was sie wollte – sicher… Und doch würde es furchtbar schwierig werden.
Tessa stieg aus dem Wagen aus und steuerte zu Fuß den Bahnhof an.
Sie war traurig und fühlte sich in der momentanen Situation immer unwohler. Die ständige Geheimnistuerei, wo sie hinginge und wo all das Essen blieb, machte sie langsam mürbe. Aber das war nicht einmal das schlimmste. Was sie wirklich belastete, war diese Angst, die zusammen mit Jess in ihr Leben getreten war.
Oft lag sie nachts wach und fragte sich, was er wohl gerade tat. Schreckliche Gedanken schossen dann durch ihren Kopf – Bilder von Jess, der unter schlimmsten Entzugserscheinungen litt, durchdrehte oder gar irgendwo tot am Boden lag – erschlagen, erstochen oder durch den eigenen „goldenen Schuss“ dieser Welt entrissen, die so ungerecht zu ihm gewesen war.

Heroin war die schlimmste aller Drogen und Tessa wusste, dass ihre Sorgen alles andere als unbegründet waren.
Einige Male hatte sie vorsichtig versucht, ihn erneut auf einen Entzug anzusprechen. Sie konnte einfach nicht begreifen, wie er sein junges Leben derart achtlos wegwerfen konnte – denn er war sich durchaus darüber bewusst, dass er auf diese Art und Weise nicht mehr lange weiterleben konnte – vielleicht ein oder zwei Jahre, so lautete seine eigene, traurige Prognose für sein eigenes Leben.
Immer wieder hatte sie ihn sanft angesprochen, hatte sich vorher im Internet informiert, ja, sogar schon Adressen von Entzugskliniken im Umkreis herausgefunden. Doch Jess schüttelte jedes Mal heftig den Kopf.
„Nein, Tessa – hör auf, in diesem Punkt auf mich einzureden. Ich kann nicht mehr. Du weißt nicht, wovon du sprichst, es hört sich so einfach an, wenn man es auf einem Blatt Papier liest, aber das ist es nicht. Ich hab es dreimal probiert bisher, das letzte Mal Anfang des Jahres. Nach drei Tagen hatte mich die Realität wieder – oder eher die Straße. Die Frustration war größer als alles andere – all die Qualen waren für die Katz und so wäre es wieder. Nein, ich werd das nicht mehr tun.“ Sein Gesicht drückte dann immer eine unnachgiebige Entschlossenheit aus, die Tessa signalisierte, dass sie nicht weiter bohren durfte.

Am Bahnhof angekommen sah Tessa sich nach Jess um, ohne ihn entdecken zu können. Für ihre Verhältnisse war sie auch wirklich relativ früh.
Nach einer Weile jedoch hörte sie seine inzwischen vertrauten Schritte und sah auf, als er sich neben sie auf die Holzbank setzte, auf der sie gewartet hatte.
„Hallo Jess“, sagte sie lächelnd und griff in ihre Tasche, um ihm etwas zu essen zu geben. Doch er schüttelte den Kopf.
„Nein, Tessa – ich… ich bin heute nicht hungrig.“
Tessa sah ihn prüfend an. Er sah schlecht aus an diesem Tage, schlechter als sonst.
„Fühlst du dich nicht gut?“ fragte Tessa besorgt und beugte sich zu ihm.
Jess seufzte, schüttelte den Kopf und sagte dann rasch: „Nein, mir geht es nicht gut heute – ich… ich sollte besser gehen.“
Und er stand abrupt auf.
Tessa sprang ebenfalls auf und hielt ihn sachte zurück. „Nein, Jess, bleib hier – bitte.“
Jess sah sie hilflos an und sagte dann mit dünner Stimme. „Ach, Tessa – ich… ich habe Angst.“
„Angst? Wovor?“ Tessa hatte ihn noch nie so niedergeschlagen erlebt wie heute und sein Anblick ließ ihr das Herz schwer werden.
„Ich habe Angst, dass du mich eines Tages in einem anderen Licht sehen wirst… wenn du in eine Situation gerätst, in der ich nicht so bin, wie ich gerne wäre, wie du mich kennst… heute, das ist kein allzu schlechter Tag. Oft ist es noch viel schlimmer.“
Tessa schluckte. „Was hast du genommen?“
„Einige Pillen, die es ein bisschen besser machen.“ Er sah sie ernst an. „Tessa, bitte frag mich das nicht!“
Betreten blickte Tessa zu Boden. Wieso blieben diese Dinge zwischen ihnen nur immer so unausgesprochen? Gaukelten sie sich nicht etwas vor, das nicht real war?
Doch Jess unterbrach ihren Gedankengang, seine Stimme war sanfter geworden, als er fragte: „Was ist mit dir los? Du bist anders als sonst. Ist etwas geschehen?“
Er sah sie ernst und forschend an.

Überrascht blickte Tessa auf und in ihrem Gesicht spiegelte sich der Gefühlstumult wieder, den sie innerlich empfand. Selbst nach fünf Wochen schaffte Jess es immer wieder, sie mit seiner unglaublichen Einfühlsamkeit und dem Gespür für sie zu überraschen.
Doch was sollte sie ihm schon antworten? „Meine Eltern halten dich für Abfall, der schnellstmöglich entsorgt werden sollte, abgesehen davon mach ich mir Tag und Nacht Sorgen um dich und reden kann ich mit keinem darüber, weil all meine Bekannten und Verwandten arrogante Spießer sind?“ Wohl kaum…
Also zuckte sie nur mit den Schultern und sagte leichthin: „Ich hatte Streit mit meinen Eltern, das ist alles.“
Sie war stolz darauf, dass ihre Stimme so gelassen geklungen hatte. Doch wieder einmal war Jess einen Schritt weiter als sie.
„Wissen sie von mir?“
Tessa stockte einen Moment der Atem, doch dann seufzte sie resigniert und schüttelte den Kopf.
Jess lachte kurz auf, doch sein Lachen war bitter. „Sie würden dir wohl verbieten, mich zu treffen, oder?“
Tessa sah auf und ihr Gesicht verzog sich. „Das können sie nicht. Ich bin fast zwanzig, vergiss das nicht.“

„Außerdem“, fügte sie etwas ruhiger hinzu. „Außerdem bist du nur ein guter Freund. Was sollten sie dagegen einzuwenden haben?“
Beide sahen sich schweigend an, und beide wussten, dass es tausende gute Gründe gab, die gegen ihre Freundschaft sprachen – doch sie schwiegen, bis Jess müde lächelte.
„Du hast vermutlich recht. Ich bin froh, dass du da bist, Tessa. Einfach dass du bei mir bist. Dass es jemanden gibt, dem ich nicht egal bin…“
Tessa lächelte ihn sanft an. Er sah so müde aus, so unendlich traurig und erschöpft.
Sie griff nach seinen Händen und drückte sie einen Moment sachte. Er erwiderte ihre Berührung, seine Hände waren rau und kräftiger, als sie gedacht hätte – und fühlten sich in diesem Moment einfach nur gut an.
„Alles wird gut“, flüsterte Tessa. „Irgendwann… irgendwann wird alles gut…“
Jess richtete den Blick nach oben und sah sie an. Er lächelte, doch dieses Lächeln war voll solch unsagbarer Traurigkeit, dass Tessa sich abwenden musste, um ihm nicht die Tränen zu zeigen, die ihr in die Augen gestiegen waren...
Fortsetzung folgt!