Kapitel 19
Aussichtslos
Kälte. Eisige Kälte. Ihre Augen fixierten die des jungen Mannes vor sich, er hatte ihr den Rücken zugewendet. Hatte er wirklich einmal Wärme und Zuneigung in ihr ausgelöst? Wann war das gewesen … wo… es schien Jahre, Jahrhunderte entfernt zu liegen.
Ihre Finger klamm, kalt, wie steif. Und doch schweißig, die Nägel rammten sich in das Fleisch ihrer Hand, als diese sich zu einer Faust ballte.
Beide Mienen wie versteinert. Kein Wort durchdrang den leeren Flur. Von oben hörte man die leisen, gedämpften Schritte über den Boden gleiten, ansonsten war es still, fast tödlich still.
Das Herz schlug ihr bis zum Halse. Vor Wut? Trauer? Enttäuschung?
Ihre Zunge fühlte sich schwer an, das wilde Gefühl von Zorn in ihr bahnte sich wie ein Wellenbrecher den Weg nach oben in ihre Kehle. Sie sog den Atem tief ein und öffnete den Mund, um zu sprechen, als er mit einemmal herumfuhr, so blitzschnell, dass ihr Körper wie getroffen zusammenzuckte und ihr das Wort im Halse steckenblieb.
„Ich habe euch gesehen!“ Ein Zischen war es, das die Luft durchschnitt. Waren das menschliche Worte gewesen oder eher das wilde Fauchen eines angreifenden Tieres?
Tessas Augen weiteten sich, als sie begriff, was seine Worte bedeuteten.
„Ja – ich habe euch gesehen! Ich habe dich gesehen – dich mit IHM!“ Dieses eine Wort war so voller Abscheu, Verachtung, Missbilligung, dass es fast schien, als wolle Niklas es wie Dreck aus dem Munde spucken.

„Ich habe alles gesehen – wie ihr euch geküsst habt, euch umarmt! Du hast gelogen da drinnen – schamlos gelogen!“
Verächtlich ruhte sein Blick auf ihr, kalt und verständnislos.
Ihre Mund war trocken, ihre Lippen zitterten, ihre Hände zitterten, eiskalte Schauder rannen über ihre Haut. Es schien endlose Minuten zu dauern, die in Wahrheit doch nur Sekunden waren, bis ihre Stimme wieder fähig war, Worte zu formen.
„Du hast mir also wieder hinterher spioniert…“
„Was geht in deinem Kopf vor, dass du so etwas tust?“ sagte Niklas verständnislos.
„Was geht in deinem Kopf vor, dass DU so etwas tust?“ Tessas Stimme war eiskalt geworden, ihre Augen hatten sich zu Schlitzen verengt. „Du bist so schlecht, Niklas – so schlecht, dass ich es nicht in Worte fassen kann! Ich kann dir nicht sagen, wie weh es tut, wie weh es mir tut, zu begreifen, dass man sich derart in den Menschen irren kann, von denen man immer dachte, sie ständen einem nahe! Aber ich spüre eines in mir noch viel deutlicher als den Schmerz – die Wut!“
Sie kam einen provozierenden Schritt auf Niklas zu und er wich wie automatisiert einen ebensolchen zurück. Einen Moment schien er verunsichert, dann wurde seine Miene wieder fest.
„Sag nur, die LIEBST diesen Junkie etwa?“
Tessas Augen fixierten ihn mit einer derartigen Kälte, dass er das Gefühl hatte, von ihnen durchbohrt zu werden. Ihre Stimme klang schneidend, aber fester denn je:
„Ich wüßte nicht, was dich das anginge, aber ja – ja, ich liebe ihn! Ich liebe ihn mehr als ich je jemanden geliebt habe! Bist du nun zufrieden?“
Niklas war blass geworden. „Du musst den Verstand verloren haben, völlig den Verstand verloren haben!“
„Nicht mehr oder weniger als du“, ihre Stimme war nur ein Zischen. „Ist dir eigentlich klar, dass ich dir vertraut habe? Du hast es mir versprochen, nichts zu sagen! Versprochen! Ich habe dich angefleht, dieses Versprechen zu halten – es war dir völlig gleich! Alles was du wolltest, war dieses Übel namens Jess so schnell wie möglich aus meinem und somit deinem Leben zu kriegen! Dafür waren dir alle Mittel recht! Aber eines muss ich dir zugute halten – dass du zu meiner Lüge geschwiegen hast! Ich nehme mal stark an, das hast du nicht aus purem Mitgefühl zu mir getan!“
Sie funkelte ihn verächtlich an.

„Nein, habe ich nicht! Ich habe einfach die Nase voll!“ Niklas Stimme war nun auch wieder wütend und wurde lauter, aggressiver. „Ich habe dir etliche Male klar zu machen versucht, warum ich gegen diese Sache bin – aber du hörst mir nicht zu, du begreifst es nicht! Deinen Eltern alles zu sagen, war die letzte Chance, die ich hatte!“
„Ach hör doch auf!“ Tessa winkte genervt ab. „Die ´Sache´ war es dir nicht einmal wert, dich tiefer gehend damit zu beschäftigen. Du warst von Anfang an dagegen und damit war die Sache für dich klar und erledigt. Ich weiß nicht, Niklas – war es denn all die Jahre nicht so, dass ich deinen Ratschlägen immer mehr oder weniger widerstandslos gefolgt bin? Nur dieses eine Mal habe ich nicht auf dich gehört und DAS ist es, was du nicht ertragen kannst. Hab ich nicht recht? Hä?“
Herausfordernd sah sie ihn an, doch er verzog nur verärgert das Gesicht und schüttelte den Kopf.
„Es ist derart sinnlos, mit dir darüber zu reden! Du bist völlig verrannt in deine kindischen, naiven, völlig weltfremden Vorstellungen von..“
„Erzähle du mir nicht, was weltfremd ist!“ unterbrach Tessa ihn und kam wieder einen Schritt auf ihn zu. „Was weißt DU denn schon von der Welt, abgesehen von dem behüteten Kokon, in dem du aufgewachsen bist, ebenso wie ich? Du hast dein Abitur gemacht, es geschafft, dich vor dem Wehr- und Zivildienst zu drücken, weil Papa so gute Connections zu irgendwelchen Ärzten hatte, die dir wasweißich attestiert haben…“

Niklas Gesicht verzog sich für einen Moment betroffen – zu dieser Sache hatte Tessa bisher immer geschwiegen und sie wusste genau, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte. „Und seitdem sitzt du dir deinen allerwertesten auf der Uni platt, gehst nur zu den Vorlesungen, wenn du Lust dazu hast und vertrödelst die meiste Zeit der Woche mit irgendwelchen Sachen, die dich kein Stück weiterbringen! Ich hab dir das nie gesagt, ich hab es mir immer nur gedacht, ich habe dir sanft klarzumachen versucht, dass du dein Leben in die Hand nehmen sollst, aber warum solltest du eigentlich? – es ist doch furchtbar bequem so wie es ist!“
Er wollte den Mund öffnen, doch sie schnitt ihm das Wort ab.
„Aber das ist hier nicht das Thema, es ist dein Leben und mir soll gleich sein, wie du es lebst, das ist deine Sache – nur erzähle MIR nicht, ich sei weltfremd, wo du selbst noch nie über den Tellerrand hinausgesehen hast! Du hättest die Chance dazu gehabt, aber es war dir schlichtweg zu anstrengend – also hör auf, mich zu verurteilen und greif dir an deine eigene Nase!“
Sie funkelte ihn an. Niklas schluckte einen Moment und wurde dann wütend.
„Ich habe diese Diskussionen nicht nötig! Ich nicht! Du bist diejenige, die im Schlamassel steckt und ich wollte ihn dir ersparen, von Anfang an ersparen! Aber ich glaube, jetzt kann dir keiner mehr helfen!“

„Na bravo!“ rief Tessa aus. „Bisher hat mir nämlich auch kein Mensch geholfen, also wird sich ja nichts ändern, außer dass du mir wie ein gestörter Stalker hinter her schleichst!“
Es herrschte einen Moment kalte Stille zwischen beiden, Niklas hatte die Hände zu Fäusten geballt und sah Tessa verständnislos an, Tessa die Arme verschränkt und starrte ihm ihrerseits provozierend und hasserfüllt ins Gesicht.
„Na gut, Tessa!“ stieß Niklas schließlich mit zusammengepressten Lippen hervor. „Dann tu, was du nicht lassen kannst! Mir ist es gleich – ab sofort gehst du mich nichts mehr an… aber merke dir eines- du brauchst dir nicht einzubilden, dass du eines Tages weinend vor MEINER Tür stehen kannst, wenn sich dein dreckiger Junkie endlich den goldenen Schuss gegeben haben wird!“
Dunkelheit. Schwärze. Schwindel. Ein Karrussel, das sich so unendlich schnell drehte, dass die Geschwindigkeit der Zirkulation Übelkeit hervorrief. Kleine, bunte, flackernde Pünktchen, die ihr vor Augen tanzten.
Atmen, einfach atmen – sich nicht darum kümmern, dass der Schwindel versucht, einen in die Knie zu zwingen. Atmen, einfach atmen.
Die Dunkelheit um sie ließ nach, die Konturen der Umgebung gewannen an Gestalt zurück. Ihr Herz schien für einen Moment ausgesetzt zu haben, stillgestanden vor Schreck und Schmerz, doch nun, da es sich wieder gefangen hatte, holperte es in derartiger Heftigkeit weiter, dass sie es bis in die Schläfen spüren konnten, wo es wütend, aufrührend, attackiert pulsierte.
„Das war zuviel!“ Zeitgleich mit den Worten, die wie ein Schuss über ihre Lippen gekommen waren, hatte ihre Hand sich erhoben und traf mit solch klatschender Wucht auf Niklas Wange, dass Tessa selbst einen Schritt zurücktaumelte.

Nach dem unerhört lauten Klatschen von Haut auf Haut trat eine eisige Stille in den kleinen Flur. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Nur das schwere Atmen beider junger Menschen durchbrach die Stille, ohne wirklich als Geräusch wahrgenommen zu werden.
Irgendwann kam Bewegung in den Körper des jungen Mannes, der wie versteinert gestanden hatte. Ohne die zitternde, junge Frau vor sich noch eines Blickes zu würdigen, drehte er sich und ging wie in Zeitlupe zur Türe. Erst als er die Klinke schon in der Hand hatte, drehte er sich noch einmal um.
Seine Stimme klang hohl und fast zittrig, als er leise sagte: „Du kannst von mir denken, was du willst, Tessa. Aber du solltest wenigstens begreifen, dass eure Liebe weder eine Chance noch irgendwelche Zukunft besitzt…“ Seine Augen wurden mit einemmal weicher, als er Tessa ein letztes mal anblickte. „… ganz egal, wie sehr du ihn auch lieben magst.“
Mit diesen Worten öffnet er die Türe und ging wortlos und schnellen Schrittes aus dem Haus.

Tessa sah ihm nicht mehr nach. Sie hielt die Hände wie schützend vors Gesicht geschlagen, die Tränen tropften von ihren Wangenknochen auf den hölzernen Boden unter ihren Füßen.

Ein leiser, verzweifelter Laut entwich ihrer Kehle und im selben Moment spürte sie, wie ihre Knie unter ihrer eigenen Last nachgaben. Sie sank auf den Holzboden und weinte geräuschlos. Die Worte schienen wie ein Echo in der Diele auf- und nieder zu wogen, immer und immer wieder durchfuhren sie ihre Gedanken, unbarmherzig hatten sie sich in sie eingebrannt.
„Eure Liebe besitzt keine Zukunft…. Egal wie sehr du ihn liebst…“

Von allem, was Niklas ihr heute gesagt hatte, war dies das einzige, was sie wirklich traf... denn tief in sich wusste sie, dass er recht hatte... und diese Erkenntnis raubte ihre jede Hoffnung aus ihrem Herzen und hinterließ nichts als Verzweiflung, pure Verzweiflung... und unendliche Angst...
Fortsetzung folgt!