Kapitel 24
Stille Nacht
Die Adventszeit neigte sich bereits wieder dem Ende zu und Weihnachten stand unmittelbar vor der Tür. Ein Fest, das für Tessa und Jess keine Bedeutung zu haben schien – sie würden nicht gemeinsam vor dem Tannenbaum sitzen und Geschenke auspacken können wie vermutlich die meisten anderen Paare auf dieser Welt.
Doch so war nun einmal ihr Schicksal.
Am späten Nachmittag des Heiligen Abends wollte Tessa sich noch einmal mit Jess treffen. Wenigstens sehen wollte sie ihn an diesem Tag, das Gefühl haben, nicht ganz von ihm getrennt zu sein. Sie kam einige Minuten zu früh am Bahnhof an, doch Jess war noch nirgends zu sehen. So setzte sie sich auf eine der Bänke und wartete. Der Bahnhof war an diesem Tag fast menschenleer und wirkte umso kälter und ungemütlicher. Kein Wunder – die Menschen saßen mit ihren Liebsten zu Hause in den warmen Wohnzimmern, um die funkelnden Tannenbäume und tranken heißen Punsch oder waren auf dem Weg in die Weihnachtsmesse.
Tessa fröstelte und bemerkte, dass die Kanne Kräutertee, die sie am frühen Nachmittag zu Hause getrunken hatte, darauf drängte, wieder nach draußen zu gelangen. Sie hasste es, im Bahnhof auf die schmuddeligen Toiletten gehen zu müssen. Aber vielleicht waren sie heute ja sauberer, wo nicht so viel Betrieb herrschte. Es half ohnehin alles nichts – die Natur forderte ihr Recht.
Die Damentoilette war wie ausgestorben, aber eine der Kabinen war besetzt. Tessa schauderte zusammen, der Raum war bitterkalt und offenbar nahezu gar nicht beheizt. Je schneller sie wieder nach draußen in die verhältnismäßig warme Bahnhofshalle gelangte, desto besser war es.
Sie öffnete gerade die Tür der Kabine, als sie eine vertraute Stimme aus einer der Nachbarkabinen zusammenzucken ließ.
Erstaunt riss sie die Augen auf und lauschte angestrengt, doch es war still. Verwirrt blieb sie in der Tür zur Kabine stehen und wagte kaum zu atmen.
Nach einiger Zeit wurde die Stille in dem kalten Raum erneut durchbrochen und diesmal blieben keine Zweifel mehr offen – was Tessa gehört hatte, war die gedämpfte Stimme von Jess.
Die Verblüffung war ihr ins Gesicht geschrieben. Was machte Jess um Himmels Willen auf der Damentoilette? Sie vernahm eine weitere Stimme – das musste Jasmin sein. Die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen sich. Was war hier los? Er und Jasmin auf der Damentoilette? Was sollte das bedeuten? War Jess ihr etwa untreu und war mit Jasmin zugange? Sofort schüttelte Tessa den Kopf, das war beim besten Willen nicht denkbar. Vielleicht war Jasmin verletzt und sie brauchten Hilfe? Ohne weiter nachzudenken ging Tessa in die Kabine, die neben der besetzten lag und stieg rasch und mühelos auf den heruntergelassenen Toilettendeckel, um über die Wand der Kabine zu lugen.
Ein erstickter Schrei durchdrang den kleinen Raum und hallte hohl an den kalten Wänden wieder.
Es folgte ein lautes „Rums“ und ein Fluchen.
Innerhalb weniger Sekunden flog die Tür der zugesperrten Kabine auf, aus der zuerst Jasmin, dann Jess gestürzt kamen.
Jasmin stieß die Tür zur Nachbarkabine auf und fand eine totenbleiche Tessa, die seltsam eingequetscht zwischen Toilettensitz und Kabinenwand auf dem Boden kauerte.
„Alles okay?“ fragte Jasmin sanft und Tessa nickte, stand auf und trat gemeinsam mit ihr aus der Kabine, wo sie den Blick von Jess traf.
„Tessa!“ rief dieser aufgebracht und nervös. „Was machst du hier?“
Tessa sah auf, ihre Wangen waren bleich geworden. „Das könnte ich doch wohl eher dich fragen“, erwiderte sie mit zitternder Stimme. „Aber du brauchst mir keine Antwort zu geben…“
Jess Miene verfinstere sich und seine Stimme wurde härter als Tessa es je für möglich gehalten hätte. „Verdammt, sag nicht, du hast alles gesehen??“
Tessa schluckte schwer, spürte Tränen in sich aufsteigen und kämpfte hilflos gegen sie an.
„Doch… hab ich…“
Jess schnaubte tief aus und schien kurz davor zu sein, die Fassung zu verlieren. Er wirkte extrem nervös. Jasmin dagegen sah Tessa sanfter an und sagte mit einem beruhigenden Lächeln: „Du kannst ja nichts dafür, Tessa.“
Tessa schluckte und versuchte das Bild aus ihrem Kopf zu drängen, das sich ihr gerade offenbart hatte – Jess und Jasmin auf den Boden der Kabine gekauert, beide gerade im Begriff, eine Spritze anzusetzen. Die Macht dieses Bildes traf sie mit aller Wucht, wie ein Schlag in den Magen, der sie aufkeuchen und zurücktaumeln ließ.
Natürlich hatte sie gewusst, was Jess tat – aber sie hatte es nie mit eigenen Augen gesehen…
Das Entsetzen der eben gemachten Entdeckung schien ihr allzu deutlich ins Gesicht geschrieben zu sein.
„Verdammt!“ durchbrach Jess´ wütende, harte Stimme die Stille. „Verdammt, Tessa – hast du uns etwa nachspioniert?“
Tessas Kopf fuhr nach oben. „Was?“ sagte sie verdutzt. „Nachspio… nein, natürlich nicht! Ich musste einfach nur zur Toilette – und dies hier ist nun einmal die Damentoilette, falls dir das noch nicht aufgefallen ist! Da hörte ich deine Stimme und dachte, ich schaue nach, weil vielleicht etwas mit Jasmin oder dir passiert ist…!“ Ihre Stimme war nun ebenfalls aufgebracht und zittrig.
Jess war nervös. Er spürte, wie sehr sein Körper und sein Geist nach den Drogen verlangten. So nah war er bereits am Ziel gewesen, nur noch Sekunden hatten ihn von dem erlösenden, warmen Gefühl getrennt, das sich durch seine Adern über den ganzen Körper und bis hin zu seinem Geist ausbreitete, wenn es erst einmal die Spritze verlassen hatte.
Dass ihm jemand nun in die Quere kam, machte ihn gereizt und wütend, aber dass dieser Jemand Tessa war, brachte ihn schier zum Rasen. Genau diese Situation hatte er all die Zeit gefürchtet und dunkel vorgeahnt – nun war sie da und es ließ sich nicht mehr ändern. Und doch war er wütend, wütend dass dies hatte passieren können, dass er nicht vorsichtiger gewesen war, nicht einen anderen Ort gesucht hatte – doch heute war der Bahnhof so leer und die Toilette hatte sich angeboten.
Jasmin warf ihm einen beschwichtigenden Blick zu. Auch sie war nervös, ließ es sich aber nicht anmerken. Jess jedoch hatte sich nicht in derartigem Maße unter Kontrolle. Er spürte Ärgernis und Wut in sich pulsieren und sich einen Weg nach draußen bahnen.
„Verdammt!“ rief er nocheinmal und funkelte Tessa wütend an. „Wieso musstest du auch über die Wand schauen, wieso so neugierig sein? Manchmal bist du so naiv, Tessa, dass ich es schier nicht ertrage! Hättest du nicht eins und eins zusammenzählen können – was wird es schon bedeuten, meine und Jasmins Stimme HIER zu hören? Wach endlich auf, Tessa!“
Er funkelte seine Freundin wütend an.
Es war still im Raum, man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Tessas Augen waren feucht geworden, doch sie sagte kein Wort. Nach schier endloser Zeit öffnete sich ihr Mund langsam, doch statt einem Wort drang nur ein ersticktes Schluchzen hervor, sie schüttelte heftig den Kopf und rannte davon.
„Schei-sse!“ war das letzte, was sie Jess hinter sich fluchen hörte…
Vor dem Gebäude und ihrem Auto kam Tessa schließlich zum Stehen.