Der Schnee knirschte unter ihren Schuhen und für einen Moment lehnte sie sich an den feuchten Wagen und sog die eisige Abendluft tief ein. Dann forderten die aufgestauten Tränen ihren Tribut und sie begann hemmungslos zu schluchzen. Es hörte und sah sie niemand. Die Straßen waren menschenleer und von jener Stille erfüllt, die es nur einmal im Jahr gibt – am Heiligen Abend. Normalerweise empfand sie diese Stille als friedlich und besonders. Doch heute führte sie nur dazu, dass Tessa ihre eigenen Schluchzer nur noch deutlicher hörte als sonst
Nach einer unbestimmten Zeit hörte sie das Knirschen des Schnees und näherkommende Schritte. Sie sah nicht auf, aber wenige Sekunden später fühlte sie, wie sich zwei Arme um sie legten und Jess sie an sich zog und so fest hielt wie er nur konnte.

Seine Augen waren voller Schmerz und seine Miene zeigte, dass er sich Vorwürfe machte. Doch die Situation war nicht mehr zu ändern, was geschehen war, war nun einmal geschehen.
Eine Weile standen sie so inmitten der stillen, verschneiten Nacht und Tessa weinte sich all die Trauer und Angst, die ihre Seele in den letzten Wochen so vereinnahmt hatten, in Jess´ Armen aus dem Herzen.
Als ihre Schluchzer leiser wurden und keine Träne mehr in ihr zu sein schien, sah sie auf und blickte in die traurigen Augen ihres Freundes.
„Es tut mir leid“, flüsterte Jess langsam.

Tessa sah ihn lange an und sagte dann schlicht: „Ich weiß.“
Sie schauderte zusammen, öffnete die Wagentür und bedeutete Jess, sich mit in den Wagen zu setzen. Müde ließ er sich auf den Beifahrersitz fallen und betrachtete Tessas von den Tränen verschmierte Gesicht sorgenvoll.
„Ich habe befürchtet, dass so etwas irgendwann geschehen wird, Tessa“, sagte er dann langsam. „Ich hätte es dir gerne erspart.“
„Vielleicht sollte es so sein“, erwiderte diese mit müder und langsamer Stimme und warf Jess einen Seitenblick zu. „Wenn wir ehrlich sind, war es nicht zu vermeiden. Es tut mir leid, Jess – du hast recht, ich bin manchmal zu naiv. Ich müsste mich der Realität mehr stellen. Aber weißt du was? Ich kann es nicht – und nicht nur ich – du doch auch…“
Jess lehnte sich müde zurück und starrte ins Leere. Er wusste, dass Tessas Worte nicht falsch waren und den Kern trafen, doch sich dies einzugestehen, fiel ihm unendlich schwer.
„Kann schon sein“, murmelte er darum nach einer Weile des Schweigens. „Doch was ist schon real und was nicht?“ Er sah Tessa lange an. „Doch so lange wir zusammen sind, ist eines auf jeden Fall real, Tessa – die Tatsache, dass ich dich liebe.“
Tessa sah Jess müde an. „Ich weiß, Jess. Und ich liebe dich auch. Aber es ist einfach so, dass wir IM MOMENT zusammen sind – doch wer weiß schon wie lange, Jess? Wenn du so weitermachst, werde ich sehr bald alleine sein. Und das weißt du auch.“
Beschämt blickte Jess zur Seite, erwiderte jedoch nichts.
„Du bist egoistisch, Jess.“ Tessas Worte waren leise von ihren Lippen gedrungen, jedoch laut genug, um von ihm vernommen zu werden.
Er sah sie an. „Ich weiß. Aber was soll ich denn tun? Urteile nicht über mich, denn du weißt nicht, wie meine Situation wirklich ist. Du warst noch nie abhängig und kannst nicht einmal erahnen, wie furchtbar das ist.“
„Das weiß ich, Jess. Aber du weißt ebenso gut, was du tun könntest. Ich kann das nicht für dich übernehmen, wenn ich es könnte, ich würde es wohl tun – aber es liegt ganz alleine an dir.“ Müde sah sie ihn an und schüttelte dann den Kopf. „Aber bitte lass uns nicht darüber streiten. Nicht jetzt, nicht heute. Ich habe einfach keine Kraft dazu.“

Sie sahen einander an und er nickte langsam. „Es ist okay, Tessa. Tut mir leid, mein Schatz. Komm zu mir.“
Langsam zog er sie in seine Arme und küsste sachte ihr duftendes Haar. „Weißt du, Tessa – ich habe einfach Angst, dich zu enttäuschen, indem ich einen Entzug anfange und ihn nicht schaffe…“
„Der Versuch alleine wäre es schon wert“, flüsterte sie leise.
Er löste sich aus der Umarmung und sah sie an. „Es ist beschämend für mich, aber ich kann es nicht. Ich habe zu viel Angst. Die ersten Tage sind die Hölle… ich… ich kann das einfach nicht mehr. Nicht noch einmal…“
„Erzähl mir davon.“
„Wovon? Vom Entzug?“
Tessa nickte. „Ich will es wenigstens verstehen können.“
Hilflos sah er sie an und sagte dann langsam. „Ich … ich weiß nicht… es ist einfach… es tut furchtbar weh. Dein ganzer Körper ist nur noch purer Schmerz. Jeder Knochen und jede Nervenfaser schmerzt unendlich. Als wehre sich der ganze Körper gegen das, was du ihm da antust. Man kann nicht essen, manchmal nicht einmal trinken. Es ist einem dauerübel und oft muss man sich mehrmals am Tag übergeben. Das ganze System scheint völlig verrückt zu spielen… und dann sind da diese Bilder. Diese seltsamen Bilder, die man sieht. Alpträume, Visionen… Dinge, die man längst vergessen hat…“ Er atmete schwer und sah sie an. „Es ist der pure Horror, Tessa. Ich habe jedes Mal gedacht, ich würde jede Minute sterben. Aber so gnädig ist die Welt nicht zu einem. Nein, es geht nicht zu Ende. Man leidet weiter und weiter und jede einzelne Minute scheint ein ganzes Jahr zu dauern… es ist grausam.“
Tessa schwieg betroffen. Nach einer Weile sagte sie leise: „Ich habe auch Angst, Jess. Jede Minute und Sekunde des Tages. Angst, dich zu verlieren.“
„Wieso hat unsere Liebe nur von Anfang keine Chance?“ sagte er leise. Sie schüttelte den Kopf und versuchte gequält zu lächeln.
„Frag das nicht… es gibt keine Antwort…“
Jess sah sie liebevoll an. „Ich bewundere dich so, Tessa. Du bist so stark…“
Doch diese schüttelte den Kopf.

„Nein, Jess. Das bin ich eben nicht. Ich fühle mich schwach und krank. Manchmal denke ich, wenn diese Angst und Traurigkeit noch einen einzigen Tag länger bleibt, drehe ich durch. Aber ich hab dir versprochen, bei dir zu bleiben und durchzuhalten. Und das werde ich auch. Denn ich liebe dich, Jess. Und ich brauche dich und fühle mich trotz allem so wohl, wenn du bei mir bist… ich kann es nicht erklären und eigentlich scheint es ein Widerspruch zu sein. Aber so empfinde ich. Und darum werde ich bei dir bleiben. Denn deine Liebe gibt mir letztlich immer wieder die Kraft, die ich dafür brauche…“
Er sah sie lange und liebevoll an, dann zog er sie wortlos in die Arme und küsste sie innig.
Wenig später öffnete er die Wagentür und sah Tessa noch einmal lange und traurig an. „Frohe Weihnachten, Tessa“, sagte er leise und diese nickte. „Dir auch, Jess…“
Langsam ging Jess zurück in die Bahnhofshalle und Tessa warf den Motor an.
Wenn sie Jess verlor, welchen Sinn hatte ihr Leben dann noch auf dieser Welt?
Im Rückspiegel sah sie das Bahnhofsgebäude kleiner werden. Und von irgendwo erklangen zarte Töne und helle Stimmen sangen „Stille Nacht, heilige Nacht…“
Fortsetzung folgt.