Kapitel 34
Eine Entscheidung
Als Tessa von dem ins Zimmer fallenden Tageslicht erwachte, fühlte sie sich wie gerädert.
Alles schien ihr weh zu tun, jeder einzelne Muskel des Körpers bewies sein Dasein auf schmerzliche und aufdringliche Weise. Für einen Moment fragte sie sich, wie es zu diesem Zustand gekommen sein mochte und drehte sich mit einem leisen Stöhnen auf den Rücken, die Augen noch geschlossen.
Dann bemerkte sie, dass etwas anders war als sonst. Sie war von einem Duft umgeben, den sie sonst nicht kannte, der ihr aber der liebste von allen auf dieser Welt war. Und neben sich tastete sie einen warmen, weichen Körper. Auf ihre Berührung hin fing Jess verschlafen zu brummen an.
Nun fiel Tessa alles wieder ein. Mit erschreckender Klarheit schossen ihr die Bilder aus der Ruine durch den Kopf und sie schauderte. Jess öffnete derweil die Augen und rutschte zu ihr herüber, um sie sanft zu küssen.
„Guten Morgen, Tessa. Wie fühlst du dich?“
Tessa setzte sich langsam auf und stellte erstaunt fest, dass ihr Kopf nicht einmal halb so sehr schmerzte wie sie es befürchtet hatte.
„Ganz gut“, antwortete sie darum wahrheitsgemäß.
Sie betrachtete Jess, der sich neben ihr aufgesetzt hatte und sich nun mit dem Kopf am Bettrahmen anlehnte. Es war ein merkwürdiges, aber unbeschreiblich schönes Gefühl, ihn in der Nähe zu haben, neben ihm aufzuwachen…
Wenn sie vierundzwanzig Stunden zurückdachte, schien sich ihre Welt von Kopf bis Fuß geändert zu haben. Gestern war sie noch voller Sorge ob Jess´ Verschwinden aufgewacht, mit Selbstvorwürfen in Kopf und Herz… und heute lag sie hier neben ihm. Hier, in ihrer Wohnung, ganz dicht… fast wie ein normales Pärchen.
Doch dann fiel ihr wieder ein, dass sie kein normales Pärchen waren und sie betrachtete den Mann neben sich unter einem anderen Blickwinkel. Wie lange mochte es her sein, seit er zum letzten Mal seine Sucht hatte befriedigen können? Noch wirkte er ungewöhnlich entspannt, sah ausgeschlafen und frisch aus. Doch wie lange würde dies noch andauern?
Wann würde sie ihn wieder gehenlassen müssen?
„Was ist los, Tessa?“ fragte Jess da, als habe er ihre Gedanken erahnt.
Tessa schluckte und wich aus, indem sie sagte: „Ach nichts… ich… ich hab nur darüber nachgedacht, was alles geschehen ist. Ich kann es immer noch nicht so recht fassen… es kommt mir so unwirklich vor.“
Jess´ eben noch aufmunternd lächelndes Gesicht wurde schlagartig ernst und er zog sie vorsichtig in die Arme.
„Das geht mir genauso, Tessa“, sagte er dann. „Ich kann immer noch nicht fassen, dass das wirklich geschehen ist. Es ist furchtbar, und ich wünschte, ich hätte es verhindern können. Ich weiß nicht, wie ich mir das verzeihen soll… du hättest dabei sterben können…“
Auch Tessa liefen bei diesen Worten kleine Schauer über den Rücken – denn sie wusste, dass Jess recht hatte.
Jess schauderte ebenfalls zusammen.
„Nein, Jess“, sagte Tessa schnell. „Mach dir nicht solche Vorwürfe. Das bringt doch niemanden mehr etwas. Es ist nun mal geschehen. Und ich bin genauso schuld, eigentlich ich alleine. Ich meine, woher hättest du wissen sollen, dass ich dich dort finde? Dass ich dort bin? Ich hätte wissen müssen, was ich tu. Ich hätte nicht so unvorsichtig sein dürfen. Ich fürchte, ich war zu gutgläubig und zu sehr auf den Gedanken fixiert, dich finden zu müssen…“
Jess nickte. „Aber genau das ist es doch, was mich so furchtbar trifft, Tessa. Du warst so vieles zu riskieren bereit für mich… und ich… was habe ich jemals für dich riskiert?“
Er sah sie traurig an.
Sie wusste, dass er nicht unrecht hatte, aber sie wollte, sie konnte es ihm nicht zeigen. Darum schüttelte sie hastig den Kopf und küsste ihn traurig auf die Schläfen.
„Das darfst du so nicht sehen“, sagte sie dabei leise.
Jess schüttelte den Kopf. „Aber es ist die Wahrheit, Tessa. Du hast mir immer so viel gegeben… und was hab ich dir gegeben?“
„Deine Liebe!“ erwiderte sie schnell.
Er lächelte sie kurz an und sagte: „Ja… das hab ich… aus ganzem Herzen, das ist richtig, aber…“
„Kein aber… das war das größte Geschenk, was du mir machen konntest“, sagte Tessa schnell und küsste ihn.
Als sie von ihm abließ, lächelte er kurz, wurde dann aber sofort wieder ernst.
„Nein, Tessa… so einfach ist es nicht. Ich hab dir nicht viel geben können. Im Gegenteil, ich hab dir dein Leben nur schwerer gemacht. Es wäre wohl einfacher gewesen, wenn du mich nie getroffen hättest…“
„Das stimmt nicht! Du hast mein Leben um so vieles bereichert…“, begann Tessa, doch Jess unterbrach sie: „Das mag sein, aber es ist nicht einfach geworden durch mich, und wer sollte dir das verübeln? Du lebst in ständiger Angst und Sorge um mich. Das, was für andere Paare ganz normal ist, werden wir nie haben… Ruhe und Zufriedenheit. Ein gemeinsames Zuhause, bisher nicht einmal eine gemeinsame Nacht…“
Er sah sie ernst an. „Denkst du denn, ich habe diese Gedanken nie gehabt, mir nie gedacht, dass auch du sie hast? Und denkst du, ich bin so blind, nicht zu erkennen, wie du dich in den letzten Wochen verändert hast? Dass du immer dünner und blasser geworden bist, dass du chronisch müde bist, weil du in der Nacht aus Angst nicht schlafen kannst…“
Tessa schluckte und konnte ihm nicht widersprechen. Es berührte sie zutiefst, all diese Dinge von Jess zu hören. Sie hatte nicht unbedingt gedacht, dass er all dies nie selbst bemerkt oder gedacht hätte… aber es war nie ein Thema zwischen ihnen gewesen…
Jess strich ihr sachte eine Strähne aus dem lädierten Gesicht und sprach dann weiter. „Du hast ein Recht auf all das, Tessa. Wir haben ein Recht darauf. Ein Recht auf eine Zukunft. Oder nicht?“
Tessa sah ihn fragend an. Sie wusste nicht recht, worauf er hinauswollte, doch er sprach sofort weiter: „Ich habe viel nachgedacht gestern Abend, nachdem du eingeschlafen bist. Du warst bereit, dein Leben für mich zu riskieren… und ich bin nicht einmal bereit, das geringste zu versuchen, was ich für dich und uns tun könnte… und müsste…“