Der Cul´Dawr wurde vor das Podest geführt, und dort blieb er stehen, den Kopf stolz erhoben. Einer der Wachen versetzte ihm einen Stoß in den Rücken, so dass er auf die Knie fiel.
„Nehmt ihm die Ketten ab", befahl Artair.
Der Cul´Dawr warf ihm einen scharfen Blick zu, seine Augen blitzten. Als die Ketten gelöst waren, stand er auf und rieb sich die Handgelenke.
Er musterte Artair verächtlich.
„Ist das klug, König?" Er spuckte das letzte Wort aus, voller Hohn.
„Ich könnte Dich mit einer Hand töten, ehe Deine Beschützer auch nur blinzeln können!"
Noch bevor jemand überhaupt begreifen konnte, was passierte, war Artair blitzschnell von seinem erhöhten Platz gesprungen, hatte das Schwert einer der Wachen an sich gebracht und hielt die Spitze an die Kehle des Gefangenen. Sein Gesicht schien wie aus Stein gemeißelt.
„Versuch es doch. Du solltest nicht den Fehler machen, mich zu unterschätzen", sagte er kalt.
Ich grinste. Niemand hatte so schnelle Reflexe wie Artair.
Die Verachtung im Gesicht des Cul´Dawr wich Überraschung und dann Respekt. Er sah Artair genauer an, und in seinen Augen spiegelte sich das Wiedererkennen. Er nickte ihm zu, und Artair senkte das Schwert.
„Nein", sagte der Cul´Dawr ruhig, „das sollte ich tatsächlich nicht tun. Ich habe Euch kämpfen gesehen."
Er schwieg einen Moment.
„Und heilen", fuhr er fort. „Ihr habt tatsächlich die Gabe. Und ihr habt nicht nur Eure Krieger geheilt, sondern auch mich und meine Männer."
Er sah Artair in die Augen, und die beiden musterten sich, schienen einen Kampf mit Blicken auszufechten und stumme Zwiesprache zu halten. Dann senkte der Cul´Dawr die Augen.
„Werdet Ihr unsere Fragen beantworten?", wollte Artair wissen.
Der Cul`Dawr zögerte, lange; und ich konnte den Zweifel auf seinem Gesicht sehen. Dann sah er Artair entschlossen an.
„Vielleicht sollte ich das", sagte er schließlich. „Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll und was wir tun können. Keiner von uns weiß das."
Artair nickte ihm zu und setzte sich wieder.
„Wie ist Euer Name?"
„Torgar."
„Ihr seid heute hier, Torgar, weil ich im Medela bemerkt habe, dass die anderen Gefangenen auf Euch zu hören scheinen. Seid ihr einer der Häuptlinge der Cul´Dawr?"
„Nein, das bin ich nicht. Oder – vielleicht doch. Das… ist schwierig."
„Was wollt Ihr damit sagen?" Rhiannon runzelte die Stirn.
Torgar sah sie an. „Unsere Häuptlinge sind tot."
Mártainn beugte sich nach vorne. „Alle sieben?"
„Ja, alle sieben."
Ein überraschtes Gemurmel erfüllte die Halle.
„Wie kam es dazu? Seid ihr deshalb hier? Um die fähigsten Anführer zu finden?"
Torgar schüttelte den Kopf. „Nein. Wir sind wegen unserer Kinder hier."
Er blickte auf und sah Artair in die Augen, und dieser erwiderte seinen Blick.
„Erzählt", sagte er.
Torgar schien sich einen Moment zu sammeln, und dann begann er zu erzählen.
„Eigentlich kommen wir jedes Jahr wegen unserer Kinder nach Caer Mornas. Unser Land ist nicht fruchtbar, es gibt wenig Wild, und gegen Ende des Winters haben wir kaum noch Vorräte. Dann hungern wir, und der größte Teil der verbleibenden Nahrung geht an die Kinder. Aber irgendwann hungern auch sie, und dann überfallen wir Euer Land."
Artair schloss kurz die Augen, und Mártainn wandte ein: „Aber ihr seid doch nie erfolgreich."
Torgar winkte ab. „Doch, das sind wir. Wir wollen Caer Mornas nicht einnehmen, aber seine Vorratsspeicher sind verlockend, also versuchen wir es wenigstens. Aber das, was wir unterwegs durch die Plünderung der Höfe erbeuten, reicht, um unsere Kinder bis zum Frühling durchzubringen. Deshalb nehmen wir auch jedes Jahr einen anderen Weg."
In der Halle herrschte Stille.
Torgar schwieg einen Moment und strich sich müde über das Gesicht.
„Aber dieses Jahr ist es anders. Alles ist anders."
Seine Stimme klang auf einmal mutlos.
„Es war vor gut zwei Monden, in der Nacht des vollen Mondes. Ich wachte auf, weil mich etwas aufgeschreckt hatte. Ich konnte zuerst nicht verstehen, was mich so beunruhigte, aber dann begriff ich es. Es herrschte Stille. Absolute Stille, man hörte kein einziges Geräusch. Kein Tier regte sich, kein Blatt raschelte im Wind, der Fluss war stumm. Ich habe niemals zuvor vor etwas Angst gehabt, aber in diesem Moment fürchtete ich mich."
„Ich stand auf und ging nach draußen, um nachzusehen, was geschehen war. Und ich sah, dass auch die anderen Stammesmitglieder erwacht waren und ihre Hütten verlassen hatten. Alle waren im Freien, Männer, Frauen, Kinder, selbst die Alten und Kranken."
Er schwieg einen Moment. „Über dem Hügel am Flussufer lag ein seltsames Leuchten, und wir gingen dorthin. Keiner sagte etwas, und es herrschte immer noch diese unheimliche, unnatürliche Stille. Je näher wir dem Hügel kamen, desto kälter wurde es, und uns beschlich ein eigenartiges Gefühl der Mutlosigkeit. Und als wir dort ankamen, sahen wir sie. Unsere Häuptlinge."
Die Blicke aller Anwesenden waren gespannt auf Torgar gerichtet.
„Sie konnten eigentlich nicht dort sein, unsere Siedlungen liegen weit auseinander, und es hatte keine Versammlung gegeben. Aber dort waren sie, alle sieben. Sie knieten auf dem Boden, die Hände auf dem Rücken gefesselt."
Ich runzelte die Stirn. Ein seltsames Unbehagen überfiel mich.
„Dieser Anblick rüttelte uns auf", fuhr Torgar fort. "Einige von uns stießen wütende Schreie aus, und wir rannten zu ihnen, um sie zu befreien. Aber wir konnten sie nicht erreichen. In ihrer Nähe war es so kalt, dass das Gras mit Reif überzogen war, und wir konnten nicht näher als auf Armlänge an sie heran. Und wir sahen, dass sie gar nicht – echt waren. Wir konnten durch sie hindurchsehen."
Ich stieß scharf den Atem aus, und mir würde übel.
Ich wusste genau, was er gesehen hatte.
Denn ich hatte es auch gesehen, immer und immer wieder, in jeder einzelnen Nacht.
Brayan sah mich besorgt an.
Torgar setzte seinen Bericht fort. „In diesem Moment hörten wir Saeria, die Frau unseres Häuptlings, schreien. Wir drehten uns um und sahen sie aus ihrer Hütte kommen, weinend und mit aufgelöstem Haar. Ein paar Männer fingen sie auf und folgten ihr in die Hütte, und als sie wieder herauskamen, trugen sie Aeric, unseren Häuptling, zwischen sich."
„Sie legten ihn zu unseren Füßen ins Gras, und wir versuchten, ihn aufwecken, aber es gelang uns nicht. Er war nur noch eine leere, atmende Hülle; sein Geist kniete dort in der Reihe bei den anderen Häuptlingen."
Ich sah aus den Augenwinkeln, dass Shainara ihre Hand auf Mártainns Arm legte, und er sah sie an. Sein Gesicht war ernst und ausdruckslos.
Torgar redete weiter. „Und plötzlich standen sie vor uns. Sie waren zu zweit. Nur zu zweit. Aber allein ihr Anblick jagte mir eine solche Furcht ein, dass ich mich kaum rühren konnte."
Er senkte beschämt den Kopf.
„Einer von ihnen richtete das Wort an uns. 'Ich habe einen Wunsch an euch', sagte er, 'und damit ihr die Bedeutsamkeit dieses Wunsches auch versteht, habe ich diese kleine Vorführung hier für Euch vorbereitet. Damit keine Zweifel offen bleiben.'
Er trat einen Schritt auf uns zu und hob seine Hände. Er stand ganz still, er sagte nichts, er tat nichts. Nichts, das man sehen konnte. Aber die Geister der Häuptlinge stürzten und lösten sich in Dunst auf. Und Aeric, unser Häuptling, hörte auf zu atmen."
In der Halle brach Unruhe aus, man konnte die Erschütterung fast mit Händen greifen.
„Keiner von uns konnte sich rühren", fuhr Torgar fort, "Wir standen starr vor Entsetzen und ungläubiger Furcht. Und dann redete der Mann weiter. 'Ihr habt jetzt gesehen, was passieren kann. Und nun gebe ich euch den Anreiz, meinen Wunsch auch tatsächlich zu erfüllen.' "
„Er hob wieder die Hände, und in diesem Moment fielen die Körper all unserer Kinder zu Boden, und die Säuglinge und Kleinkinder lagen schlaff in den Armen ihrer Mütter. Ein feiner, weißer Nebel bildete sich um sie, und ihre Seelen nahmen Form an und schwebten durchscheinend über dem Boden. Sie schienen zu schreien und zu weinen, aber wir konnten sie nicht hören."
Torgars Augen waren feucht.
Artair stand auf, trat auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Was war sein Wunsch?", fragte er, und seine Stimme klang heiser.
Torgar sah ihm in die Augen.
„Seine Anweisungen waren klar und deutlich. 'Geht nach Caer Mornas und bringt mir Artairs Kopf'. Das ist sein Wunsch. Deshalb sind wir hier."
Entsetze Rufe ertönten, und Artair nickte und setzte sich wieder.
Mártainn hob die Hand, und es wurde wieder ruhig.
„Kanntet ihr sie? Könnt ihr sie beschreiben?", fragte er, und ich konnte die Spannung in seiner Stimme hören.
Torgar schüttelte den Kopf. „Es war dunkel, ihre Gesichter lagen im Schatten. Nur einmal fiel ein Mondstrahl darauf."
Er schauderte. „Farblose Augen", murmelte er. „Kalt. Ganz kalt."
Ich taumelte, und Brayan kam mir zu Hilfe und stützte mich. Ich konnte fühlen, dass ich kreidebleich war, und ich hatte das Gefühl, als verlöre ich jeden Halt. Shainara musterte mich scharf, und ich wandte den Blick ab.
Mártainn beugte sich vor, seine Stimme vibrierte. „Der Mann hatte farblose Augen?"
Der Cul´Dawr sah ihn überrascht an und schüttelte dann den Kopf. „Nein", sagte er, „es waren die Augen der Frau."