So, jetzt gibt´s das nächste Kapitel. Es ist seehr lang - das längste bisher - und hat 34 Bilder plus die Lupenbilder.
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In diesem Kapitel möchte ich euch besonders die Lupenbilder zu den Bildern 2 und 23 ans Herz legen.
Artair verließ das Podest und kam auf uns zu. Vorsichtig legte er seine Hand auf Brayans Arm.
„Brayan", sagte er behutsam.
Brayans Gesicht war eine steinerne Maske, nur seine Augen loderten in einem kalten, namenlosen Zorn, der mich noch immer zutiefst verstörte.
„Artair", sagte er, und seine Stimme klang fremd.
„Wir waren Kinder, als wir uns in jener Nacht in die Gruft schlichen und neben den kalten Körpern deines Vaters und unserer Mütter einen Schwur ablegten.
Wir waren nur Kinder, aber ich habe niemals in meinem Leben etwas bitterer ernst gemeint als diesen Eid."
Mit einem raschen Schritt trat Artair an Brayan heran, und seine langen, schlanken Finger legten sich leicht um Brayans Nacken. Er neigte ein wenig den Kopf, so dass seine Stirn beinahe die Brayans berührte.
Brayans Hände umfassten Artairs Unterarme, und die blutbesudelte, schmutzstarrendende Haut hob sich schmerzhaft von der weißen Seide von Artairs Hemd ab.
Sie sahen sich eindringlich an, Brayans Augen funkelten vor unterdrückter Erregung, und Artair war ganz auf ihn konzentriert.
Ihre Haltung hatte etwas Zwingendes, Beschwörendes; und ich konnte sehen, dass nichts um sie herum mehr für sie zu existieren schien. Sie waren ganz allein.
Einen Moment lang konnte ich die zwei kleinen Jungen in jener Gruft vor mir sehen, vor den Grabmälern ihrer Eltern; der Menschen beraubt, die sie am meisten geliebt hatten und von denen sie am meisten geliebt worden waren, allein und tief verbunden durch den gleichen Schmerz.
Eins durch den Zorn, den sie teilten. Und den Racheschwur.
Dann begann Artair zu sprechen, leise nur, mit rauer Stimme, und die Entschlossenheit, mit der er Brayans unausgesprochene Frage beantwortete, jagte mir einen Schauer über den Rücken.
„So war es, und so ist es auch heute noch. Wenn sie es sind, werden wir sie kriegen."
Artair wandte seinen Blick nicht von Brayans Augen ab, dann nickte Brayan langsam und seine Anspannung schien etwas nachzulassen.
Sein verkrampfter Griff um Artairs Unterarme lockerte sich, und sie traten auseinander.
Nur zögernd löste sich Artairs Blick von Brayans Gesicht, als sei er sich noch nicht sicher über dessen Verfassung.
Ich war so gefesselt von dem, was sich zwischen Artair und Brayan abgespielt hatte, dass ich nicht bemerkt hatte, dass meine Eltern, Shainara, Bran und Mártainn zu uns getreten waren.
Ich stöhnte innerlich auf. Zu spät, um zu fliehen.
Und als sich Artair nun mir zuwandte, richtete sich die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf mich.
Shainara sah mich mit ihren dunklen Augen durchdringend an.
„Was hat Neiyra dazu zu sagen?", fragte sie.
Sie schien mir meine abwehrende Antwort vom Gesicht ablesen zu können, denn noch bevor ich den Mund aufmachen konnte, runzelte sie die Stirn und machte eine ungeduldige Bewegung mit der Hand.
„Erzähl mir nicht, dass Du nichts dazu zu sagen hast, denn das ist nicht wahr."
Plötzlich fühlte ich mich müde. Und ich musste vor mir selber zugeben, dass es unklug war, in dieser Situation meine Träume zu verheimlichen.
Und so erzählte ich alles.
Von diesem Traum, und wie lange ich ihn schon hatte, und wie oft.
Als ich meinen Bericht beendet hatte, schwiegen alle einen Moment, und Bran sah mich verblüfft an.
„Erstaunliches Persönchen, die Kleine", murmelte er.
„Hast Du Kopfschmerzen, wenn Du erwachst?", wollte Shainara wissen, und ich nickte.
Shainara seufzte.
„Eine übliche Begleiterscheinung für den Ungeübten. Vielleicht nimmst Du diesmal meine Hilfe an."
„Begleiterscheinung von was?", fragte ich gereizt.
„Aber Du weißt doch, was das zu bedeuten hat?"
Meine Mutter klang erstaunt. „Du hast die Gabe des Sehens."
Ich sah sie ausdrucklos an; bemüht, jede Regung von meinem Gesicht zu verbannen, und dann senkte ich den Kopf.
Es war nicht so, dass mir dieser Gedanke niemals vorher gekommen war.
Die Gabe des Sehens war verbreitet in meiner Familie, sie kam weit häufiger vor als die Gabe des Heilens, die der Linie des südlichen Königreiches geschenkt worden war.
Und ich hatte schon immer Träume gehabt, in denen ich sah, was ich nicht wissen konnte. Aber ich hatte diese Gedanken immer schnell von mir geschoben.
Ich hatte keine Gabe haben wollen, die mich als Mitglied einer Familie kennzeichnete, die ich nicht als meine Familie betrachtete. Und ich maß dem Ganzen keine große Bedeutung bei.
Gut, es war nützlich gewesen, dass ich gesehen hatte, wo Artair war, als er als Kind in dieses Loch gefallen war; und ich hatte mich auch nicht darüber gewundert, dass Dian den Befehl erteilt hatte, sofort mit der Ernte zu beginnen, als ich in jenem Sommer von Heuschrecken geträumt hatte.
Aber diesmal war es anders. Denn das, was ich in den letzten Nächten gesehen hatte, übertraf an Intensität alles vorher Gesehene um ein Vielfaches.
Das Ganze hin und her, die Diskussionen über Kerker und Druidenräte und verschwundene Magier erschienen mir bedeutungslos, denn ich war wie gelähmt vor Angst.
Sicher, alle Anwesenden waren erschüttert von Torgars Geschichte und entsetzt, aber sie hatten es bis jetzt nur mit ihrem Verstand erfasst.
Sie hatten noch nicht begriffen, was es wirklich bedeutete.
Im Gegensatz zu mir.
Ich war viel, viel näher dran als alle anderen, denn ich hatte Meduria gefühlt.
Ihren Hass, ihren Zorn und ihre Wut, und ihre eiskalte Entschlossenheit, das, was sie sich vorgenommen hatte, auch wirklich in die Tat umzusetzen.
Ich hatte ihre Stärke gespürt, ihre Aura gesehen und einen kurzen Augenblick einen Anflug ihrer Macht wahrgenommen, und ich hatte in meinen Träumen nicht einen Moment daran gezweifelt, dass ihr gelingen würde, was auch immer sie zu tun beabsichtigte.
Heute hatten wir erfahren, was sie wollten. Und das erfüllte mich mit einer grauenvollen, unaussprechlichen Angst, denn es bedeutete, dass sie und jener Mann – Runcal, oder wer auch immer er war - Artair töten würden.
Sie würden nicht nachlassen, niemals; und früher oder später würden sie Erfolg haben.
Sie würden Artair töten.
Artair hockte sich vor mir auf den Boden und nahm meine Hand.
„Neiyra", sagte er sanft. „Das ist es, was Dich nachts quält?"
Er legte seine andere Hand unter mein Kinn und zwang meinen Kopf mit sanftem Nachdruck nach oben, so dass er mir in die Augen sehen konnte.
Die Zeit schien einen Moment stillzustehen, als er meinen Blick mit dem seinen festhielt. Und ich konnte es in seinen Augen lesen.
Natürlich. Er wusste es; er war der Einzige, der verstand, was in mir vorging. Wie sollte er es auch nicht wissen?
Er strich mir übers Haar, und dann schmiegte sich seine Hand an meine Wange.
„Ich verspreche es", flüsterte er mir zu.
„Sie werden meinen Kopf nicht bekommen. Alles wird gut."
Er küsste mich auf die Stirn und stand auf.
„Lassen wir Neiyra etwas Luft zum Atmen", sagte er, und ich war dankbar, dass er die Aufmerksamkeit von mir ablenkte.
„Ich werde heute noch einen Boten zu Leodric schicken", teilte Artair den Anderen mit.
„Wir müssen wissen, ob Runcal noch in seinem Kerker sitzt."
„Und wenn er noch dort ist", erwiderte Mártainn, „müssen wir feststellen, ob die magischen Siegel, mit denen wir jeden Zauber in diesem Kerker unterbunden haben, noch intakt sind."
Shainara nickte zustimmend.
„Was ich nicht verstehe", sagte Artair nachdenklich, „ist der Sinn bei dieser ganzen Sache. Der Zweck ist klar - sie wollen mich tot sehen - aber die Mittel erscheinen mir merkwürdig. Wieso dieser Aufwand? Wieso Fremde mit dieser Aufgabe betrauen? Wieso tötet er mich nicht einfach auf die gleiche Art wie die Stammesführer der Cul´Dawr?"
„Zum einen hat es Meduria und Runcal schon immer Freude bereitet, anderen Leid zuzufügen. Sie nannten es `das Spiel spannend machen´", antwortete Mártainn voller Abscheu.
„Aber hinzu kommt noch, dass sie Dich schlichtweg nicht auf diese Art töten können. Du bist der letzte Nachkomme aus der königlichen Linie des südlichen Reiches. Aufgrund der Art, wie Deine Eltern ums Leben gekommen sind, haben Shainara und ich Dich von Kind an mit Schutz umwoben, der es selbst Runcal und Meduria unmöglich macht, Deinen Geist vom Körper zu trennen. Wenn sie dich töten wollen, müssen sie Dich finden und Deinen Körper töten."
Artairs Blick wanderte von Mártainn zu Shainara und wieder zurück.
„Dann stehe ich in Eurer Schuld", sagte er ernst. „Meduria und Runcal – wenn er es denn ist – haben jetzt lange genug mit uns Katz und Maus gespielt. Es wird Zeit, ihnen das Leben schwer zu machen. Aber als erstes…"
Artair winkte Torgar herbei, und der trat zögernd in die Runde. „Als erstes müssen wir sehen, was wir für eure Kinder tun können."
„Ihr wollt uns helfen?" Torgar wirkte überrascht und ungläubig.
Artair nickte knapp. „Mártainn? Shainara?"
Er sah den Druiden und die Hohepriesterin fragend an.
„Den Zauber aufrecht zu erhalten, für so viele Seelen, muss sie viel Kraft und Konzentration kosten. Es sollte möglich sein, ihn zu brechen, aber dafür brauchen wir Zeit", sagte Shainara nachdenklich.
„Wir haben keine Zeit. Unsere Kinder verhungern", wandte Torgar vorsichtig ein.
„Das ist ein mächtiger Zauber, und er erfordert einen noch mächtigeren Gegenzauber. Und es darf uns kein Fehler unterlaufen. Wir brauchen genug Zeit dafür."
Mártainn sah Torgar ernst an.
„Aber ich habe ein Pulver, das ich Euch in ausreichender Menge mitgeben kann. Ihr mischt es in das Wasser, das ihr euren Kindern einflößt, und es wird sie am Leben erhalten."
„Gut." Artair nickte knapp, dann wandte er sich an Torgar.
„Mártainn wird Euch noch heute genug von diesem Pulver aushändigen, dass es für alle sieben Stämme reicht, und sich dann mit Shainara um den Gegenzauber kümmern. Ihr werdet ein Pferd bekommen, und ihr dürft Caer Mornas verlassen und nach Hause reiten, um euren Kindern die nötige Hilfe zukommen zu lassen."
Er sah Torgar eindringlich an.
„Aber ich erwarte Euer Wort als Ehrenmann, dass ihr dafür sorgen werdet, dass die Überfälle und Kampfhandlungen eingestellt werden. Und dass ihr wieder nach Caer Mornas zurück kommt, wenn ihr das Pulver verteilt habt, damit wir beraten können, wie es weiter gehen soll."
Torgar nickte stumm, offenbar fehlten ihm die Worte.
Artair winkte den Wachen, und Mártainn wies Torgar mit einer Kopfbewegung an, ihm zu folgen.
Aber nach ein paar Schritten blieb Torgar plötzlich stehen, drehte sich um und ging raschen Schrittes zu Artair zurück. Als er ihn erreicht hatte, streckte er ihm die Hand entgegen, und Artair ergriff sie ohne zu zögern.
„Danke", sagte Torgar mit rauer Stimme, wandte sich um und verließ mit Mártainn und den Wachen die Hohe Halle.
Brayan ließ sich neben mich auf die Bank fallen. Er sah völlig erschöpft aus.
„Du hast mir nie erzählt, was damals passiert ist", sagte ich zögernd. „Mit Artairs Eltern und deiner Mutter."
Er schwieg; solange, dass ich schon nicht mehr mit einer Antwort rechnete. Aber dann fing er plötzlich an zu reden.
„Ich weiß nicht mehr viel über die Kämpfe im letzten Zeitalter, ich war ja noch ein Kind. Aber ich kann mich noch erinnern, dass Artairs Mutter nicht aufhörte, die Bedürftigen in den Siedlungen und Gehöften um Caer Mornas zu besuchen.
Stets wurde sie von meiner Mutter begleitet. Sie waren gute Freundinnen, meine Mutter und Königin Ashvana.
An jenem Tag war Branagh, Artairs Vater, unruhig.
Er lief immer wieder auf die Wehrmauer, um nach ihnen Ausschau zu halten, und als der Sonnenuntergang nahte und sie immer noch nicht zurück waren, ritt er mit ein paar Männern los, um sie zu suchen. Sie kamen nicht zurück."
Brayan fuhr sich mit der Hand über die Augen.
„Sie wurden erst zwei Tage später gefunden. Die Kutsche lag umgestürzt auf einer Lichtung im Wald, die Pferde waren versprengt. Die Leichen lagen im Gras. Sie waren alle tot; Branagh, Ashvana und ihre Begleiter. Sie hatten keine Wunden am Körper, nicht eine einzige Verletzung. Kein Druide wollte uns sagen, was sie getötet hatte. Aber meine Mutter fehlte."
Vorsichtig legte ich meine Hand auf seinen Arm.
„Ich wusste nicht, was ich zu Artair sagen sollte", fuhr er mit erstickter Stimme fort.
„Seine Eltern waren tot, und ich, ich hoffte die ganze Zeit, dass meine Mutter noch lebte."
Er stieß heftig den Atem aus.
„Nach fünf Tagen wurde sie gefunden. Sie irrte durch den Wald südlich von hier, barfuß und mit zerrissenen Kleidern. Auch sie war äußerlich unverletzt, aber in ihren Augen stand der Wahnsinn.
Mein Vater trug sie in ihr Zimmer, wusch sie, kleidete sie und legte sie auf ihr Bett, und dort blieb sie liegen. Sie starrte ins Leere und sagte nicht ein Wort.
Die Heiler sagten, sie bräuchte absolute Ruhe, aber des Nachts kroch ich heimlich zu ihr ins Bett und versuchte, sie zu wärmen und sie zurück zu holen, aber es war vergebens.
Drei Tage später war sie tot. Sie hat einfach aufgehört, zu leben."
Brayans Augen glitzerten feucht.
„Seit dieser Zeit", flüsterte er, „ist kein Tag vergangen, an dem ich mich nicht gefragt habe, was er mit ihr gemacht hat."
Ich legte meinen Kopf an seine Schulter und nahm seine Hand, und er ließ seinen Kopf auf meinen sinken.
Worte waren überflüssig. Nichts konnte seinen Verlust ungeschehen machen, und ich konnte nichts sagen, das ihm Frieden geben würde.
Plötzlich öffnete sich das große Eingangstor, und fünf Männer der Wache führten ein junges Mädchen herein, das sie in ihre Mitte genommen hatten.
Brayan sprang so heftig von der Bank auf, dass sie beinahe umkippte, und ich konnte mich gerade noch fangen.
„Ariadna!", rief er, und sein Gesicht hatte jede Farbe verloren.
„Brayan!" Ihre Stimme war ein silberner Hauch.
Sie stürzte auf ihn zu und schmiegte sich in seine Arme. Als sie zu ihm aufsah, konnte ich die Tränen in ihren Augen sehen.
„Ich bin so froh, dass ich endlich hier bin. Ich hatte solche Angst!"
„Ariadna!" Das war Brans Stimme.
Sie drehte sich zu ihm um warf sich in seine Arme.
„Vater", schluchzte sie. „Es hat so lange gedauert, bis die Kutsche wieder gerichtet war, und ich habe Augen im Wald gesehen!"
„Na, na. Ist ja gut, Kleines." Unbeholfen tätschelte Bran ihren Rücken.
Ich beobachtete fassungslos ihre tränengefüllten Augen.
Warum, um alles in der Welt, machte diese Person so ein Theater? Ihr Vater hatte sie schließlich nicht allein im Wald ausgesetzt, sondern den größten Teil seiner Männer zu ihrem Schutz zurück gelassen. Es war weitaus gefährlicher für Bran gewesen, mit nur zwei Männern Begleitung nach Caer Mornas zu reiten, als für sie, bei der Kutsche zu warten.
Ich schüttelte den Kopf. Ich wandte mich zu Brayan, um eine abfällige Bemerkung zu machen, und hielt verblüfft inne.
Seine Augen leuchteten, und er konnte den Blick nicht von ihr abwenden.
„Woher kennst Du sie?", fragte ich ihn.
„Aus Caer Galadon", antwortete er geistesabwesend. „Als ich in jenem Sommer dort war, um mich von meinem Fieber zu erholen, hat sie Shainara besucht."
Er hatte sie in Caer Galadon kennen gelernt?
Sofort fiel mir wieder ein, was Artair erzählt hatte. Ich musterte Brayan verstohlen von der Seite.
War das etwa die Frau, der sein Herz gehörte und die er nicht vergessen konnte?
Bran hatte seine Tochter inzwischen zu Shainara geführt.
„Ariadna", sagte sie, und sie klang überrascht. „Was machst Du hier?"
„Es verlangte unsere Tochter danach, ihre Mutter zu sehen", sagte Bran und lachte.
„Ihr wisst doch, ich konnte ihr noch nie etwas abschlagen, deshalb habe ich sie mitgenommen. Auch wenn die Kutsche mehr als hinderlich war."
„Sie ist Shainaras Tochter?", fragte ich Brayan überrascht.
„Ja", erwiderte er und zwang sich, den Blick von Ariadna abzuwenden und mich anzusehen.
„Sie ist ein Kind der Frühlingsfeuer."
Jetzt verstand ich. Jedes Frühjahr wurde die Zeremonie der Frühlingsfeuer von den Priesterinnen durchgeführt, um den Göttern zu danken, dem Kreislauf des Lebens zu huldigen und um eine reiche Ernte zu bitten. Auch das Volk beteiligte sich daran.
Hatte es jedoch mehrere Jahre lang Missernten gegeben, war es die Aufgabe der Hohepriesterin, den Ritus selbst durchzuführen - zusammen mit dem Herrscher des Landes.
Kinder, die dabei gezeugt wurden, waren heilig.
„Ich frage mich, warum sie nicht bei Shainara aufgewachsen ist, sondern bei Bran", sagte Brayan nachdenklich.
„Die Hohepriesterin hat keinen Anspruch auf die Kinder, die sie dem Land schenkt", antwortete ich und beobachtete, wie Bran und Shainara ihre Tochter zu Artair führten, um sie ihm vorzustellen.
„Diese Kinder sind das sichtbare Zeichen, dass die Götter dem Land und dem Herrscher wohlgesonnen sind. Sie sind ein Segen, und deshalb wachsen sie in den allermeisten Fällen bei ihren Vätern auf."
Ich sah Ariadna versonnen an.
Die Tochter eines Königs und der Hohepriesterin der Königreiche, empfangen in der Nacht der Frühlingsfeuer, geboren als Segnung für ihr Land - damit war ihre Abstammung edler als die aller Anwesenden zusammen.
Wenn sie wirklich die Frau war, die Brayan liebte, war es kein Wunder, dass er keine Hoffnung hatte.
Sie war unerreichbar für ihn. Sie war eines Königs würdig.
Ich beobachtete, wie Artair ihre Hand an die Lippen führte. Ariadna starrte ihn an, und Artair sah ihr gebannt ins Gesicht.
Und er sagte kein Wort. Keine freundliche, unverbindliche Begrüßung für die junge Tochter eines verbündeten Königs; es schien, als hätte er alle Worte vergessen.
Er hielt immer noch ihre Hand mit der seinen umfangen und konnte den Blick nicht von ihren Augen lösen, die, noch angefüllt mit einer Spur Tränen, sanft schimmerten.
Mir war, als hätte man mir völlig unvermutet einen Hieb in die Magengrube versetzt.
Denn ich kannte den Blick, mit dem er sie ansah. Es war der gleiche, mit dem ich ihn manchmal ansah, wenn ich mich unbeobachtet glaubte.
Ich hatte das Gefühl, als ob sich der Boden unter meinen Füßen öffnete, und ich ohne Halt in ungeahnte Tiefen stürzte.
Sie war eines Königs würdig.
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