Kapitel 5
Mitten in der Nacht
Marie wurde vom schrillen Klingeln des Telefons aus dem Schlaf gerissen. Einen Moment war sie so verwirrt, dass sie sich gar nicht zurechtfand. Dann fiel sie mehr aus dem Bett, als dass sie aufstand, tastete sich im Halbdunkel des Zimmers zum Telefon und nahm schlaftrunken ab.
„Hallo, wer ist da?“ Sie warf einen Blick auf ihren Wecker. Es war halb vier in der Nacht, welcher Idiot rief einen um diese Zeit an?!
„Marie? Hier ist Cedrik.“
Marie spürte ihre Knie puddingweich werden und der Hörer in ihrer Hand begann unschön zu zittern.
„Cedrik?“ krächzte sie in den Hörer. Was um Himmels willen wollte Cedrik von ihr? Wo hatte er ihre Telefonnummer her? Und… wieso rief er um diese Zeit an?
„Was um Himmels willen… wieso rufst du mich mitten in der Nacht an und woher hast du überhaupt meine Nummer?“ sagte sie verärgert und versuchte, das wildflatternde Pochen ihres Herzens zu ignorieren.
Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach sie schnell weiter: „Cedrik, egal, was du willst, ich hab morgen einen harten Tag vor mir und werde früh raus müssen, also lass uns das zu einer vernünftigen Uhrzeit klären.“ Wie bescheuert musste dieser Mensch sein, sie mitten in der Nacht allen ernstes anzurufen?
„Und ohnehin denke ich, dass es besser wäre, wenn wir…“ Sie brach im Satz ab, denn Cedrik brüllte förmlich: „Schluss jetzt! Hör auf, sei still!“
Sie schluckte verdattert.
„Es geht nicht um dich und mich, es geht um Susan!“
Marie zuckte zusammen.
„Was… was ist mit Susan?“
„Sie hatte einen Unfall“, sagte Cedrik schnell und mit dünner Stimme. „Sie braucht uns jetzt – alle beide. Sie haben sie in die Westklinik gebracht. Ich bin bereits auf dem Weg zu dir, ich werde in zwei Minuten da sein…. Marie… du kommst doch mit?“
Marie schluckte, ihr Mund war trocken. „Natürlich. Ich bin sofort unten.“
Sie warf den Hörer in die Ecke, stolperte über ihre Schuhe und fingerte zitternd nach dem Lichtschalter.
Susan! Was war geschehen? Ein Unfall hatte Cedrik gesagt. Doch nichts Schlimmes.....Und wieso rief ausgerechnet er sie an? Susan musste morgen auch arbeiten. Wie konnte sie nur mitten in der Nacht einen Unfall haben?
Marie versuchte sich selbst zur Ruhe zu zwingen. Dass sie jeden Moment mit Cedrik zusammen in einem Auto sitzen würde, war ihr inzwischen völlig gleich. Alles verblasste über die Sorge, die sie sich um ihre beste Freundin machte.
Sie fischte ihre Jeans aus dem Wäschekorb und schälte sich schnell in BH und Pullover. Die Kälte der Wohnung kam ihr doppelt so schneidend vor wie gestern Abend. Sie zitterte am ganzen Körper, so sehr sie sich zu kontrollieren versuchte, es ging nicht.
Rasch schlüpfte sie in ihre Schuhe und warf einen Blick aus dem Fenster. Unten auf der Straße fuhr gerade ein dunkler VW Golf vors Haus. Das musste Cedrik sein. Sie musste sich beeilen!
Für MakeUp, Frisur oder sonstiges blieb keine Zeit. Es war auch nicht wichtig. Während sie panisch nach ihren Hausschlüsseln griff, steckte sich Marie schnell ein Pfefferminz in den Mund und als sie die Treppen hinunter rannte, band sie ihre Haare mit einem Gummiband im Nacken zusammen. Sie musste furchtbar aussehen, aber das war ihr in diesem Moment vollkommen egal.
Rasch ließ sie die Haustür hinter sich zufallen und lief schnellen Schrittes auf den VW Golf zu, der ihr mit seinen Scheinwerfern den kiesigen Weg erhellte.
An ihre Jacke hatte sie gar nicht gedacht. Erst als ihr die Kälte schneidend durch alle Glieder fuhr, wurde ihr bewusst, dass sie ohne selbige das Haus verlassen hatte. Doch selbst das war Marie nun vollkommen egal.
Sie öffnete die Tür und ließ sich wortlos ins Auto fallen.
Es roch nach Cedriks AfterShave, vermischt mit einem muffigen, herben Geruch, der vielleicht von einem Hund stammte.
Cedrik sah sie kurz an und gab dann wortlos Gas. Auch er trug nur ein dünnes T-Shirt, welches er sich wohl achtlos übergeworfen hatte. Verständlich, dass auch er vollkommen durch den Wind war.
Sie fuhren eine Weile vollkommen still durch die Nacht, dann erhob Cedrik das Wort. Im fahlen Licht sah Marie, dass er mitgenommen aussah. In ihre wogte ein zärtliches Gefühl auf, das sofort wieder verebbte, als sie Cedrik sprechen hörte. „Du willst bestimmt wissen, was geschehen ist. Mein Vater rief mich vor einer halben Stunde an und sagte mir Bescheid. Ich weiß auch keine Details, aber so wie er es mir erzählte, ist Susan angefahren worden… er konnte mir nicht viel mehr sagen…“
Seine Stimme war dünn und voller Schmerz. „Sie wird wohl noch operiert… ich… kann das alles noch gar nicht fassen.“
Marie folgte einem spontanen Impuls und legte ihre Hand kurz auf die seine, die den Steuerknüppel fest umschlossen hielt, als ob Cedrik sich daran festhalten wollte.
Cedrik warf ihr einen kurzen Blick zu und im Dunkel des Autos schien Marie etwas wie Dankbarkeit darin zu lesen.
„Sie… ist es denn schlimm?“ fragte sie leise.
Cedrik zuckte mit den Achseln. „Er wollte oder konnte mir nicht mehr sagen… nur dass ich so schnell es geht kommen soll und dich auch anrufen soll…“
Er sah sie wieder kurz an. „Ich hätte dich natürlich ohnehin angerufen.“
Marie nickte. Sie fuhren schweigend weiter, die Stadt war menschenleer und schlief noch ruhig und selig, als sei nichts geschehen.
Marie schluckte mehrmals gegen den trockenen Mund an und spürte ihr Herz hart gegen die Brust klopfen, aber diesmal aus banger Angst und nicht aus kribbeliger Aufregung.
Es schien ewig zu dauern, bis in der Ferne endlich die Lichter der Westklinik auftauchten. Cedrik fuhr mit quietschenden Reifen auf den Parkplatz und ignorierte, dass er auf einem Behindertenparkplatz stand.
Gemeinsam hasteten sie in die Klinik und sahen sich ratlos um.