Kapitel 9
Stunden der Wahrheit
Je länger sie alle schweigend im Wartezimmer sassen, desto mehr Geräusche waren im Krankenhaus zu vernehmen. Schließlich dämmerte in der Ferne der Morgen und verdrängte das grelle Neon-Licht mit sanften Rottönen.
Marie sah auf die Uhr. Es war bereits halb sieben. Obwohl sie selbst nicht begriff, wie sie in diesem Moment an etwas so banales denken konnte, fiel ihr ein, dass sie ihren Chef anrufen und ihm alles erklären musste. Einen Moment war ihr bange, ob er ihr gestatten würde, im Krankenhaus zu warten, schließlich fielen ihm nun zwei Arbeitskräfte auf einmal aus.
Im selben Moment entschied Marie, dass es ihr vollkommen gleich war, was er sagen würde – keinen Zentimeter würde sie von der Stelle weichen.

Aber Bescheid geben musste sie ihm wohl oder übel. Also erhob sie sich und sagte nach einem Räuspern: „Ich… ich muss im Hotel anrufen und Herrn Kury alles erklären…“
Simone sah auf und nickte dann. „Ja, das wäre nett von dir. Ich habe gesehen, dass in der Eingangshalle Münztelefone stehen.“
„Ich denke, ich habe mein Handy dabei… ich muss nur vor die Tür gehen“, sagte sie und warf einen Blick auf Cedrik. „Möchtest du mitkommen, Cedrik? Wir sollten Herbert und Simone einen Tee oder Kaffee mitbringen, damit sie sich etwas stärken können.“
Cedrik sah müde auf und wirkte, als sei er gerade aus einer Trance erwacht.
Er warf einen Blick zu Herbert und Simone, die beide nickten. „Ein Tee wäre gut, denke ich“, sagte Herbert müde.
Cedrik erhob sich langsam und während er mit Marie den langen Gang zurückging, sah diese aus den Augenwinkeln, dass Herbert und Simone dicht zusammenrückten und sich in die Arme schlossen.

Schweigend gingen sie und Cedrik den Weg, den sie gekommen waren, zurück. In der Eingangshalle brannte inzwischen Licht und eine Putzfrau stand in einer Ecke und wrang ihren Mop über einem überdimensional großen Putzeimer aus, während sie in breitem Spanisch ein fröhliches Lied, das so gar nicht zu diesem Moment und hierher zu passen schien, vor sich hinträllerte.
Auch als sie Marie und Cedrik erblickte, ließ sie sich nicht in ihrer musikalischen Einlage stören und schien sogar noch etwas lauter zu singen.
Marie warf Cedrik einen Blick zu und sein Mund umspielte ein zaghaftes Lächeln.
Gemeinsam traten sie durch die Tür nach draußen. Die Morgenluft war kühl und feucht, aber sie tat nach dem muffigen Geruch auf dem Flur gut und wirkte erfrischend.
Sowohl Cedrik als auch Marie atmeten mehrere Male tief durch.

Dann fingerte Marie in ihrer Handtasche nach ihrem Handy und während Cedrik langsam einige Schritte den Weg auf und ab ging, wählte sie die Nummer des Hotels.
„Hotel Gloria, Merser am Apparat, was kann ich für Sie tun?“ meldete sich eine Frauenstimme am anderen Ende der Leitung.
„Julia? Hier ist Marie“, sagte Marie leise.
„Ah, Marie, guten Morgen, schön dich zu hören“, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung fröhlich. „Gut, dass du dich meldest, meine Schicht ist gleich zu Ende und ich wollte doch unbedingt fragen, wie eure Prüfung gestern gelaufen ist!“
Marie schwieg einen Moment verwirrt. Die Prüfung und der gestrige Tag… das alles war wie in weite Ferne gerückt, es schien plötzlich so unwichtig, banal und fast surreal.
„Die Prüfung…“, wiederholte sie darum. „Achso, ja, ganz gut… aber Julia, ich… ich kann jetzt nicht darüber reden, denn… es ist etwas schlimmes geschehen, Julia… kannst du mich bitte mit Herrn Kury verbinden?“

Julias Stimme änderte sich sofort. „Mein Gott, Marie, du klingst furchtbar… warte, ich verbinde dich mit ihm, er ist gerade eben reingekommen.“
Und im nächsten Moment hörte Marie die fröhliche Wartemelodie, die sonst all ihren Gästen ins Ohr gedudelt wurde – „Don´t worry, be happy!“ sang der unbekümmerte Elektrosänger vor sich hin. Marie schien dieses Lied in diesem Moment noch unwirklicher als das Geplärre der spanischen Putzfrau, das selbst durch die geschlossenen Türen noch zu hören war. Sie seufzte kopfschüttelnd auf und war froh, dass sie innerhalb weniger Sekunden die tiefe, strenge Stimme ihres Chefs am anderen Ende der Leitung vernahm.
„Guten Morgen, Marie“, sagte er schnell. „Julia sagte, Sie haben eine schlechte Nachricht, es sei etwas passiert?“

„Ja, Herr Kury. Es tut mir wirklich leid, aber ich kann heute nicht zur Arbeit kommen… und Susan …“ sie schluckte und kämpfte gegen den Kloß im Hals an. „Susan auch nicht“, beendete sie den Satz mehr oder minder unvollständig.
„Marie, das ist nicht Ihr Ernst, oder? Sie wissen genau, dass Sie beiden nicht gleichzeitig fehlen sollten. Wir haben niemanden für die Rezeption und die Hausdame fehlt uns auch…“
„Herr Kury, bitte…“, sagte Marie flehentlich. „Bitte hören Sie mir zu. Ich rufe von der Westklinik aus an. Susan hatte heute Nacht einen schweren Unfall. Sie wurde angefahren und zurzeit wird sie operiert… verstehen Sie, Herr Kury“, ihre stimme zitterte erneut. „Sie schwebt noch immer in Lebensgefahr. Ich… ich kann hier nicht weg, ihre Eltern brauchen mich… und… ich bin völlig außerstande…“ Sie kam nicht weiter, denn ihr Chef schnitt ihr das Wort ab.
„Marie! Nun beruhigen Sie sich doch!“
Marie atmete tief durch und ihr Herz sank. Vermutlich würde Herr Kury tatsächlich darauf bestehen, dass sie zur Arbeit erschien.
Doch dessen Stimme am anderen Ende der Leitung klang mit einemmal selbst belegt. „Das ist ja furchtbar, was Sie da sagen. Natürlich bleiben Sie in der Klinik. Bitte rufen Sie mich an, sobald Sie etwas Neues wissen. Ich werde schon einen Ersatz für Sie beiden finden… ich werde den Kollegen Bescheid sagen…“
Marie atmete auf. „Danke, Herr Kury.“
„Marie, sagen Sie bitte Susans Eltern, dass wir alle hier für sie beten werden“, sagte er schnell und legte dann den Hörer auf.

Während Marie mit der freien Hand unruhig über ihren Bauch strich, in welchem sich ihr Magen vor Angst zusammenzog, ließ sie mit der anderen ihr Hand zurück in die Tasche sinken. Cedrik stand neben ihr und sah sie an. „Alles in Ordnung?“
Sie nickte. „Ja, alles in Ordnung…“
Was sagte sie da? Nichts, rein gar nichts war in Ordnung! Susan lag irgendwo da drinnen auf einem OP-Tisch und kämpfte um ihre Leben!
Entgegen ihrer eigenen Gedanken fragte Marie sinnloserweise: „Bei dir auch? Bist du okay?“
Cedrik nickte und streckte sein Kinn nach vorne, als wolle er sich selbst überzeugen.
„Ja, alles in Ordnung…“ Er stockte und schien dieselben Gedanken zu haben wie sie eben.

Mit einemmal drang ein seltsamer Laut aus seiner Kehle, der Marie Mark und Bein erschütterte. Sie brauchte einen Moment um zu begreifen, dass er trocken aufgeschluchzt hatte.
„Oh Marie“, sagte er verzweifelt. „Marie… Marie…!“
Marie quoll das Herz über vor Zuneigung, als sie den sonst so starken, unnahbaren Cedrik so vor sich stehen sah. Die Tränen glänzten in seinen Augen und seine Schultern zuckten.
Ohne nachzudenken zog Marie ihn einige Meter weiter auf eine Bank und dann in ihre Arme.
Kaum hatte ihr zarter Duft seine Nase berührt und ihre zierlichen Arme seinen starken Körper umschlossen, fiel Cedriks letzter Widerstand und er begann hemmungslos zu schluchzen.
Marie hielt ihn so fest sie es konnte. Sie wusste nicht, was sie fühlen sollte. In ihr waberte eine warme Zuneigung auf und ab, vermischt mit ihrem eigenen, tiefen Schmerz, den sie mit ihm empfand.
