Wo steckt dieser Mensch bloß? Plötzlich kommt mir zu Bewusstsein, dass all die Jahre, die wir nun zusammen zur Schule gehen, ICH vor dem Schultor auf IHN warte, und nicht ER auf MICH.
Drinnen läutet es bereits zur ersten Stunde. Na, komm’ ich halt mal zwei Minuten später in die Klasse – ist doch keine Tragödie!
Unwichtig! Was viel wichtiger ist: Warum ist Matti noch nicht da?
Liegt’s an der ausgedienten Vespa? Bisher hat sie immer noch ihre Dienste geleistet, aber es kann ja sein, dass sie ausgerechnet heute auf der Strecke liegen geblieben ist – ist ja schon fast ein Oldtimer, da muss man immer damit rechnen.
Matti wird schon irgendwann eintrudeln.
Bevor Professor Bauer, unsere schwülstig-exaltierte Deutschlehrerin zu einer Ode „an die versäumnisreichen Schüler“ ansetzen kann, suche ich mal doch lieber meinen Platz in der 8B auf. Keine Minute zu früh für einen Klassenbucheintrag!
Matti taucht in dieser Stunde nicht auf. Auch in der nächsten nicht!
Langsam beginne ich, mir Sorgen zu machen.
Als er auch in der großen Pause noch nicht da ist, nehm’ ich mir mal ein Herz und wage einen Schritt ins Heiligtum – ins Lehrerzimmer.
„Ähm!“ Räusper, räusper! Hier geht’s ja zu wie in einer Volksschulklasse!
Frau Professor Newald, unsere junge, sympathische Geschichtslehrerin ist die Erste, die auf mich verschüchterte, kleine Schülerin aufmerksam wird.
„Wo drückt der Schuh, Jaqueline?“
„Na ja, hmm, Matthias Unterrheiner ist heute nicht zum Unterricht gekommen. Ich bin seine beste Freundin (bin ich das noch?) und wir haben uns gestern Abend noch gesehen…“
Die Newald ist lieb. Bevor ich mich noch weiter bloß stellen kann, fällt sie mir ins Wort.
„… und als seine beste Freundin machst du dir natürlich Sorgen, dass ihm was passiert ist. Nett von dir, aber brauchst du nicht. Matti’s Mutter hat heute Morgen angerufen und bekannt gegeben, dass Matti die Grippe erwischt hat. Na ja, die geht halt um momentan, obwohl wir heuer noch fast ein richtiges Sommerwetter haben, für das, dass es schon September ist.“
So, so!
Die Grippe also! Muss ja ein irrer Virus sein!
Zumindest hab’ ich noch nie eine so kurze Inkubationszeit erlebt, wie jetzt bei Matti. Gestern Abend noch pumperlg’sund und heute Morgen schon rafft ihn diese fürchterliche Krankheit dahin!
Feiger Kerl! Der will sich doch nur vor unserer Aussprache drücken!
Na, dem werde ich heute Nachmittag einen kleinen Besuch abstatten! Wie kann man nur als männliches Wesen von 16 Jahren so ängstlich sein und eine Grippe vortäuschen, um seiner besten Freundin (die man eben in einer Anwandlung von Sinnlichkeit geküsst hat) nicht unter die Augen treten zu müssen? Tss, tss!
Hastig bedanke ich mich bei Professor Newald für ihre liebenswürdige Auskunft und entschwinde schnell wieder den neugierigen Lehreraugen, um mich auf die Suche nach Ulli zu begeben.