Ireen war von der Idee ihres Großvaters nicht sonderlich begeistert.
Sie hatte keine gesteigerte Lust darauf, mit den irischen Landpomeranzen und Bauernjungen zusammenzutreffen.
Doch da die Milch für den morgendlichen Kaffee und auch das Brot für das Frühstück bereits recht knapp waren, machte sich das Mädchen dennoch – wenn auch mit missmutiger Miene auf den Weg zum Dorfzentrum.
Sie war kaum fünf Minuten gegangen, als sie auch schon an ihrem Ziel war.
Gegenüber der schmalen Dorfstraße befand sich die Greißlerei, in der die Einwohner des 120-Seelen-Ortes ihren Lebensmittel- und sonstigen Bedarf deckten.
Doch vor diesem gemütlich wirkenden, kleinen Gebäude hockte eine Gruppe Jugendlicher – Jungs und Mädchen, die angeregt miteinander plauderten, schäkerten, lachten… und schließlich neugierig zu dem Neuankömmling, der unentschlossen auf der anderen Straßenseite stand, hinüberspähten.
Ireen blieb nichts anderes übrig, als an der kleinen Schar vorbeizugehen, um das Geschäft betreten zu können.
Sie beschloss, ihr Bestes zu geben und locker und fröhlich zu wirken.
Bevor sie jedoch dazu kam, ein freundliches Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern, bemerkte sie, dass zwei Mädchen die Köpfe zusammensteckten und miteinander tuschelten und kicherten, wobei sie immer wieder in Ireen’s Richtung blickten.
Schlagartig sank Ireen’s gute Laune Richtung Nullpunkt und das Lächeln gefror ihr auf dem Gesicht. Was bildeten sich diese beiden Bauerntrampel eigentlich ein?
Sie setzte ihre hochmütigste, überlegenste Miene auf und schritt geradewegs und hocherhobenen Kopfes auf das Geschäft zu, ohne den Blick nach links oder rechts zu wenden.
„Hey, Hollywood-Prinzessin! Bis du dir zu gut dafür, zu grüßen? Ist das nicht üblich bei euch in der Schickeria? Bei uns hier ist es immer noch der Brauch und ein Zeichen von guter Erziehung, wenn man die Leute aus dem Dorf begrüßt! Aber du bist dir wahrscheinlich zu fein dafür, nicht wahr? Wenn ja, wirst du bald ein paar Probleme hier haben!“ rief ihr das blonde Mädchen nach.
Ruckartig blieb Ireen stehen und drehte sich zu dem Mädchen um.
„Wiederhol’ das, Blondie!“ knurrte sie die Rosagewandete in der drohendsten Tonlage, zu der sie fähig war, an.
Während die Blonde sich verdutzt auf eine Bank fallen ließ, mischte sich plötzlich deren braunhaarige Freundin ein.
„Warum soll sie es wiederholen? Bist du schwerhörig oder einfach nur zu blöd, um es gleich beim ersten Mal zu kapieren?“ keifte sie in Ireen’s Richtung.
Zwei gutaussehende Jungs, die anscheinend Brüder waren, hatten das ganze Szenario bisher wortlos mitangesehen.
Einer der beiden, der dunkelhaarigere, wandte sich aber nun zu dem Mädchen um.
„Reiß dich zusammen, Bridget! Lass dich nicht von dieser ‚High-Society-Zicke’ provozieren! Wir wollen schließlich alle keinen Ärger mit dem alten Mc Allistair bekommen, oder?!“
Die angesprochene Bridget verdrehte zwar die Augen und murmelte schmollend unverständliches Zeug vor sich her, aber verblüffenderweise hielt sie sich tatsächlich zurück und ließ Ireen in Ruhe.
Ohne sich weiter mit der Dorfjugend abzugeben, betrat Ireen den kleinen Laden und grüßte das Verkaufspersonal betont freundlich.
Keiner sollte hier glauben, dass sie hochnäsig und unhöflich sei. Ihr Verhalten vorhin war schließlich nur die Reaktion auf den Spott der beiden Mädchen. Sie hasste es, irgendwo „die Neue“ zu sein. Sie war, wegen des Berufs ihrer Mutter, der diese ständig an andere Orte geführt, an die sie ihre einzige Tochter überall mitgeschleppte hatte, zu oft „die Neue“ gewesen. Nicht immer war es Ireen leicht gefallen, sich einzuleben. Oft genug war sie während des gesamten Aufenthalts eine Ausgestoßene geblieben.
Ihr Auftreten vorhin hatte also keineswegs etwas mit Arroganz zu tun, sondern einfach nur mit großer Unsicherheit, die durch das Tuscheln der beiden Mädchen nur verstärkt worden war.
Nun allerdings schwirrte Ireen eine Frage im Kopf herum: Was hatte es mit der Bemerkung des dunkelhaarigen Jungen auf sich gehabt?
„Wir wollen schließlich alle keinen Ärger mit dem alten Mc Allistair bekommen, oder?!“
Welch einen Ruf trug ihr Großvater wohl in diesem Dorf? Warum begegneten ihm die Nachbarn, zumindest die wenigen, die sie seit ihrer Ankunft zu Gesicht bekommen hatte, mit solch einer ehrerbietigen Hochachtung, als sei er ein Graf oder ähnliches – wo er doch selbst in einer ebenso schäbigen Hütte wohnte wie alle anderen? Warum war die aufmüpfige, freche Bridget sofort verstummt, nachdem der Junge die Äußerung über den „alten Mc Allistair“ getätigt hatte?
Nachdem Ireen ihre Einkäufe getätigt hatte und wieder auf den Vorplatz des Geschäfts trat, waren die Kids verschwunden. Seufzend ließ sie sich auf einer Bank nieder und dachte angestrengt über das Verhalten der Jungs und Mädchen nach.
War dies eine Spur, die ihr auf ihrem Weg, das Familiengeheimnis der Mc Allistair’s zu lüften, weiterhalf? Ireen nahm sich vor, diesen Jungen näher im Auge zu behalten. Er hatte zwar auch nicht besonders freundlich über sie gesprochen, aber er schien mehr zu wissen als die anderen Jugendlichen hier…