Kapitel 1.11
Ich kann nicht schlafen.
Bis früh morgens sitze ich einfach nur da und kann meine Gedanken nicht zur Ruhe bringen. Der Mond scheint in das Schlafzimmer der Wohnung, die ich vor wenigen Wochen bezogen habe und die immer noch der Innbegriff von spartanisch ist. Eigentlich ist es eine ruhige Nacht... fast schön, wenn ich einen Kopf dafür hätte.
Seit Michaels Auftauchen ist jetzt fast eine Woche vergangen... und er liegt immer noch im Koma.
Die einzelnen Personen ausfindig zu machen, allein aufgrund ihrer IP-Adresse und ihres Nicks... ich bin froh, kein Computerexperte zu sein. Außer ein paar Anrufen mit dem Internetprovidern und Gesprächen mit den zuständigen Kollegen, welche die Genehmigungen eingeholt haben hatte ich damit recht wenig zu tun.
Zum Glück konnten wir die Leute auf das Gebiet von New York einschränken.
Aber... Menschen, die denken sie seien hinter ihrem Monitor sicher und anonym verfallen schonmal leicht in Panik, wenn auf einmal die Polizei vor der Tür steht.
Auch wenn es so ein netter Dedective wie ich bin.
Mike scheint eigentlich wirklich ein ganz normaler Junge zu sein... ein normaler Junge, der sich in der Schwulenszene des Big Apple herumtrieb.
Warum wir davon nichts vorher wußten... keine Ahnung.
Aber als ich vor dem Haus eines der Zeugen stand, wurde mir ein wenig flau im Magen.
In der Szene treibe ich mich schon lange nicht mehr rum, aber an das eine oder andere Gesicht erinnere ich mich noch... und tatsächlich... Shawn Patricks war einer meiner ersten... Bekannten.
Danach war mir so einiges klar.
Aber darüber hinaus... nichts brauchbares.
Keine verstimmten Liebhaber, keine Streits, keine beiläufigen Bemerkungen die irgendwelche Hinweise darauf geben könnten was passiert ist... im Gegenteil. Das dieser Umstand der Klatschpresse verborgen blieb kann nur heißen, das er ein paar sehr gute Freunde haben muß.
Die Szene hat ihre eigenen Gesetze.
Bist du jung und knackig, kannst du dir die Leute quasi aussuchen. Je jünger, desto besser. Und manchmal hast du das Glück, ein bis zwei Mäzene zu finden, die dich fördern. Es gibt mehr Schwule in aussichtsreichen Positionen, als man denkt. Aber nicht nur schwule... die traurige Wahrheit ist, das sich auch Männer mit eindeutig phädophilen Neigungen in die Szene 'verirren', denen es vollkommen egal ist ob sie sich Jungs oder Mädels greifen.
Vor diesem Hintergrund glaube ich wirklich, das an der Sache mehr dran ist.
Die Aussicht dafür alte Kontakte zu aktivieren behagt mir garnicht. Es hat seine Gründe, warum ich nicht mehr in einschlägigen Kreisen verkehre. Und mein für die dort herrschenden Verhältnisse fortgeschrittenes Alter ist bestimmt keiner davon.
Michael Sanderson Jr. ... Ob ihn nun seine Mutter weggesperrt hat, ob er vielleicht mit den falschen Leuten zusammengekommen ist, oder ob er wirklich freiwillig abgehauen ist... solange ich von meinem Chef nicht zurückgepfiffen werde bleibe ich an der Sache dran.
Die Türklingel reisst mich aus meinen wirren Gedankenachterbahnfahrten und läßt mich zusammenzucken.
Wer in Teufels Namen...
Barfuß tappse ich durch die dunkle Wohnung.
Wer mich so früh sehen möchte... vielleicht Gabriel?
Aber der ist im Krankenhaus bei Janet, wann immer es seine Zeit zuläßt.
Der Nervensäge geht es immer besser... Antibiotika und Bettruhe sei dank. Sie sagte das sie aus dem Gespräch mit der Sanderson-Hexe... entschuldigung, ich meine natürlich Mrs. Sanderson... ebenfalls nichts brauchbares herausholen konnte, außer das die Stimmung in Mikes Elternhaus wohl nicht die beste ist. Welche Erkenntnis! Aber sie hegt den Verdacht, das Mike wirklich nicht ganz freiwillig verschwunden ist.
Ein Verdacht, den ich noch nicht so ganz teilen möchte.
Wieder driften meine Gedanken ab, lenken mich davon ab das ich dem Mensch dort vor der Tür, egal wer es sein und um was es gehen mag eine Predigt über Nachtruhe und Höflichkeitszeiten halten möchte!
Und als ich die Tür öffne, vergesse ich dieses Vorhaben sowieso.
"Was machst du hier? Wie bist du überhaupt an meine Adresse gekommen?" blaffe ich ihn stattdessen an, nachdem ich ein paar Augenblicke gebraucht habe um zu begreifen, wem dieses Gesicht gehört und warum er ausgerechnet um halb 5 morgens hier, am anderen Ende von New York vor meiner Haustür steht!
"Sorry. Ich hab mir Sorgen gemacht." murmelt er verlegen.
"Darf ich vielleicht reinkommen?"
Ich lasse ihn eintreten, bitte ihn auf dem Sofa Platz zu nehmen. Er schaut sich kurz um... befindet wohl, das ich einen schlechten bis nicht vorhandenen Geschmack besitze, und ich stimme ihm stumm zu.
"Ich hab leider nichts mehr im Haus." sage ich und lehne mich an die Wand, während ich ihn auffordernd ansehe.
"Schon okay..." murmelt er, als wäre es an ihm gnädig über diesen Umstand hinweg zu sehen. Als wäre es das normalste der Welt, zu dieser Unzeit uneingeladen aufzutauchen und dann natürlich Kaffee und Kuchen gereicht zu bekommen!
Ich schnaube leise, und er lächelt verlegen.
"Wie gesagt... ich hab mir Sorgen gemacht." fängt er nocheinmal an und atmet tief durch. "Deiner Partnerin geht es wieder gut?"
"Ja. Wir kriegen für die zwei Wochen die sie noch ausfällt Ersatz, aber sie wird bald wieder auf dem Damm sein."
Er macht sich Sorgen. Zu niedlich, denke ich mit einer ungewohnten Portion Sarkasmus und sehe weg.
"Das freut mich..."
Danach sind wir beide wieder still.
"Ich weiß, es ist bestimmt nicht üblich, einfach so aufzutauchen... aber ich hab von Ms. Cohen deine Adresse bekommen, und ich war gerade joggen, und ich dachte mir... das ich so lange nichts mehr von dir gehört habe, und sowieso gerade in der Nähe war, und... ja. Das ich dann mal gucke ob du vielleicht noch wach bist." setzt er auf einmal gestikulierend an, und ich unterbreche ihn scharf.
"Du hast von Janet meine Adresse bekommen?" frage ich nach, und er nickt leicht.
"Am Abend nachdem ihr im Club wart. Sie meinte wohl uns eventuell verkuppeln zu können." Er muß lachen.
"Aha." kommt es nur über meine Lippen, und ich drehe mich weg.
Schöne Scheiße. Und ich kann Janet nicht einmal dafür in den Hintern treten.
Zumindestens im Moment nicht.
"Ist das ein Problem für dich?"
Ich spüre seinen Blick in meinem Rücken, und ich muß schlucken.
"Das wir gewisse Neigungen teilen? Nein. Das meine Partnerin ungefragt meine Privatadresse herausgibt? Ja. Das du immer noch als Tatverdächtiger in Frage kommst? Auf jeden Fall."
Er verstummt.
"Vielleicht solltest du jetzt gehen." murmele ich.
"Ja." erwiedert er knapp, und ich höre wie das Sofa ächzt als er aufsteht.
"Du solltest ein bisschen was mit deiner Wohnung machen. Meine Silberfische leben gemütlicher als du... ein paar Bilder an der Wand würden schon eine Menge ausmachen." läßt er mich wissen und geht dann zur Tür, bleibt dort noch einmal stehen und sieht wieder zu mir... "Als Tatverdächtiger? Also ist er nicht freiwillig weg?"
"Wir müssen alle Möglichkeiten im Auge behalten."
"Ahja. Okay. Dann... pass auf dich auf."
Die Tür fällt hinter ihm zu.
Und das Gedankenkarussell dreht weiter seine Runden...