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„Oh je!“ dachte Zaide, als Celia ihr nur einen entgeisterten Blick zuwarf, und dann einfach schweigend vor sich hinstarrte. „Das hättest du ihr ruhig etwas schonender beibringen können.“ Aber genau da lag das Problem, sie konnte es eben nicht. Diplomatische Fähigkeiten und besonderes Zartgefühl besaß sie nicht, und sowas lernte man auch nicht im Umgang mit den Toten.
„Celia? Ich ..., es tut mir leid, ich weiß, das ist jetzt nicht leicht für dich, aber ....“ stotterte sie.
“Ich bin also keine Elo-i” warf das Mädchen endlich dazwischen, als Zaide ihren Erklärungsversuch unterbrach. „Ich bin ein Mensch!“
„Nein! Das bist du nicht!“ hielt Zaide sofort dagegen.
„Aber...“
„Hast du denn vergessen, was gerade passiert ist? Und es ginge doch auch gar nicht! Überleg mal, du bist fast zweihundertsechsunddreißig Jahre alt! Kein Mensch würde jemals so alt werden, und dein Leben hat gerade erst begonnen!“
„Du könntest es künstlich verlängert haben so wie bei Semira und Alyssa.“
„Die beiden sind tot, daran kann auch ich nichts ändern.“
„Vielleicht bin ich es ja auch,“ flüsterte sie tonlos „und du lässt mich deshalb nicht hinüber, damit ich es nicht merke.“
„Das ist doch Unsinn, und das weißt du!“
„Aber wenn ich kein Mensch bin, was bin ich dann? Was?“ begehrte Celia auf.
„Du bist etwas ganz Besonderes. Kinder wie du werden selten geboren, jedenfalls in unserer Kaste. Warhhaftig! Du kannst mir glauben, niemand ist mehr eine Elo-i als du.“
„Weiß der Rat von, von meinem Vater?“ Zaide atmete auf. Sie hatte ihn Vater genannt, jetzt war das Schlimmste überstanden.
„Natürlich weiß er davon. Gleich nach deiner Geburt haben sie dich überprüft, um zu entscheiden, wo du hingehörst. Diese Entscheidung ist heute bestätigt worden. Du hast all unsere Hoffnungen und Wünsche übertroffen!“
Eine zarte Röte überzog Celias Wangen und endlich kehrte das Lächeln auch auf ihre Lippen zurück. „Wie war mein Vater denn so?“ fragte Celia, nachdem sie sich gefangen hatte.
„Er war der Sohn eines englischen Aristorkraten und ein wunderbarer Mann. Groß, blond mit graublauen Augen, freundlich und liebenswert, mit einem großen gütigen Herzen und einem eisernen Willen.“
„Das klingt nicht danach, als müsste man sich seiner schämen.“
„Aber nein!“
„Warum hast du ihn dann all die Jahre derart totgeschwiegen?“
„Weil ich dir die Unsicherheit ersparen wollte. Du solltest wissen, wer du bist, und wohin du gehörst, und du solltest nicht von Zweifeln geplagt werden. Jetzt bist du alt genug und kannst damit umgehen.“ Sie nickte.
„Wusste er von mir, ich meine, bevor er ....“
„Ja, er wusste, dass du unterwegs bist. Und er hat sich sehr auf dich gefreut. Der Anhänger, den du trägst, stammt von ihm. Er gehörte einmal seiner Mutter und sollte nach ihrem Tod an seine Kinder gehen.“
Celia strich gedankenverloren über die Steine des Anhängers. Eine merkwürdige Kraft schien von ihnen auszugehen.
„Das sind die Energien, die bei dem Ritual durch sie hindurchgeflossen und nun zum Teil darin gespeichert sind.“ erklärte Zaide ungefragt. „Trage ihn stets, und wir alle sind immer bei dir. Ebenso wie dein Vater.“
„Warum ist er so früh gestorben?“ Die Frage kam plötzlich, und aufgrund ihres Wissensdurstes nicht unerwartet. Und sie würde weitere, unangenehmere Fragen nach sich ziehen, das spürte Zaide sofort.
„Es war eine furchtbare Epidemie. Auch deine Großeltern waren ihr bereits zum Opfer gefallen. Die Cholera, mein Kind, ist eine schreckliche Krankheit der Menschen, für die es damals kaum eine Chance zur Genesung gab. Aber dein Vater hat gekämpft, er wollte nicht aufgeben, deinetwegen.“
„Aber... hätte Daria ihn nicht retten können? Ich meine, sie, sie ist eine Heilerin, die größte überhaupt, und wenn du sie gebeten hättest, dann ....“ Sie brach ab, als sie Zaide traurig den Kopf schütteln sah.
„Unsere Gesetze sind eindeutig. Wir lenken und leiten die Geschicke der Welt, doch wir greifen nicht in das Schicksal einzelner Menschen ein. Denn was wir dem einen gewähren, könnten wir den anderen nicht verweigern. Und das würde geradewegs ins Chaos führen.“ Zaide verschwieg geflissentlich, dass sie Daria sehr wohl angefleht hatte, Adrians Leben zu retten, für das Kind, diese aber auf Befehl der neuen Herrscherin abgelehnt hatte.
„Also hier hast du unsere neue Elo-i versteckt!“ sagte Reshanne, die gemeinsam mit Daria ganz plötzlich vor ihnen aufgetaucht war.
Zaide blickte auf und presste die Lippen zusammen.
„Ich nehme an, du bist jetzt sehr stolz, Schwester?“ fragte sie, wobei sie das letzte Wort eigenartig betonte. „Nun hast du ja endlich das Ziel deiner Wünsche erreicht, nicht wahr?“
Celia musterte erstaunt erst Zaides zu einer eisigen Maske erstarrte Gesicht, dann das an Verbitterung erinnernde Lächeln der Herrscherin. Dass sie sich mit ihrer Schwester nicht so gut verstand, war ihr schon sehr früh klar geworden, und Zaides Vertraute Alyssa hatte ihr sogar einmal geraten, lieber keine Fragen über die Herrscherin zu stellen. Aber sie waren Schwestern, und das hier grenzte an offene Feindschaft, etwas, dass es in dieser Welt kaum gab. Und, wie ihr hier auf dieser Bank plötzlich klar wurde, diese Feindschaft hatte etwas mit ihr zu tun.
Zaide erhob sich. „Gebieterin, Ihr wollt mit Celia sprechen. Ich lasse Euch allein!“ Sie gab der Schwester keine Gelegenheit, sie zurückzuhalten, sondern ging, ohne sich noch einmal nach dem Mädchen umzusehen, davon.
„Und? Wie fühlst du dich, mein Kind?“ fragte Reshanne, als wäre nichts geschehen. Dabei konnte man Zaides Verhalten gar nicht anders bezeichnen als eine ausgesprochene Beleidigung ihrer Person. Aber weder Reshanne selbst noch Daria verzogen eine Miene.
„Danke, Gebieterin, ich fühle mich sehr gut.“ erwiderte Celia unsicher.
„Ich bin gekommen, weil ich mit dir über deine weitere Ausbildung sprechen möchte.“
„Welche Ausbildung, Gebieterin? Ich dachte, die sei mit der Initiation beendet!“
Reshanne lachte amüsiert auf. Und selbst die streng drein blickende Daria konnte ein sachtes Grinsen nicht unterdrücken.
„Ganz im Gegenteil, mein Kind. Jetzt fängt sie erst richtig an. Es gibt noch viele Dinge, die du lernen kannst. Und ich halte es für eine gute Idee, wenn du eine Zeitlang bei Daria in die Lehre gehst.“
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„Verzeiht, Gebieterin, aber ich dachte, ich würde eine Aufgabe im Tempel der Ewigkeit bekommen. Das ist doch so Brauch, oder nicht?“
„So ist es, aber wie du inzwischen vielleicht erfahren hast, bist du nicht ganz wie die anderen Elo-i.“
„Ja, ich weiß, mein Vater.“ Traurig senkte sie den Kopf. „Aber ich werde bestimmt alles tun, damit Ihr dennoch zufrieden mit mir seid.“
Reshanne wehrte ihren Eifer in aller Güte ab. „Aber Kindchen, niemand macht dir deinen Vater zum Vorwurf. Was dich so besonders macht, ist doch gerade die Tatsache, dass du einen menschlichen Vater hast und dennoch Fähigkeiten besitzt, die einem normal geborenen Elo-i nicht nur ebenbürtig, sondern sogar überlegen sind. Sie gehen weit über das hinaus, was du für den Seelentempel benötigst. Darum sollst du lernen. Und wer weiß, eines Tages wirst auch du vielleicht einmal ein Mitglied dieses Rates sein.“
Celia strahlte. Ein größeres Kompliment hätte die Herrscherin ihr gar nicht machen können. Dennoch tief in ihrem Innern keimte in ihr der Verdacht, Reshanne wolle sie auf diese Weise von Zaide trennen.
Und dann auf einmal begann sich alles in ihrem Kopf zu drehen, Reshanne, Daria, der Ratstempel verschwanden in tiefschwarzer, eisiger Dunkelheit, aus der sie plötzlich eine Gestalt auftauchen sah.
Sie stand mit dem Rücken zu ihr. Aber sie fühlte instinktiv, dass dieses Wesen von ihrer Anwesenheit wusste, ja, sie womöglich selbst hierher gebracht hatte, auch wenn sie nicht wusste, wo „Hier“ überhaupt war.
„Hüte dich!“ hallte auf einmal eine Stimme durch den Raum. „Hüte dich vor Reshanne! Sie ist dein Feind, sie will dich zerstören!“
Sie konnte keinerlei Fragen mehr stellen wegen dieser ungeheuren Behauptung, ein kräftiger Sog hatte bereits wieder ihren Körper erfasst und schleuderte sie hinaus in die Weiten des Universums ......
.... zurück in ihr Bett.
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