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Ich hatte die Schritte hinter mir nicht gehört. Umso mehr schreckte mich die leichte, fast sanfte Berührung an meiner Schulter und die schnarrende Stimme, die so gar nicht zu dieser Berührung zu passen schien. „Junges Fräulein!“ Es folgte ein Räuspern und, ohne auf meine Reaktion zu warten, sprach der Direktor in tieferer, ruhiger Stimme fort. „Wir hier auf St. Elias haben bestimmte Regeln. Regeln, die allen Schülerinnen beim Eintritt bekannt gemacht werden und die wir auch beständig wiederholen. Dennoch ist es mir zu Wort gekommen, dass du dich nicht an einige unserer simpelsten Regeln hältst, wie die Verordnungen zu Frisur und Körperpflege.“ Er lies eine wirkungsvolle Pause verstreichen, in der ich kaum wagte, Luft zu holen. Mir schoss sofort, worauf er hinaus wollte. Die Haarfarbe! Wer hatte – „Auf St. Elias haben wir eigene Methoden, um mit Regelbrechern umzugehen und deine Eltern haben uns ihre vollständige Zustimmung zu diesen Methoden gegeben.“ Die betont sachliche Tonlage schaffte es nicht, seine innere Genugtuung darüber zu verbergen. Mein Herz sank mir in die Hose. Die Andeutungen des Direktors ließen Schreckliches vermuten.
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Ich wurde aufgefordert, ihm in den Waschraum zu folgen, wo unsere Sportlehrerin wartete und man mich aufforderte, auf den vorher bereit gestellten Stuhl Platz zu nehmen. Völlig in der Öffentlichkeit. Es hätte jederzeit eines der anderen Mädchen herein kommen können. Aber es kam keine. Zu den Studierzeiten waren wir alle angehalten, in unseren Zimmern zu bleiben. Dennoch rötete allein der Gedanke an Beobachterinnen meine Wangen. Es war Frau Reisch, die die Strafe ausführte. Natürlich war es eine Frau. Es war schon immer die Aufgabe von Frauen gewesen, die Ausführung von männlicher Dominanz zu übernehmen. Auf diese Weise entzogen sich Männer der Verantwortung. Ich dachte an Mary Daly. Dann dachte ich an gar nichts mehr. Nur das blanke Entsetzen packte mich, als ich bemerkte, wie die Strafe ausfallen würde.
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Schon bevor ich meinen Schädel berührte, wusste ich, was ich fühlen würde: Nichts. Blanke Kopfhaut. Meine Haare, meine wunderschönen, dunkelbraunen, vollen Haare waren verschwunden und nicht einmal Stoppeln waren noch zu spüren. Ich konnte, wollte es nicht wahrhaben. „Bitte, lieber Gott, mach, dass das ein Traum ist“, betete ich. Dann fiel mir ein, dass Gott mir noch nie geholfen hatte. Tränen schossen aus meinen Augen und hinterließen warme Spuren in meinem Gesicht. Das durfte nicht wahr sein. Das durfte einfach nicht wahr sein.
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Sie hielt einen Spiegel vor mein Gesicht. Nun war es Gewissheit. Meine Haare waren einer Glatze gewichen. Ich sah furchtbar aus. Frau Reisch lächelte mich an, ein bösartiges, triumphierendes Lächeln. Ihre Stimme klang hart, als sie sagte „Ich hoffe, du hast nun deine Lektion gelernt – und ich hoffe, du bist selbst so klug, deine Augenbrauen nicht mehr nachzufärben. Andernfalls werde ich sie dir auch noch rasieren müssen. Jetzt wirst du eine heiße Dusche nehmen und die letzten Reste Make-up aus deinem Gesicht waschen. Zum Abendessen will ich dich ordentlich und anständig sehen, wie es sich für ein Mädchen in deinem Alter gehört.“
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Ich schrubbte über meinen Hinterkopf, wieder und wieder, als könnten die Haare dadurch nachwachsen. Aber das taten sie natürlich nicht. Mein Haupt blieb so blank, wie ich es zuvor im Spiegel gesehen hatte. Bei all den Geschichten, die von den strengen Strafen im Internat kursierten, hatte ich nie erwartet, dass sie so weit gehen würden – und dass es mich erwischen würde. Ab heute würde eine neue Geschichte kursieren. Spätestens, wenn die anderen mich beim Abendessen sahen. Ich war froh, dass Anabell mich so nicht mehr zu Gesicht bekommen würde. Sie wurde in einen anderen Trakt des Internats verlegt, nach dem Zwischenfall mit der Bierkiste.
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Ich saß noch ewig auf dem kalten Fliesenboden. Die Wärme der Dusche war längst verschwunden und mir war kalt. Ich war am absoluten Tiefpunkt meines Lebens angekommen. Eigentlich gab es nichts, das mich noch hielt. In meiner Familie gab es keine Liebe und hier schon gar nicht. Meine Freunde, wenn man sie so nennen konnte, hatten mich wahrscheinlich längst vergessen, sollte ich sie jemals wieder sehen. Und jetzt hatte man mir auch noch meine Haare, meine Schönheit genommen. Es war ein absolutes Desaster und die Zukunft sah düster aus. Welche Chancen hatte ich, nachdem ich diese Schule beendet hatte? Meine Bildung war mies. Vermutlich wäre die einzige Möglichkeit, jemals der zurückgebliebenen Weltanschauung in dieser Provinz zu entkommen, einen reichen Mann zu finden und zu heiraten. Mir fröstelte. Ich hätte es auch beenden können. In diesen Moment. Ich hätte meinen Gürtel um die Duschstange wickeln können und… Erschrocken von meinen eigenen Gedanken stand ich auf. Es war bald Zeit zum Abendessen, ich musste mich anziehen.
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Erneut blickte ich in den Spiegel. Es hatte keinen Sinn, irgendetwas zu beschönigen. Mein gutes Aussehen war dahin. Jetzt war ich nichts weiter als eine lächerliche Gestalt, die in jedem Aspekt ihres Lebens versagt hatte. Erneut fuhr ich über die glatte Haut, die sich so ungewohnt anfühlte. Keine Haarsträhnen, die ich aus dem Gesicht streichen konnte. Keine glänzenden Locken, die sich über meine Schultern legten und das Sonnenlicht reflektierten. Nichts.
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Die Person, die durch die Tür trat, war die letzte, die ich in diesem Moment sehen wollte. Anna. Kaum sah sie mich an, fing sie auch schon an zu kichern. „Du meine Güte, was ist denn mit dir passiert?“. Hilflos zuckte ich mit den Schultern. Als wäre das nicht offensichtlich. „Da hast du nun wohl die Strafe für dein Verhalten bekommen, nicht wahr? Ich wusste schon längst, dass du irgendetwas im Schilde führst. Die Sache mit der Bierkiste war sicher nicht die Schuld von Anabell allein. Und auch sonst… Irgendetwas stimmt mit dir nicht.“ Wie eine Katze schlich sie um mich herum, umkreiste mich und blieb dann hinter mir stehen, um mir etwas ins Ohr zu hauchen. „So ein hübsches Mädchen. So schöne, dichte Locken. Der Traum der Männerwelt. Ich wette, du konntest jeden haben – oder jede, nicht wahr, mein Schätzchen?“.
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Sie kam immer näher. Ich wich zurück. „Nur leider ist es damit jetzt vorbei, stimmt’s? So ein hübsches Mädchen.“ Sie seufzte affektiert. „So ein hübsches Mädchen und plötzlich so hässlich. Das muss weh tun.“ Sie kicherte erneut. „Tja, das war’s dann wohl für dich. Wir werden ja sehen, wie weit du ohne deine Schönheit noch kommst. Keine Privilegien mehr für die hübsche Ruth, nein, nein.“ An dieser Stelle hielt sie sich den Bauch vor lachen. Ich erwiderte nichts. Als hätte ich jemals etwas geschenkt bekommen. Anna’s eigene Augen waren mit Kajal umrandet und ihre Wimpern klebten vor Tusche bald zusammen. Aber das schien keinen zu stören. Sie hatte sich ihren Platz als Liebling der Lehrer erworben.
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„Ruth, ich hätte dich fast nicht erkannt!“. Diese einfachen Worte, mit denen Jane mir überschwenglich um den Hals fiel, lösten einen ganzen Tränenschwall in mir aus. Ich hatte meine Haare mit einem Tuch bedeckt, wie ich es meistens tat, seit meine Naturhaare nachwuchsen. Die meisten Lehrer hatten zum Glück nichts dagegen. Nur beim Turnen musste ich das Tuch jedes Mal ablegen. Natürlich. Ich könnte mich bei einer schnellen Bewegung damit strangulieren. Vor allem aber, weil Frau Reisch meine Turnlehrerin war.
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„Ruth, was ist los?“, fragte sie mich, unbeholfen, wie Jane immer in sozialen Dingen war. Schamvoll wich ich zurück. „Meine Haare…“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und brachte unter dem Wimmern kaum einen Satz hervor. „Sie, sie haben mir…Kopf abrasiert…heraus gefunden, dass ich meine…meine Haare färbe.“ Ich war mir nicht sicher, ob Jane unter dem Gestammel irgendetwas verstanden hatte. Sie sah mich unsicher an. „Zeig doch einmal“, brachte sie schließlich hervor.
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Ich trocknete meine Tränen und lies das Tuch zu Boden sinken. „Das sieht doch gar nicht so schlimm aus“, meinte Jane aufmunternd. Ich betrachtete sie von der Seite. Jetzt war sie die hübschere Schwester, kein Zweifel. Ihre Haare waren lang und glatt. Auch, wenn sie den hässlichen Rotton hatten, den ich an mir selbst nie gemocht hatte, war sie wesentlich besser dran als ich. „Na, das ist doch gar nicht so schlimm. Lass sie noch ein paar Zentimeter wachsen, dann kannst du dir einen hübschen Undercut schneiden lassen.“ Ich sah sie entmutigt an. Das war mal wieder eine typische Jane-Aussage, die die Realität, nämlich, dass ich in einem spießigen Internat festsaß und mir garantiert keine Punkfrisur schneiden lassen konnte, völlig außer Acht ließ. „Weißt du was?“, grinste sie verschwörerisch. „Ich mache mit. Wenn ich dich vor den Sommerferien hier abhole, nehme ich eine befreundete Frisörin mit und wir lassen uns beide eine moderne Kurzhaarfrisur schneiden. Na, wie ist das?“ – „Unsere Eltern…“ – „Sind mir egal. Ich habe letzte Woche die Aufnahmebestätigung für die Uni bekommen – inklusive Stipendium.“ Sie grinste triumphierend. Deshalb war sie so rebellisch. Jane würde mich also auch verlassen.
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In aller Ruhe breitete die dunkelhaarige Frau, die mir als Lotte vorgestellt worden war, ihre Sachen auf dem Teppichboden aus. Teure Kosmetikartikel, von denen ich selbst nur träumen konnte, kamen zum Vorschein. Auch ihre Handtasche, die sie bedachtsam daneben stellte, hatte vermutlich mehr gekostet, als meine komplette Zimmereinrichtung. Ich fragte mich, wie Jane die Erlaubnis bekommen hatte, sie hier her zu bringen. Vielleicht hatte sie auch einfach nicht gefragt und niemand hatte sie aufgehalten. Es schien, als habe ein neuer Geist meine Schwester erfasst, so übermütig, wie sie in letzter Zeit war. Ich wäre vermutlich auch übermütig, wenn ich wüsste, dass ich all das hier einfach verlassen könnte.
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Zum Schluss warf Lotte ein Tuch über meinen Schreibtischsessel, der uns als Frisierstuhl dienen sollte. „Wer will als Erste?“, fragte sie gut gelaunt. „Ruth, du zuerst!“, kicherte Jane. Mit mulmigem Gefühl setzte ich mich auf den Stuhl. Ich hoffte, dass die Frau etwas von ihrem Handwerk verstand. Andererseits, wie viel schlimmer konnte es kommen? Sie begann, an meinen Haaren herum zu fuchteln. Beim Geräusch der Schere zuckte ich zusammen, zu lebhaft waren meine Erinnerungen an das letzte Mal, das ich es gehört hatte. Aber dann war es vorbei. „Fertig!“, verkündete Lotte und zog einen Spiegel heraus. Neugierig warf ich einen Blick hinein. „Zufrieden?“, fragte sie und alles, was ich zustande brachte, war ein lautloses Nicken, so begeistert war ich von meiner neuen Frisur.
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Kurze Zeit später war auch Jane fertig. Ich hatte bis zum Schluss daran gezweifelt, dass sie es tatsächlich tun würde. Jetzt hatten wir dieselbe Frisur. „Danke, Lotte! Ich weiß gar nicht, wie sehr ich dir danken soll!“ Beinahe wäre ich der fremden Frau um den Hals gefallen. Jane dagegen verabschiedete sich mit einem Handschlag von ihr und drückte ihr ein paar Geldscheine in die Hand. Als ich verlegen hinsah, sagte sie nur „Keine Sorge, Ruth, ich übernehme das. Immerhin weiß ich ja, dass du hier keine besonderen Reichtümer anhäufen kannst.“
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Zufrieden sah ich aus dem Fenster und betrachtete den Sonnenaufgang von der Scheune aus. Wer hätte gedacht, dass ich einmal so glücklich sein würde, hier zu sein? In einer knappen Stunde war ich mit Betty verabredet. Nicht hier, natürlich, sondern bei ihr zu Hause. Ihre Eltern waren nicht da. Genüsslich zog ich an der Zigarette. Ein Hauch von Freiheit. Ich schloss die Augen. Vor ein paar Monaten war ich kurz davor gewesen, mein Leben zu beenden und jetzt schien alles aufwärts zu gehen.
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Dann kühlte meine Stimmung ab. Wie viel weiter war ich seither gekommen? Nach dem Ende der Ferien würde ich zurück an das Internat gehen – und Jane würde an die Uni gehen. Womöglich würden sie mir den Kopf erneut rasieren, wenn ich mit dieser Frisur aufkreuzen würde. Aber selbst wenn, was machte es für einen Unterschied? Die Aussicht, aus diesem Leben zu entkommen, war düster. Nach der Schule würde ich einen mittelmäßigen Job annehmen und hier bleiben. Vielleicht würde ich mit Betty oder einem anderen Mädchen eine Beziehung führen, aber wir würden ständig unter Beobachtung stehen. Die Leute hier würden es niemals akzeptieren. Verbittert drückte ich die Zigarette aus. Immerhin war ich verabredet.
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Ich hatte die Flammen schon aus einiger Entfernung gesehen, aber war bis zum Schluss der Überzeugung gewesen, dass es nicht unser Haus war, das hier brannte. Oh Gott! Ehrfürchtig sah ich hinauf auf die Flammen und stand wie versteinert da. Es dauerte ein wenig, bis ich mich aus meiner Starre löste. Meine Familie! Ich musste etwas tun. „Jane?“, rief ich, „Mutter? Vater?!“ Keine Antwort. Die Eingangstür war unter dem Meer an Flammen kaum noch zu sehen. Ich musste irgendwie Hilfe holen. Die Feuerwehr rufen. Aber…wie? Mein normales Urteilsvermögen schien völlig außer Kraft gesetzt.
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Die Telefonzelle! Natürlich. So schnell ich konnte, rannte ich die Straße entlang. Ich nahm den Hörer ab und drückte den Notrufmelder nach links, bis ich einen glockenartigen Ton hörte. Einen Moment später hörte ich bereits die Stimme am anderen Ende der Leitung. „Ja. Hallo. Es…es brennt“, brachte ich nur heraus. Der Mann am anderen Ende redete mit ruhigen Worten auf mich ein. Er schien den Ort der Telefonzelle bereits zu kennen und fragte mich nur nach der genauen Lage unseres Hauses. „Es ist…einfach geradeaus…man…sieht es von hier“, brachte ich mit zittriger Stimme hervor. Ich versuchte, auf seine Fragen zum Brandhergang und zum Ausmaß des Feuers zu antworten, aber alles, was ich heraus brachte, war „Schlimm. So schlimm.“ Er wies mich an, dorthin zurück zu gehen und auf das Eintreffen der Einsatzkräfte zu warten. „Wir beeilen uns“, versprach er.
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„Ruth“. Die Stimme, die ich zurück vor unserem Haus hörte, war nicht die, die ich zu hören gehofft hatte. „Ruth, du lebst noch!“. Sie stürzte auf mich zu, und ohne auf meinen Widerstand einzugehen, umarmte sie mich. Missmutig schüttelte ich sie ab, doch sie schien viel zu aufgeregt zu sein, um sich davon stören zu lassen. „Sie sind alle tot. Alle tot! Ich hatte so Angst, dass du auch tot bist!“ Ich wich zurück. Stimmte das? War meine Familie tot? In meiner Brust breitete sich ein merkwürdiges Gefühl der Enge aus, wie ich es noch nie erlebt hatte. Mutter – tot? Vater – tot? Jane…Jane tot? Auch Jane? Ich schluckte.
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Ein Blick auf den Dachstuhl zeigte mir, dass es nicht unrealistisch war, was sie sagte. Das Gefühl in meiner Brust wurde noch stärker. Meine Familie tot? Der Gedanke schien mir schlicht unwirklich. So sehr ich meine Eltern gehasst hatte, sie waren immer da gewesen und auch fast immer bester Gesundheit. Der Gedanke, dass es einmal nicht so sein könnte, war mir nie gekommen. Und Jane! Jane, verdammt! Meine Schwester! Ich dachte, dass ich weinen sollte, aber es kamen keine Tränen heraus.
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„Du weißt, was du jetzt tun solltest, nicht wahr?“, fragte sie mich. Verwirrt schüttelte ich den Kopf. „Du musst Jane werden.“ Entsetzt sah ich sie an. „Ich muss…wie bitte?!“. Alles in meinem Kopf drehte sich. Was wollte sie mir damit überhaupt sagen? „Eine große Lüge. Aber so eine einfache. Niemand wird den Unterschied merken. Du warst den Großteil des letzten Jahres im Internat. Die Menschen hier erinnern sich an dich als lebensfrohes Mädchen mit langen, braunen Haaren. Und nach dem Begräbnis wirst du an eine Uni gehen. Dort weiß erst recht niemand, wie Jane ausgesehen hat. Du wirst nie hierher zurück kehren. Wer weiß, vielleicht waren deine Eltern versichert. Dann hättest du einen Batzen Geld dazu. Schlimmstenfalls verkaufst du das Grundstück.“ Angewidert schüttelte ich den Kopf. Wie konnte sie nur an so einer Situation an so etwas denken? Die Identität meiner Schwester zu stehlen, kam mir abscheulich vor.
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„Denk darüber nach. Was willst du machen? Hier bleiben? Das Haus wieder aufbauen? Gar zurück ins Internat? Willst du bei irgendwelchen Verwandten unter kommen, die du zweimal im Leben gesehen hast?“ Ich schüttelte den Kopf, noch immer verstört von ihrem Vorschlag. So furchtbar es war, ich konnte nichts darauf erwidern. Ich wusste tatsächlich nicht, wo ich hin sollte. Was ich mit meinem Leben machen würde. „Betty…“, brachte ich als kläglichen Einwand hervor, „sie weiß, dass ich…“. „Sie weiß gar nichts. Du könntest genauso nach deiner Rückkehr gestorben sein. Wer kann das hinterher schon so gut sagen? Du wirst ihr eine Nachricht schreiben, dass du von ihr und Ruth wusstest und nicht möchtest, dass sie zum Begräbnis kommt. Als Jane. Wenn sie klug ist, hält sie sich daran. Wenn nicht, wird sie sich einreden, dass sie sich nur einbildet, dass du wie sie aussiehst. Immerhin seid ihr Schwestern.“ Ich schluchzte. Grinsend tätschelte sie mir die Schulter. „Keine Sorge. Es wird alles gut werden, Jane.“
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Beide schraken wir vom Klang des heraneilenden Feuerwehrwagens auf. Wir tauschten einen letzten Blick aus, einen Blick der Verbundenheit. Wir hatten nur noch uns. „Jaaaaaaaaaneeeeeeeeeee“, flüsterte sie, kaum hörbar, wie ein Windhauch. Dann rannte sie los, um sich zu verstecken. Jane. Der Name fühlte sich fremd an, obwohl ich ihn so oft ausgesprochen hatte. Jane. Jane. In Gedanken sagte ich ihn vor mich hin. Jane. Jaaaaaneeee.
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Als die Feuerwehr ankam, schien alles ganz routiniert abzulaufen. Jeder wusste, was er zu tun hatte. Schläuche wurden abgerollt, Wasser hinein gepumpt. Einer der Männer kam auf mich zu, um mir ein paar Fragen zu stellen. „Haben Sie den Notruf betätigt?“ – „Ja“, antwortete ich, nun etwas gefasster. „Ist noch jemand im Haus?“ – „Meine Schwester und…und meine Eltern“, brachte ich heraus. Sofort nickte er einigen Männern zu, die sich heldenmutig in die Flammen stürzten. Als nächstes wollte er meine Personalien aufnehmen. Mein Herz krampfte zusammen. Jetzt oder nie. „Jane“, sagte ich, „Jane Ebermeier“. Kaum, dass ich es gesagt hatte, war ich überrascht, wie leicht es mir gefallen war. Ein Blick auf den Feuerwehrmann zeigte mir, dass nichts an meiner Reaktion ihm sonderbar vorkam. Ich musste es einfach verinnerlichen. So lange verinnerlichen, bis ich selbst daran glaubte. So lange, bis ich zu Jane wurde.
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„Es tut mir furchtbar leid“, sagte der Mann, den ich vorher dabei beobachtet hatte, wie er das brennende Haus betreten hatte, „Wir konnten nichts mehr tun.“ Die Situation schien ihm sichtlich unangenehm zu sein. „Das ist jetzt bestimmt sehr schwer für Sie, aber wir müssen Sie bitten, einige…Personen zu identifizieren.“ Zaghaft sah er mich an. Ich nickte. Jetzt war es also Gewissheit. Sie waren alle tot. Das Haus, indem ich den Großteil meines Lebens verbracht hatte, war abgebrannt und die Menschen, die darin gewohnt hatten, existierten nicht mehr. Mein Leben war komplett aus den Fugen geraten.
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(unzensiert) </br></br>
Als das Tuch zurück gezogen wurde, flossen schließlich endlich die Tränen, auf die ich so lange gewartet hatte. Jane. Meine Schwester. Da lag sie. Die Haut völlig verkohlt. Von den roten Haaren kaum mehr etwas zu sehen. Ich dachte an ihre Zukunft. Sie hatte sich so sehr auf die Uni gefreut. Gerade, als sie dem restriktiven Leben hier entkommen wollte, wurde es so jäh beendet. Gerade, als ihr Leben begann, besser zu werden. Als sie rebellischer wurde. Die Tränen stürzten nur so die Wangen herab. „Ich werde dein Leben für dich weiter leben“, versprach ich ihr in Gedanken, „Es war nicht umsonst, Jane. Es war nicht umsonst. Irgendwann wird am anderen Ende der Welt eine Jane begraben werden, die glücklicher war, als diese hier. Eine, die großes geschaffen hat. So, wie du es vorhattest. Ich verspreche dir, ich mache etwas aus deinem Leben.“ - „Das ist meine Schwester. Ruth“, sagte ich schließlich laut.
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„Das ist nicht wahr!“. Durch meinen plötzlichen Wutausbruch gelingt es mir, sie von mir wegzudrücken. „Du verdammte Lügnerin!“. Sofort wirft sie sich wieder auf mich, diesmal mit weniger Kraft, aber mit einem umso deutlicheren Grinsen in ihrem Gesicht. „Das ist die reine Wahrheit. Das sind deine eigenen Erinnerungen, Ruth. Oh, wie schade, dass es jetzt heraus kommt, nicht wahr? Du hast deine Rolle all die Jahre so gut gespielt. Warst selbst ganz überzeugt davon. Hast mich vergessen, mich, die dir all die Jahre beigestanden ist. Aber jetzt ist es vorbei.“ Keuchend halte ich inne. Mein Körper schmerzt, aber ich gewinne wieder die Überhand. „Was ist mit dem Sturm, den Ruth herauf beschworen hat? Wie könnte ich davon wissen? Als Ruth hätte ich diese Erinnerung doch ganz anders im Kopf gehabt.“ Sie bekommt einen Lachanfall, der völlig deplatziert ist. „Du redest von deinem Drogentrip? Oh, den hat Jane ganz sicher ganz anders erlebt. Ganz anders, wie du ihn in deiner Erinnerung gesehen hast. Aber wir können sie nicht mehr fragen, nicht wahr? Denn Jane ist tot.“ Dann sieht sie mir plötzlich in die Augen, ernst, mit einem stechenden Blick. „Hast du dich nie gewundert, dass es unter all deinen Träumen nicht einen gab, in dem Ruth nicht vorgekommen ist?“
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Die Unterhaltung klang noch in meinem Kopf nach. „Ruth? Ich habe gehört, dass man sich an dich wenden könnte, wenn man…Hilfe bei einem sensiblen Thema braucht.“- „Worum geht es?“ Sie hatte mir als Antwort nur ein paar Dosen mit Tabletten in die Hand gedrückt. „Pass einfach darauf auf, okay? Die sind von meinem Bruder und er muss eine Zeit lang…untertauchen. Man sagt, du kennst Verstecke hier in der Schule und Geheimwege…also, ich komme dann wieder, wenn ich sie brauche. Aber – nimm bloß keine davon, verstanden?“ – „Was ist da drin?“. Ein Zögern, ein bestimmender Blick. „Also gut…Es sind Partydrogen, okay? Die nehmen jetzt alle. Kommen ganz groß raus in Europa. E’s, hat mein Bruder gesagt. Also…pass darauf auf, okay?“ Dann war sie verschwunden. Hatte mir nicht einmal ihren Namen gesagt. Natürlich musste ich eine probieren. Die ersten 20 Minuten war nichts passiert und ich hatte mich schon gefragt, ob sie mich verarscht hatte. Aber dann war ein nie da gewesenes Glücksgefühl durch meinen ganzen Körper geflossen. Ich war eins mit dem Universum. Als ich das Geräusch an der Tür hörte, erinnerte ich mich daran, dass Jane heute kommen wollte. Schnell ließ ich die Dosen verschwinden.
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„Heeeey“, sagte ich betont langezogen. Dann setzte ich mich gemächlich an meinen Schreibtisch und machte es mir bequem. Alles war schön. Meine Schwester war hier und mein Herz schien überzuquellen voller Freude zu ihr. „Es ist schön hier“, seufzte ich. „Ja, wirklich, es gefällt mir hier. Alle sind nett zu mir.“ Nachdem ich meine eigenen Worte ausgesprochen hatte, wurden sie mir erst so richtig bewusst. Ja, alle waren nett zu mir. Wir steckten alle zusammen unter einer Decke. Und Jane war jetzt auch hier. Plötzlich sah ich aus dem Augenwinkel, wie mein Kleiderständer anfing, sich zu bewegen. „Ruth?“, hörte ich. Er wackelte immer mehr. Spürte…spürte sie das auch? Auf jeden Fall sah sie mich ängstlich an. Nun begannen auch noch andere Gegenstände, sich zu bewegen. Was ging hier vor sich?
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Als auch noch mein Stuhl anfing, sich zu bewegen, sprang ich hektisch auf. Ich hastete zur gegenüberliegenden Wand und hielt mich daran fest. „Ich werde hier verrückt“, brachte ich hervor. Einen Augenblick später öffnete sich die Decke und ein Stück des Himmels war zu sehen. Ich traute meinen Augen nicht. Grelle Blitze durchzuckten das Zimmer, schlugen jedoch nirgends ein. Dann begannen die Gegenstände, sich in die Luft zu erheben und in wilden Bahnen quer durch den Raum zu schweben, manche schneller, manche langsamer. „Ruth!“, hörte ich meine Schwester von irgendwo her schreien. Ich starrte sie an. Sie reagierte sofort und zerrte mich in eine Ecke des Zimmers, wo wir warteten, bis der Sturm vorbei war.
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Sie legte mir die Hand auf den Rücken, was mich ein wenig beruhigte. Dann saßen wir da, hilflos den Gewalten ausgeliefert. Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Als ich sie wieder öffnete, war alles vorbei. Die Gegenstände standen wieder auf ihrem Platz, als wäre nichts gewesen. War das...war das ein Drogenrausch? „Hast du das eben auch gesehen?“, fragte ich Jane. „Was?“, meinte sie und in ihrem Blick erkannte ich, dass sie sich Sorgen um mich machte. „Diesen…diesen Sturm“, antwortete ich. „Sturm?“, in ihrem aufgesetzten Lachen konnte sie kaum verbergen, dass sie mich tatsächlich langsam für verrückt hielt. „Aber schau doch mal raus, die Sonne scheint.“ Sie klopfte mir auf die Schulter. „Mach dir keine Sorgen, Ruth. Es ist alles in Ordnung“
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Sie versetzt mir einen Kinnhaken, als ich erneut „Das ist nicht wahr!“, schreie. Mein Kiefer brennt, aber was noch mehr schmerzt, ist die Wahrheit. Ich weiß, dass es stimmt, was sie sagt. Mein Leben, alles, was ich mir so sorgfältig aufgebaut habe, ist eine Lüge. Eine verdammte Lüge. Das Schlimmste daran ist, dass ich sie selbst geglaubt habe. Nachdem ich an die neue Uni gekommen bin, habe ich mich so mit meiner Identität als Jane angefreundet, dass ich sie niemals in Frage gestellt habe. Ich habe von einer Vergangenheit erzählt, die nicht meine war, ja, im Grunde eine, in der ich stets nur ein Beobachter war. Frustriert gebe ich ihr einen kräftigen Schlag in die Magengrube.
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Das hat gewirkt. Sie krümmt sich zusammen, bleibt auf dem Boden sitzen. Endlich. Das ist meine Chance. Die Schmerzen in meinem Rücken sind kaum auszuhalten. Ich beiße die Zähne zusammen und schleppe mich an ihr vorbei. Schon nach zwei Schritten breche ich zusammen. Nein! Ich muss es schaffen! Ich krieche auf den Knien weiter. Jedes Mal, wenn ich ein Bein vor das andere setze, spüre ich ein Stechen in meinem Kreuz. Zischend ziehe ich die Luft ein. Ich bin gleich da. Ich bin gleich bei dir, Stacy. Was auch immer in der Vergangenheit passiert ist, als Erstes muss ich mich um meine Verlobte kümmern. Dann…ich schiebe den Gedanken beiseite. Ob ich weiterhin mit einer Lüge leben kann, entscheide ich später. Als ich beinahe bei ihr bin, schießt eine letzte Erinnerung in meinen Kopf.
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Verschlafen sah Cẩm mich an. „Gott, so früh aufzustehen sollte verboten sein. Kannst du dir vorstellen, dass du ständig so früh aufzustehen?“ „Zum Glück muss ich das nicht. Läuft ja gut als freischaffende Architektin. Wenn ich will, lege ich mir keinen Termin vor 10 Uhr.“ Cẩm antwortete mit einem Gähnen. „Ja, wahrscheinlich ist das der Grund, wieso du dein Studium nicht schon längst abgeschlossen hast. Weil es für dich eh keinen Unterschied macht. Aber andere Leute müssen einer geregelten Arbeit nachgehen, weißt du?“. Wir saßen im Unizentrum und tranken bereits den zweiten Kaffee. Vorlesungen früh am Morgen waren die Hölle. Vermutlich hatte sich der Umstand, dass ich mich bereits neben dem Studium selbstständig gemacht hatte – und das nicht gerade erfolglos – auch nicht besonders positiv auf meine Arbeitsmoral ausgewirkt.
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Meine Augen wandten sich zu der jungen Frau um, die über das Gelände spazierte. Sie war selten ordentlich angezogen für eine Studentin. High Heels, Strümpfe mit Spitzen und ein Kleid, das lässig um ihre Hüften fiel. Ihre blonden Haare schwangen mit jedem Schritt mit. Wow! Ich konnte einfach nicht weg sehen. Meine Augen folgten ihr, wie sie vom Eingang zu der Brunnenanlage im Zentrum des Platzes schritt. „Hallo? Erde an Jane?“
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„Die kannst du dir gleich aus dem Kopf schlagen“, meinte Cẩm, „viel zu jung für dich. Und viel zu hübsch. Sorry, Jane, jemand muss es dir sagen.“ Sie streckte mir die Zunge heraus. Der junge Mann vom Nebentisch wandte sich uns zu. „Macht ihr zwei Witze? Das ist Stacy Leester. Erstsemestlerin. Die ganze Uni steht auf sie. Hab gehört, sie hat schon einen fetten Modelvertrag am Laufen.“ Der Junge neben ihm schaute von seiner Hausarbeit auf. „Könnt ihr vergessen. Sie ist bei mir im Kurs. Hab versucht, mit ihr zu reden, aber…naja. Sie redet wohl mit niemandem. Mathematik scheint auch nicht das Richtige für sie zu sein. Ich hab gehört, wie sie zu ihrer Sitznachbarin gesagt hat, sie lässt es wohl bald wieder, wegen dem Modelvertrag. Sieht ja auch nicht so aus, als wäre sie ein besonders helles Köpfchen.“ Der erste verdrehte die Augen. „Edwin, die wird bestimmt die ganze Zeit angegraben. Kein Wunder, dass sie sich nicht mit dir unterhalten wollte!“ Cẩm kicherte. Edwin wandte sich beleidigt wieder seiner Hausarbeit zu.
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„Na, Süße? Ziemlich wenig los hier heute, wie?“ lallte der Typ neben mir. Ich verzog das Gesicht. Wenn ich eines mehr hasste, als Kinder reicher Eltern, die in Anzügen ihrer Bonzenstudentenverbindung herum liefen, waren es Kinder reicher Eltern, die in Anzügen ihrer Bonzenstudentenverbindung herum liefen und meinten, mich anflirten zu können. „Heul doch“, gab ich genervt zurück. Er warf mir einen verächtlichen Blick zu, bevor er aufstand und sein nächstes Opfer suchte. Tatsächlich war die Lounge heute ziemlich leer. Eine Möchtegernband spielte wie immer für kleines Geld in der Ecke und bei den Billardtischen entdeckte ich Edwin, den Jungen von heute Morgen. Kurz überlegte ich, nach Hause zu gehen, bestellte mir dann aber doch noch ein Mixgetränk. Es war ja noch früh.
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Nach einem weiteren Getränk und einem Glas Wasser sah ich eine Bekannte in der Ecke stehen. „Hey Roxie!“, begrüßte ich sie. „Hey, Jane! Na wenn das mal nicht meine Lieblingskapitalistin ist. Schicker Anzug“, zog sie mich auf. „Ziemlich wenig los hier“, meinte ich, weil mir nichts Besseres darauf einfiel. „Wird schon noch. Ich hab gehört, du hast schon mit meinem Bruder Bekanntschaft gemacht?“. Auf meinen verwirrten Blick hin erklärte sie mit genervtem Blick „Edwin“. „Das ist dein Bruder?“ Ich konnte mir die Verwunderung kaum verhehlen und bekam ein Augenrollen. „Sieht ganz so aus. Er wohnt bei mir. Aber sag es nicht weiter. Ich will nicht unbedingt mit ihm in Verbindung gebracht werden.“
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„Das wundert mich nicht“, gab ich amüsiert zurück. Die beiden Geschwister könnten nicht unterschiedlicher sein. „Jane, du weißt, ich bin ein ziemlich toleranter Mensch, aber mein Bruder…Ich hoffe, er sucht sich bald eine neue Bleibe. Und Jonah mag ihn auch nicht.“ Jonah war Roxies Freund und saß an diesem Abend am Schlagzeug. „Oh Gott, dreh dich jetzt bloß nicht um“, sagte Roxie auf einmal. Natürlich bewirkte dieser Hinweis das genaue Gegenteil und ich drehte mich sofort um.
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Da war sie wieder. Mir stockte der Atem. Sie sah noch besser aus als am Tag zuvor. Ihr Kleid hob sie von allen anderen rund herum ab und ihre Beine waren die Längsten, die ich je gesehen hatte. „Sie ist sooo hübsch“, hauchte ich verträumt. „Kein Wunder“, erwiderte Roxie, „genau dafür wird sie bezahlt. „Neid?“, fragte ich spöttisch. „Eher Realismus. Ich hab gesehen, wie du sie anschaust. Aber bei der solltest du schon etwas mehr in die Waage werfen, als im Hundertsten Semester Architektur zu studieren. Ich wette, die Frau kennt Rockstars und Schauspieler.“ „Kenne ich auch“, antwortete ich trotzig. Roxie warf mir einen spöttischen Blick zu. „Na gut, einen“, gab ich zu, „Ich habe sein Haus geplant. Aber er hat gesagt, er empfiehlt mich weiter.“
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Wir beobachteten, wie sie wiegenden Schrittes von den Billardtischen zur Tanzfläche stolzierte. „Lust auf eine Runde Billard? Lenkt dich vielleicht ab“, schlug Roxie vor. Seufzend stimmte ich zu. Allerdings war ich nicht mit besonders großer Konzentration bei der Sache. Während Roxie eine Kugel nach der anderen einlochte, wanderten meine Augen immer wieder zu Stacy. „Hast du mir eigentlich zugehört?“ Meine Spielpartnerin warf mir einen genervten Blick zu. „Ich hab gesagt, du solltest nicht ständig dem Modepüppchen nachgucken, wenn du noch gewinnen willst.“
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„Ich muss sie einfach haben“, erklärte ich ihr. Sie zuckte mit den Schultern. „Tu, was du nicht lassen kannst. Aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“ Ich legte den Queue auf die Seite und streifte meine Bluse glatt. Nervös ging ich los. Als hätte ich nicht schon genügend Frauen angesprochen. War doch eigentlich alles ein Klacks für mich. Warum war ich nur so verdammt aufgeregt?
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Bei der Tanzfläche angekommen atmete ich tief durch, ging auf sie zu und fragte „Lust zu tanzen?“. „Nein“, ist alles, was sie darauf antwortete. Mein Herz setzte für einen kurzen Moment aus. Das war’s also. Kurz und schmerzvoll. Enttäuscht wollte ich mich abwenden, als sie weiter redete. „Ziemlich heiß hier drinnen. Ich denke, ich werde mich mal auf die Terrasse begeben. Da ist auch weniger los“, sie zwinkerte mir zu, „vielleicht magst du ja vor gehen. Wir sehen uns.“ Hatte ich das gerade wirklich gehört? Verwirrt drehte ich mich noch einmal zu ihr um, aber sie war bereits wieder in die Musik vertieft. Also spazierte ich auf die Terrasse. Ein wenig Abkühlung konnte vielleicht wirklich nicht schaden. Allein, um Roxie’s Hohn bei einer Niederlage zu entkommen.
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Ich wartete ein paar Minuten, bis ich Stacy sah. Sie hatte es also ernst gemeint. Wie eine Göttin stolzierte sie zur Türe heraus und warf ihre Haare zurück. „Sorry, dass es etwas gedauert hat. Ich wollte nicht, dass jeder mitbekommt, dass wir hier draußen sind.“ Ich nickte verständnisvoll. „Die Leute hier sind wie die Hyänen. Alle tun, als wäre ich ein Promi oder so.“ „Ja, man hat mir auch schon gesagt, du hättest einen fetten Modelvertrag. Was bringt dich dazu, dich unter uns Normalsterbliche zu mischen?“, neckte ich sie. „Du.“
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Ein einziges einfaches Wort und ich schien den Boden unter den Füßen zu verlieren. Passierte das gerade wirklich? Stacy trat einen Schritt auf mich zu. „Ich habe dich neulich schon gesehen und ich wusste, dass du öfter hier bist. Du bist genau mein Typ.“ Ich zog sie noch ein Stück näher zu mir und schloss die Augen bis ich auf ihre wunderbar weichen Lippen traf. Die Welt um mich herum verschwandt. Es gab nur noch sie und mich. So musste sich der Himmel anfühlen.