Eine plattengefirmte Zielgruppenband auf dem Weg nach oben.
ZitatAlles anzeigenReflexe sind gut. Einmal antrainiert, kann man sich auf sie verlassen. Und wenn eine Band kommt, deren Sänger 15 Jahre ist, wie ein magersüchtiger Klon aus Brian Molko und diesem Sänger von The Rasmus aussieht und deutsche Texte singt, dann sagen die Reflexe: „Prinzipiell erstmal Scheiße.“ Und gerade wegen dieser Vorbehalte werden Tokio Hotel ein Thema, zu dem jeder gerne eine Meinung haben möchte. Vielleicht, weil ihr Wesen so durchschaubar ist. Vielleicht, weil in ihrer Debütsingle Durch den Monsun eine Gitarre vorkommt. Vielleicht, weil sie das diesjährige Paradebeispiel für eine plattengefirmte Zielgruppenband sind.
Und die Reflexe lassen die Witzigen witzeln, dass da am Mikrophon eine Mangasängerin steht. Und die Kritischen kritisieren die Plattenfirmen und deren Rattenfängermentalität. Und all die sweet angels und fans4evers werfen im Gegenzug den Kritikern vor: „Kritisieren kann jeder! Tokio Hotel sind fett geil! Mach so was erst mal selbst! Ihr Alkis!“ Das alte Spiel, seit kurzem auch in der Musikabteilung ihres Vertrauens.
Dabei zieht die treibende Kraft hinter Tokio Hotel, das Management, alle Register, um ja nicht von allen älter 15 ernst genommen zu werden. Tokio Hotel singen Deutsch. Sie sind so gestylt, wie wenn heute die Hansonbrüder als Good Charlotte gecastet werden würden. In der Presseinfo stehen unverzeihliche Sätze: „Ihre Songs rütteln auf und alles bisher gehörte scheint nur noch blasse Vergangenheit […] Auf höchsten Niveau musikalisch umgesetzt, gehören ihre Songs zu den spannendsten, deutschsprachigen Produktionen dieser Tage.“ Sie stehen bei einem Major unter Vertrag, der um eine perfekt organisierte Marketingkampagne eine Band nach aktuellen Trends geschaffen hat.
Früher hießen Tokio Hotel Devilish. Tom, der Gitarrist, trug schon damals Chè — Shirts. Musik macht er seit seinem neunten Lebensjahr. Bill, der Sänger, schied in der ersten Runde von Star Search mit einer Interpretation von It's Raining Men aus. Tom und Bill sind Zwillinge und wurden von ihrem Stiefvater musikalisch gefördert. Das könnte was heißen, muss aber nicht. Aber es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, wie es weiterging mit der kleinen Magdeburger Schülerband Devilish.
Stichwort: Die perfekte Welle.
Stichwort: traditionelle Boygroups und deren schwindende Bedeutung.
Stichwort: Green Day Comeback.
Stichwort: Universal.
Seit kurzem läuft ihr Video auf den verbleibenden Musikkanälen in Dauerrotation, geifert die BRAVO „Keine andere Rockformation hat eine dermaßen geballte Ladung an süßen Jungs zu bieten“ und im bandeigenen Forum fragt ein gewisser Johnson „Wieviel würdet ihr für ein Tokio Hotel-Shirt ausgeben?“
Klar ist: Tokio Hotel sind für alle, denen Chipz zu albern geworden sind. Für die Älteren, die Wilderen, gibt es Revolverheld. Danach vielleicht El*ke. Und irgendwann hat man einen eigenen Musikgeschmack oder auch nicht. Und es scheint durchaus möglich, dass diese Musik für jüngere Teenager gemacht ist und allein für die. Alle, die es nicht mehr sind, reagieren so, wie sie reagieren müssen. Generationskonflikt und das Wissen der 25-Jährigen über die Gesetzmäßigkeiten der Plattenfirmenverarsche, verbunden mit einem dünkelhaften Glauben, dass man früher selbst so was nie gehört hätte. Und selbst Echt, die erste Referenzadresse zu Tokio Hotel, scheinen im Rückblick „garnichtmalsoooschlecht“, was aber auch daran liegen kann, dass man damals ja noch viel näher dran war am Teenager-Sein, als man es heute ist.
Ohne Ironie: Durch den Monsun ist ein guter Popsong, der durchaus mit Du trägst keine Liebe in dir mithalten kann. Wieviel Prozent die Band selbst zu diesem Lied beigetragen hat, inwieweit ein Lukas-Hilbert-ähnlicher Ghostwriter seine Finger im Spiel hatte und wie wichtig es weiterhin für das Image der Band sein wird, dass Sänger Bill seine Lieder selbst schreibt, bleibt offen. Auch Echt haben in ihren erfolgreichen Zeiten keine Songs selber geschrieben. Als sie es dann taten, blieb der Zuspruch aus.
Eines Tages wird auch bei den Magdeburgern der Zuspruch ausbleiben. Bis dahin werden Tokio Hotel für breite Bevölkerungsschichten ein weiteres Synonym sein für Ausverkauf, die böse Macht der Majors und für Teeniepoprockscheiße im allgemeinen. In ihrem Windschatten werden Juli und Silbermond etwas Ruhe finden und Madsen wird es vielleicht sogar gelingen, mit ihrem zweiten Album etwas richtig eigenständiges zu schaffen, was nicht nur das Tomteblog gut finden wird. Vielleicht. Bis dahin wird Magdeburg außer Handball auch eine Band haben, die für das nächste Jahr Titelseitenstammplatzhalter der BRAVOYAM sein wird und gleichzeitig oft zitiertes Gegenbeispiel in unzähligen Plattenrezensionen alternativer Magazine.