Kapitel 3: Oceans Tochter legt die Karten:
"Noch ein bisschen Pudding, Miss Julia? Sie essen ihn doch so gern", sagt Bella und häuft eine große Portion auf Julias Teller, bevor die ein Wort hervorbringt. Julia, von der allgemein bekannt ist, dass sie Pudding verabscheut, kann sich nur mit Mühe ein Schaudern verkneifen. Bella, die ziemlich gemein sein kann, wirdt ihr einen munteren Blick zu, und ihre kleinen schwarzen Augen funkeln vor Vergnügen.
"Trinkt den Tee aus, Mädels", sagt sie. "Und, Maisie, du musst auch was davon trinken, ich fange mit den Teeblättern an."
"Können wir nicht mit der Kristallkugel anfangen, Mrs. Nunn?", frage ich. Die Kristallkugel steht auf der Kommode, verhängt mit einem weißen Seidentaschentuch, und ich betrachte sie schon die ganze Zeit.
"Nein. Erst später", erwidert Bella. "Alles muss in der richtigen Reihenfolge passieren. Zuerst die Teeblätter, dann die Kristallkugel, dann die Karten." Bella ist herrisch und dickköpfig obendrein, und man widerspricht ihr besser nicht. Außerdem ist sie jähzornig; wenn ich sie ärgere, wahrsagt sie uns vielleicht nicht - und wir sind alle ganz verrückt danach, sogar Julia, die behauptet, das sei alles Hokuspokus. Bella hat das zweite Gesicht; Dan und sie haben uns das so oft erzählt, dass wir es glauben. Das ist ein Erbteil ihrer Ahnen, der Roma. "Manche Leute erben ein Herzogtum oder die Hämophilie, wie diese russischen Zaren. Ich hab das zweite Gesicht geerbt. Wieviele Kinder hatte Ocean?"
"Vierzehn", antworte ich. Ich bin gut vorbereitet.
"Und wieviele davon haben das zweite Gesicht?"
"Nur eines. Du."
"Richtig!", sagt Bella mit leuchtenden Augen. "Also sieh dich vor, Maisie. Mich kannst du nicht hinters Licht führen. Ich kann durch Wände und Türen schauen."
Jetzt gießt sie Tee in eine Tasse und reicht sie mir. Blätter schwimmen darin, und ich trinke den Tee in kleinen Schlucken, scharf beobachtet von Finn. Ich habe Stella und Großvater versprochen, dass ich ihnen das Hexenhaus genau schildern werde. Deshalb schaue ich mich um, während Julia noch damit beschäftigt ist, den Pudding hinunterzuwürgen.
Ich finde diesen halbdunklen geheimnissvollen Raum wunderbar. Die Balken sind mit scharlachroten Rosen bemalt. In den Fensternischen hängen Spiegel in schimmernden Blechrahmen, die einen Teil der Welt draußen reflektieren. Überall stehen Nippes herum, die Kleiderhaken sind mit paillettenbesetzten Schleifen verziert, und an den schwarzen Eisenofen lehnen glänzende Messingtöpfe und leuchtend bunte Kissen mit Blumenmustern, mit Punkten und Streifen in knallrot, Gelb, sonnigem Orange, Blattgrün und Himbeerrosa; besonders gut gefällt mir eines, das mit glitzernden Sternchen bestickt ist. Doch am großartigsten finde ich die Ahnengalerie direkt neben mir.
Sie sieht aus wie ein kleiner Altar; auf einem mit roten Stoff bezogenen Regal stehen Fotos, beleuchtet von einem ewigen Licht, das die Menschen auf den Bildern zum Leben zu erwecken scheint. In der Mitte steht ein Bild von Dans Urgroßmutter, Bellas Mutter, der berühmten Ocean Jones. Sie sitzt auf den Stufen eines Wohnwagens - ich habe so einen Wagen noch nie zu Gesicht bekommen, aber ich möchte gerne in einem leben. Er ist aus Brettern zusammengenagelt, hat ein gewölbtes Dach, aus dem ein Ofenrohr hervorragt, große Räder und eine buntbemalte Deichsel für das zottige gescheckte Pony, das nebendran grast. Ocean sieht fantastisch aus. Sie ist fett und runzlig. Ihre Augen sind kohlschwarz und blicken in die Ferne, und sie ist so hergerichtet, wie man sich eine Zigeunerin vorstellt: Über mehreren bestickten Röcken trägt sie eine Weste und eine bauschige Bluse. An ihrem Hals glitzern unzählige Ketten (von ihr hat Bella das abgeguckt), und um die Stirn trägt sie ein mit Münzen besticktes Tuch. Sie hat ihr weißes Haar niemals geschnitten - Bella behauptet, das bringt Unglück; auch sie schneidet sich nie die Haare - und hat es zu einem Zopf geflochten, der so dick ist wie ein Pferdeschweif und ihr bis zur Hüfte reicht. Ihre Füße stecken in Männerstiefeln, und sie hält eine Tabakpfeife in der Hand. Am Fuß der Treppe stehen Männer, doch neben Ocean wirken sie klein und unbedeutend. Es gab keinen Zweifel, wer in diesen Klan das sagen hatte, denke ich. Zum ersten Mal verstehe ich, was Finn meinte, als sie Ocean als >>Matriarchin<< bezeichnete.
Ocean starb im Jahre 1949, als Dan vier Jahre alt war - Bella hat mir oft davon erzählt. Ocean hatte ihren eigenen Tod vorrausgesagt, und sich sorgfältig darauf vorbereitet. Damals kamen die Zigeuner noch ein Mal im Jahr nach Suffolk, meist zur Erntezeit, wenn man Hilfsarbeiter brauchte. Sie errichteten ihr Lager unter am Black Ditch, blieben manchmal über den Winter und zogen dann weiter durch ganz England. Manchmal hielten sie sich in Städten auf, aber Bella sagt, dass sie lieber auf den freien Feld, unter den Sternen kampieren. Sie zogen weit nach Norden, bis nach Yorkshire, wo die Leute engstirnig waren, und weit nach Süden, nach Dorset, wo die Leute offener und freier dachten. Sie kamen zu den Jahrmärkten im ganzen Land, verkauften Wäscheklammern, Flickendecken, Werkzeug, Kunsthandwerk. Sie ernteten Hopfen in Kent, gruben in Lincolnshire Kartoffeln aus, sammelten Altmetall und hatten jedes Jahr einen Verkaufstand im Londoner East End. Bella hätte beinahe einen >>Perlenkönig<< geheiratet, erzählt sie, einen Zigeunerbaron, der so charmant daherreden konnte, dass er sie um den kleinen Finger wickelte. Sie hat ihn beim Pferderennen in Epsom kennen gelernt. Er trug einen Anzug mit dreißigtausend aufgestickten Perlenknöpfen. Auf den Rücken des Anzugs prangte das Auge Gottes, am Kragen schimmernten Sonne und Mond. Bella warf einen Blick auf den Mann und war verloren. Aber Ocean mißfiel sein Wagen, und so nahm Bella zu guter Letzt Vernunft an und heiratete nicht ihn, sondern Dans Großvater. Dans Großvater war ein Sesshafter, wie auch Dans Vater - und das braucht eine Frau, meint Bella, einen Mann, der sesshaft und verlässlich ist.
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sorry für den langen text