Nikita. Danke für deinen Kommi. Ja, die Beziehungen werden sich verändern, zumindest eine von der ICH bisher weiss.
Und so erzählt Stella alles von Anfang an. Ihre Geburt in Edinburgh, den Umzug der Familie nach Kanada, als sie sechs Monate alt war, ihre Kindheit auf einer Farm in Ontario und ihre Träume von Schottland und einem England, das sie noch nie gesehen hatte. Sie war als Kind eine Leseratte, verschlang Bücher, ernährte sich förmlich von ihnen, wie Finn heute auch. "Ich bin auch so", werfe ich ein, aber Stella mag die Bücher nicht, die ich lese, überhört die Bemerkung geflissentlich und fährt fort.
"Bei Tisch wird nicht gelesen, Stella", pflegte Ihr Vater zu sagen, wenn sie mit einem Buch zum Essen erschien. Sie ließ es verschwinden - Entführt oder Jane Eyre oder Große Erwartungen - und las später auf dem Hof weiter oder mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke bis tief in die Nacht hinein. Aber natürlich war sie nicht auf dem Hof oder im Bett, sondern in jener anderen Welt: Sie war gefangen in einem grässlichen Turm, sie sah zu, wie die verrückte Mrs Rochester Janes Brautschleier zerriss, starrte auf Miss Mavishams Hochzeitstorte mit Spinnen. "Diese Bücher sind immer noch wichtig für mein Leben", sagt Stella jetzt und seufzt. "Maisie, wann werde ich endlich erwachsen? Bücher, Bücher - ich bin süchtig nach diesen Geschichten. So sollte man nicht leben, ich weiß das, aber ich kann nichts dagegen tun."
Ich will garnicht, das Stella anders ist - und außerdem hätte sie ohne die Bücher niemals meinen Vater kennengelernt. Und das muss man sich mal vorstellen: Dann gäbe es mich gar nicht. Zum Glück war Stella büchersüchtig. Als sie achtzehn wurde und ihren Schulabschluss machte, bekam sie von ihren Eltern das Geschenk, das sie sich gewünscht hatte: ein Jahr in England. Sie würde nach England reisen, bei Tanten, Cousinen und Freunden der Eltern wohnen und endlich all die Orte sehen, von denen sie schon so lange geträumt hatte. Sie fuhr mit einem großen Dampfer, auf dem Zwischendeck. Als sie in Liverpool ankam, nahm sie sofort den nächsten Zug zu ihrem Geburtsort: Edinburgh. Das war im Jahre 1938, und dieser schwächliche Idiot Chamberlain verhieß Frieden.
Stella blieb eine Woche bei zwei unverheirateten Tanten in Morningside und begab sich dann auf ihre große Tour. Ich liebe die Einzelheiten dieser Reise, bei denen ich immer wegdämmere. Mit einem komplizierten System aus Zügen und Bussen fuhr Stella nach Süden: Sie suchte Walter Scott auf (in den Borders), dann Wordsworth und Coleridge (im Lake District). Im Winter dieses Jahres ging sie bei Haworth mit den drei Bronté-Schwestern im Moor spazieren, eigenartigen und beunruhigenden Gefährtinnen, doch Stella, die ihre Bücher in und auswendig kannte, war darauf vorbereitet. Sie besuchte Lawrence in Nottingham und Tennyson in Lincolnshire. Arm in Arm mit Dickens streifte sie durch London und begab sich dann in den Nordwesten zu Shakespeare, in die Wälder von Arden und Warwickshire. Dann wohnte sie wieder längere Zeit bei einer ledigen Tante; im Anschluss daran kamen Dorset und Thomas Hardy und im Spätsommer Jane Austen in Bath. Ihrer geliebten Austen folgte Stella nach Lyme Regis und Hampshire. Im September stand sie gerade vor Austens Grab in der Winchester Cathedral, als sich unter den anderen Besuchern eine Unruhe breit machte. Stella schlug Mansfield Park zu (das sie zum fünftem Mal las) und horchte aus das Flüstern im Kirchenschiff und die Unruhe - fürchteten sich die Leute vor etwas? Sie ging hinaus, trat zu der Menge, die sich dort versammelt hatte, und fragte, was geschehen sei. Man sagte ihr, es sei Krieg.
Stella hatte sich so in Jane Austens Welt vertieft, dass sie zuerst gar nicht verstand, was man ihr sagte. Am selben Tag traf ein Telegramm ihrer Eltern aus Kanada ein; sie forderten sie auf, sofort zurückzukommen. Doch Stella weigerte sich. Kanada war für sie nicht mehr ihre Heimat, und sie wollte England zur Seite stehen. Die Shakespeare-Tante erklärte sich bereit, sie aufzunehmen, und so konnte sie in England bleiben. Natürlich musste sie bleiben, dachte ich und schloss die Augen; die Karten würden ihr nämlich einen Ehemann schicken, und der war schon ganz in der Nähe.
Aber zuerst gab es eine langweilige Phase, in der Stella in London und an anderen Orten in der Rüstungsindustrie arbeitete. Bei diesem Teil der Geschichte höre ich nicht richtig zu - ich bin in Gedanken noch bei der Buchreise und überlege mir zum ersten Mal, dass Stella erstaunlich viele unverheiratete Tanten zur Verfügung standen. Sonderbar, dass keine dieser Frauen so lange lebte, dass wir sie noch kennen lernen konnten - sie kamen nie zu Besuch, sie schrieben nie, sie waren einfach weg. Vielleicht sind sie alle schon tot, denke ich. Vielleicht sind all diese alten Jungfern im Krieg umgekommen ... auf einer Woge alter Tanten drifte ich dahin und drohe einzuschlafen, aber ich wehre mich, ich will noch wach bleiben. Dann ist die öde Zeit endlich vorüber, und Stella, Tochter eines Farmers, hat während des Krieges doch noch die richtige Tätigkeit für sich gefunden. Sie wird Erntehelferin, zuerst auf einer Farm in Warwickshire (wieder bei Shakespeare), dann für eine Weile in Norfolk und schliesslich auf einer Farm im Dörfchen Wykenfield in Suffolk, die von einem Mr Angus McIver gepachtet wurde.
"Und dort", sagt Stella, "an einem bezaubernden Juniabend - es war schon spät, und ich war seit fünf Uhr morgens auf den Beinen -, ging ich vom Tal zum Holyspring hoch. Da saß ich ein Weilchen, unterhalb vom Nun Wood. Es war so still dort, dass man den Fluss im Tal gluckern hörte. Ich legte mich ins Gras und sah den Schwalben zu. Und auch den Bombern, die von Deepden aus starteten. Man hörte sie jeden Abend losfliegen und jeden Morgen zurückkommen ..."
"Was hattest Du an?", frage ich, obwohl ich das schon weiß, aber ich will es nochmal hören. "Tja, nichts besonders Hübsches", antwortet Stella träumerisch. "Ich hatte noch meine Arbeitskleidung an - Stiefel, Latzhosen, ein altes kariertes Hemd. Ich war verschwitzt und schmutzig und hatte warscheinlich Stroh im Haar, weil ich an diesem Tag bei den Pferden war ... Da lag ich nun jedenfalls auf dem Feld unterhalb der Abtei. Und aus irgendeinem Grund kam ich auf die Idee, an der Abtei vorbei zurückzugehen. Das Hauptgebäude war damals verschlossen, es war zu heruntergekommen und nicht groß genug, um beschlagnahmt zu werden, und Großvater war in London - na ja, damals war er natürlich noch nicht Großvater für mich. Ich wußte nur, dass die Abtei einem Mr Mortland gehörte - und das der einen Sohn hatte, der Jagdflieger und irgendwo in Sussex stationiert war ..."