Ps: Als kleiner Tipp um alles besser zu verstehen, hoffe ich, das ihr euch die Überschrift des 1. Kapitels gut eingeprägt habt und das ihr hier gut auf die Zeit (Jahres/Monat/Tag) Angaben schaut.
Teil 4: Retrospektive!
Kapitel 9: Korrespondenz!
5. August 1989, 2:15Uhr, Fax von: Daniel Nunn, The Oriental Hotel, Bangkok, an: Jonathan Aske, The Royal Academy, London
Jonathan - natürlich erinnere ich mich noch an dich aus der College-Zeit. Es ist zwanzig Jahre her, doch die Erinnerung ist unauslöslich. Tut mir Leid, das du viermal schreiben musstest, und das auch noch ausführlich - ich bin ständig woanders, arbeite an mehreren Kampagnen gleichzeitig. Ich weiß, das du auf Antwort wartest, deshalb schicke ich dir diesen Brief per Fax.
Um wenigstens einige deiner Fragen zu beantworten: Ja, Lucas hat mir von der Retrospektive erzählt, aber ich wußte nicht, dass sie von dir organisiert wird. Und mir war auch nicht bewußt, dass so viele frühere Werke von ihm ausgestellt werden sollen. Das Die Schwestern Mortland Teil der Ausstellung sein muss, leuchtet mir ein. Über dieses Bild ist soviel gestritten und spekuliert worden, das ist Pflichtprogramm. Aber ich verstehe nicht, dass Lucas eingewilligt hat, die Zeichnungen zu zeigen, die er 1967 von Maisie, Julia und Finn gemacht hat.
Steht das wirklich fest? Er hat noch nie zugelassen, dass diese Zeichnungen ausgestellt werden.
Du sagst, du betrachtest das als >>Riesenerfolg<<. Ich kann mich dieser Ansicht nicht anschließen. Jener Sommer in der Abtei nahm ein schlimmes Ende, und ich ziehe es vor, nicht mehr daran erinnert zu werden. Ich möchte die Mortlands nicht aufstören in ihrer Trauer, und es spielt auch keine Rolle, ob das alles vor zwanzig oder vor zweihundert Jahren passiert ist. Ich werde also keine Hintergrundinformationen liefern und auch deine Fragen nicht beantworten. Wenn Lucas die Absicht hat, diese Zeichungen auszustellen, so will ich jedenfalls nichts damit zutun haben.
Was Trinity Daniel betrifft: Ja, es handelt sich dabei um Kohle - und Bleistiftzeichungen, drei Porträts von mir - eine Art Triptychon, wie Lucas sagte. Es entstand 1967 nach unserem Abschluß innerhalb mehrerer Stunden, an dem Tag, bevor wir in die Abtei fuhren, und zwar in meinem Zimmer im Whewell`s Court am TrinityCollege. Einzig aus diesem Grunde trägt es diesen Titel. Ich wüßte nicht, was es sonst noch für Gründe für diesen Titel geben sollte. Wer denkt das und weshalb?
Und, ja, es gehört mir: Lucas hat es mir geschenkt. Da ich umziehe, befindet es sich zur Zeit in einem Lager, und da wird es vorerst wohl auch bleiben, denn ich habe keine Ahnung, wann ich Zeit für den Umzug haben werde. Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob ich es überhaupt ausgestellt sehen möchte.
Ich verlasse Thailand morgen und bin nicht mehr zu erreichen. Ich werde erst in mehreren Monaten nach England zurückkehren.
An deiner Stelle würde ich mir gut überlegen, ob ich diese Zeichnungen ausstelle.
Daniel Nunn
5. August 1989, Brief von Daniel Nunn, The Oriental Hotel, Bangkok, an Lucas Field, Notting Hill, London
Lieber Lucas,
du Dreckskerl - was hat es mit dieser Retrospektive auf sich?
Du hast mir kein Wort davon gesagt. Irgendein Kurator namens Jonathan Aske oder Arschi verfolgt mich - hast du den auf mich gehetzt? Er behauptet, er sei mit uns in Cambridge gewesen. Ich erinnere mich nicht im geringsten an ihn, und er ist ein echtes *********, ein Blutsauger und aufgeblasener bösartiger Mensch. Er hat mir sechs Briefe geschrieben, von denen ich die ersten beiden verloren und die restlichen vier nicht beachtet habe, aber er kapiert es einfach nicht. Er hat meine Assistentin in London letzte Woche achtmal angerufen. Jetzt ist er an die Nummer des Hotels hier gekommen und hat schon zweimal hier angerufen - ich war zum Glück an beiden Tagen am Set und bin ihm entgangen.
Ich habe ihm gerade ein Fax geschickt und ihm mitgeteilt, er soll sich verpissen.
Er wollte wissen, on ich ihm Trinity Daniel für die Ausstellung zur Verfügung stellen würde - zumindest hat er das vorgeschoben. Danach hat er nämlich x Fragen gestellt zu dem Sommer in der Abtei, schleimig umschrieben als "die Tragischen Ereignisse". Ich habe keine davon beantwortet. Ich will nicht mehr an diese Zeit erinnert werden. Es war ein so außergewöhnlicher Sommer: Alles schien möglich, wir hielten die Zukunft in den Händen, und dann plötzlich - es war wie in Liebes Leid und Lust: Auftritt des Mercade, des Todesboten. Ich habe das nicht geahnt, obwohl ich es wohl hätte ahnen sollen. Vielleicht hast du es vorhersehen können.
Tut mir Leid, Lucas, es ist drei Uhr morgens, und ich kann nicht schlafen. Es ist eine dieser Nächte, in denen ich von der Vergangenheit eingeholt werde. Ich mußte meinen wöchentlichen Anruf bei meinen Vater machen - dem es nicht gut geht -, und das ist immer schwierig für mich. Dann mußte ich zusehen, dass ich diesen Aske loswerde. Ich weiß, das es sinnlos ist, dich anzurufen, man kriegt ja doch nur diesen verfluchten Anrufbeantworter zu hören. Deshalb schreibe ich. Ich wünschte, ich könnte mit dir reden. Aske schreibt, du hättest eingewilligt, die Zeichnungen von Finn, Maisie und Julia in die Ausstellung aufzunehmen - ich mag einfach nicht glauben, dass das stimmt.
Gott, bin ich deprimiert. Ich hasse Bangkok - ein übler Ort, an dem es nur so wimmelt von fetten Kinderschändern und Sextouristen. Luftfeuchtigkeit hundert Prozent, und das bei 33 Grad. Ich brenne dieses Rauchkreuz gegen die Moskitos ab, was völlig sinnlos ist - ich kann kaum atmen wegen dem Gestank und werde trotzdem gestochen. Ich bin total geladen und habe sechs fünfzehn-Stunden-Arbeitstage hinter mir. Dieser neue Star-Regisseur ist eine Plage, er überzieht das Budget endlos - der Spot läuft aus dem Ruder, und ich kriege es nicht in den Griff. Das Ganze ist wie ein schlechter Trip. Morgen haben wir an die tausend Statisten, aber heute hatten wir eine ganz simple Sache, nur eine Orientierungseinstellung von der TAA-Maschine auf dem Rollfeld. Wunderkind hat den gesamten Vormittag dafür gebraucht, am Licht rumgefummelt, die Kamera umgestellt. Man hätte es in einer Stunde schaffen können, aber Ingmar brauchte wahrhaftig 35 Takes.
Vor zwanzig Jahren hätte ich meine Seele verkauft, um eine so große Kampagne an Land zu ziehen; warscheinlich habe ich es auch getan vor zwanzig Jahren. Jetzt sind zuviele Leute hinter mir her. Zu viele Flugzeuge, Hotelzimmer, aufgeblasene Egos und gottverfluchte ätzende Blödheit - du kannst es dir vorstellen. Und vermutlich auch zuviel Brandy. Das Thai-Zeug hier schmeckt eklig, aber es hilft mir wenigstens beim Einschlafen.
Schick mir eine deiner Postkarten, Lucas, das würde mich aufheitern. Schick sie ans Lutetia in Paris, dort bin ich nächste Woche. Sag mir, das es diese Retrospektive nicht geben wird. Sag mir, dass du diese Zeichnungen bei dir zu Hause an der Wand hängen läßt. Ich kann die Vorstellung nicht ertragen, dass sie der Neugierde dieser sensationslüsternen Horden ausgesetzt werden. Sag mir - ach, ich weiß nicht -, das wir nichts tun konnten, dass wir es nicht ahnen konnten, dass es nicht unsere Schuld war.
Sag mir, dass du lebst - das erinnert mich vielleicht daran, dass ich auch lebe.
Dan
10.8.1989, Postkarte von Lucas Field, London, an Daniel Nunn, Hotel Lutetia, Paris
Lieber Dan, was ist los mit dir?
1.) Du erinnerst dich sehr genau an Jonathan Aske. Er spielte den Leartes in deiner Brecht´schen Hamlet-Inszenierung im ADC Theatre in Cambridge. Ich weiß nicht, ob er ein Blutsauger ist, und es ist mir auch einerlei. Er ist nützlich, damit hat es sich.
2.) Die Retrospektive ist von mir abgesegnet. Ich stelle Die Schwester Mortlands und sämtliche vollständigen Zeichnungen von Maisie, Julia und Finn aus. Trinity Daniel will ich auch dabeihaben, sei also bitte nicht so kompliziert.
3.) Was in diesem Sommer geschah ist gegenwärtig nicht mehr wichtig. Meine Arbeit schon.
4.) Ich habe nichts vorhergesehen, so wenig wie du. Wie sollten wir auch? Wenn man Unfälle vorhersehen könnte, wären sie keine Unfälle, n´est-ce pas?
5.) Ich lebe - ganz und gar. Du auch. Du solltest dir nur einen anderen Beruf suchen. Wie können Werbeagenturen alles Ernstes Wörter wie "kreativ" für sich in Anspruch nehmen? Das ist schädlich. Und ich hatte dich gewarnt.
Lucas
12. August 1989, Postkarte von Daniel Nunn, Paris, an Lucas Field, London
Tut mir Leid, Lucas. Keine Sorge - ich habe nur gerudert, ich ertrinke nicht. Wenn ich Trintiy Daniel finden sollte, stelle ich es dir vielleicht zur Verfügung. Sag bloß diesem Aske, er soll mich in Ruhe lassen. Morgen bin ich in New York, dann in L.A. und Tokio. Melde mich, wenn ich wieder da bin. Das "nicht mehr wichtig" war unmenschlich, aber ich denke, das weißt du.
Dan
27. Dezember 1989, Postkarte von Lucas Field an Daniel Nunn, Highbury Fields, London N5
Dan - wo steckt du? Seit Monaten hat niemand von dir gehört. Diese TAA-Spots müssen doch inzwischen im Kasten sein? Ich habe es bei dir zu Hause versucht, aber da war keiner. Letzte Woche meinte eine Frau auf einer Party, du seist in Tokio; jemand anderer sagte, in New York. Ich habe deine Agentur angerufen, aber die sind verstockt und rücken keine Adresse raus. Hör zu, Weihnachten ist vorbei; willst du nicht mal reinschauen und mit mir auf das neue Jahrzehnt anstoßen? Ruf mich doch an, wenn du in London bist. Nur wir zwei - keine Exfrauen, ich versprech´s.
Lucas
Ps: Du bist nicht sauer auf mich, oder? Wäre schade. Wir sind doch schon so lange Freunde.
1. Januar 1990, Brief von Joe Nunn, 29 The Street, Wykenfield, Suffolk, an Daniel Nunn, Highbury-Fields, London N5
Mein lieber Sohn,
hat mir gut getan, gestern Abend mit dir zu sprechen. Hab mich gefreut zu hören, dass du bald heimkommst und an Silvester an deinen alten Paps denkst. Mach dir bloß keine Sorgen wegen mir, ich bin putzmunter. Sitze am Kamin mit meinen neuen Pantoffeln. Sie passen wir angegossen. Hector McIver war heute Mittag hier, wird seinen Vater Angus immer ähnlicher und hat ein Händchen für die Elektrik, jedenfalls ist der neue Fernseher jetzt angeschlossen. Hector meint, so einen großen Bildschirm hätte er noch nie gesehen - hat für Aufsehen gesorgt im Dorf, das kann ich dir sagen. Wie du es geschafft hast, den und die Pantoffeln von der anderen Seite des Erdballs zu schicken, ist mir ein Rätsel. Und deine Stimme so klar und deutlich gestern Abend, du hättest nebenan sein können und nicht in einem Hotel in Tokio, ich kann es kaum glauben. Ich wünschte, deine Großmutter wäre noch da und könnte das erleben. Dein Weihnachtsgeschenk ist verpackt, Hector hat gesagt, wir sollen es lieber nicht schicken. Ich hab mich aufgeregt deswegen, aber er meint, du seist so viel unterwegs, ich soll es lieber hier in Wykenfield lassen, bis du wieder herkommst. was hoffentlich bald ist, Danny. Ist immer ein großer Tag für mich, wenn ich meinen prima Jungen zu Gesicht kriege, das weißt du ja.
Hier gibt es nicht viel zu berichten. Alles ruhig - im Osten nicht Neues, wie du immer gesagt hast, das weißt du bestimmt noch. Hector denkt daran, auf Acre Fields Raps anzupflanzen, dann wäre auch noch die letzte Wiese verschwunden, aber er hat sich noch nicht endgültig entschieden. An dem Gerücht, dass die Abtei verkauft worden sei, ist nichts dran. Das Haus ist immernoch verschlossen und verriegelt und verfällt, genauso wie mein guter alter Gemüsegarten, in dem jetzt nur noch Ampfer wächst und Nesseln. Ich war nicht viel draußen, weil das Wetter schlecht ist und es schneien soll. Gibt nicht viel zu sagen, außer das hier alles läuft, ich kann nicht klagen und hab viel Spaß mit dem neuen Fernseher. Ich hab nach der Werbung geguckt, wie du gesagt hattest. Nach den Nachrichten kam sie schließlich. War ein bisschen spät für mich, aber hat sich gelohnt und ich hab ordentlich gelacht. Du konnest schon immer gut Witze machen, und ich war mächtig stolz auf meinen Sohn. Wie deine Großmutter zu sagen pflegte: Weiß gar nicht, wo du all die Schlauheit her hast, Danny.
Ich bete, dass du ein schönes neues Jahr erlebst, das dir alle deine Wünsche erfüllt. Ein neues Jahrzehnt beginnt auch, und bald ein neues Jahrhundert und ein neues Jahrtausend, das ist allerhand, nicht wahr. Grüß deinen alten Freund Nick Marlow, wenn du ihn siehst. Er hat mir eine Weihnachtskarte geschickt. Ich denke oft an ihn, er war immer ein guter Freund für dich.
Alles Liebe für dich, mein lieber Sohn. Sag mir doch Bescheid, ob du bald mal kommen kannst, aber nur keine Hast, ich weiß ja, wie viel du zutun hast. Sollte jetzt mal ins Bett, ich schick den Brief morgen ab.
In Liebe dein Paps
30.Mai 1990, Brief von Jonathan Aske, The Royal Academy, London, an Daniel Nunn, Highbury-Fields, London N5
Lieber Daniel,
gestern erhielt ich ein Paketm das zu meinem Erstaunen Lucas´Triptychon-Bild von dir im Trinity College enthielt. Ein Anschreiben lag nicht bei - vielleicht hattest du es vergessen beizufügen, aber ich gehe doch davon aus, dass du der Absender bist. Kann ich auch davon ausgehen, dass du damit deine Zustimmung zur Ausstellung des Werks gibst? Das wäre wunderbar, aber ich brauche noch deine Schriftliche Zusage. Ich weiß, dass du solchen Papierkrieg hasst, deshalb habe ich dir die notwendigen Formulare beigelegt. Schicke sie bitte so schnell wie möglich an mich zurück. Die Ausstellung wird erst in einige Monaten stattfinden, aber wir müssen vorher noch soviel erledigen - die Tücken der Bürokratie, so ist das leider.
Ich hoffe sehr, dass du uns die Genehmigung erteilst, denn dieses Werk gehört zu den besten frühen Zeichnungen von Lucas und ist äußerst faszinierend als Ergänzung zu den Arbeiten von den Schwester Mortland. Es ist spannend, zu sehen, wie es ihm gelungen ist, unterschiedliche Aspekte deiner Persönlichkeit abzubilden, und er ist natürlich auch ein excellenter Zeichner. Ich fühlte mich sofort wieder in die 60er in Cambridge zurückversetzt. Was warst du doch für ein schmucker Rebell - der Bilderstürmer des ADC Theatre und der Film-Society! Diese Anti-Vietnam-Demonstrationen, die du organisiert hast - eine aufregende Zeit!
Doch 1967 war wohl ein tragisches Jahr für dich. Ich möchte dich wirklich nicht bedrängen, aber es wäre enorm hilfreich für mich, mehr über diesen Sommer in der Abtei zu erfahren; das schrieb ich dir, glaube ich, auch schon in einen früheren Brief. Ich bin gerade dabei, meinen Einführungstext für den Ausstellungskatalog fertig zu schreiben, und finde, dass er vorallem im biographischen Teil noch große Lücken aufweist. Du weißt bestimmt, das Lucas niemals Interviews gegeben oder öffentlich über seine Arbeit gesprochen hat. Seine Vergangenheit bleibt ein Buch mit sieben Siegeln - und ich akzeptiere das selbstverständlich. Er hat mir allerdings nicht untersagt, meine eigenen Recherchen anzustellen und mit anderen darüber zu sprechen, und auf diesem Wege ist es mir gelungen, interessantes Material über die Zeit nach den 70ern zu erschließen. Zwei seiner Exfrauen haben mir - zu meinem eigenen Erstaunen - erhellende Informationen über ihre Porträts gegeben.
Aber wenn ich versuche, an Hintergrundinformationen über die Schwestern Mortland zu kommen, ziehe ich immer wieder Nieten, was ich enorm frustierend finde. Das Bild ist ein Schlüsselwerk in Lucas´Opus, er ist damit berühmt geworden, und es hat die Betrachter immer sehr gefesselt und beschäftigt. Wie du sicher weißt, hat sich auch die akademische Welt eingehend damit befasst. Das Bild ist auf vielerlei Weise interpretiert worden, doch meiner Ansicht nach ist noch nirgendwo die eigenartige Ausstrahlung und die starke Kraft des Bildes ausreichend erklärt worden. Es wurde auch Objekt von spekulationen der niedrigsten Art. Unter den gegebenen Umständen ließ sich solcher Klatsch nicht vermeiden. Ich brauche wohl nicht extra zu erwähnen, dass ich mich von dieser Art von Erwägungen selbstverständlich fern halte.
Ich habe mit den anderen Leuten gesprochen, die sich in jedem Sommer in der Abtei aufhielten (Lucas ist übrigens im Bilder darüber). Der Großvater weilt nicht mehr unter den Lebenden - was bedauerlich ist, denn er scheint ein vergnüglicher alter Knarbe gewesen zu sein, wenn auch vielleicht nicht gerade der Hellste. Stella Mortland hätte mir gerne geholfen, doch sie mochte nicht über die Zeit damals sprechen, die nach wie vor zu schmerzhaft für sie ist. Ich habe sie kurz getroffen und fand sie sehr schwer einschätzbar; sie machte einen gehetzten, verschlossenen Eindruck auf mich - von diesem Schicksalsschlag wird sie sich wohl niemehr erholen, fürchte ich. Doch es war recht unfreundlich, dass ich bis nach Cornwell (sie lebt mit einem Maler bei St.Ives) fuhr, um dort höflich abgewiesen zu werden. Das hätte sie mir auch am Telefon sagen können, und sie hätte mir auch unbedingt den Anblick der grässlichen Klecksereien ihres Liebsten ersparen können. Sie war rührend bemüht darum, sie mir zu zeigen, und ich fürchte, sie gab sich der Vorstellung hin, ich könnte "etwas für ihn tun". Wie du dir sicher denken kannst, flüchtete ich so rasch wie möglich.
Mit Nickolas Marlow habe ich auch gesprochen. Er ist ja ein sehr angesehener Arzt, und seine professionelle Einschätzung der Ereignisse damals wäre mir sehr wertvoll gewesen. Doch er meint leider, das man daran nicht mehr rühren soll, und er hatte aufgrund seiner vielen Verpflichtungen auch keine Zeit für ein Treffen.
Julia Mortland (diese Frau ist eine force de nature!) hat mich unterstützt, allerdings bin ich mir nicht sicher, wie verlässlich sie ist. Ihre Schwester - nun, sagen wir einfach, ihre Schwester war nicht gesprächsbereit.
Damit bleibst mir nur du. Du hast eine besondere Stellung inne, da du alle drei Schwestern von Kindesbeinen an kanntest. Du standest Lucas nahe und warst in der Abtei sowohl ein In - als auch ein Outsider - du gehörtest dazu, hattest aber auch Abstand zum Geschehen. Deshalb war ich schon immer der Überzeugung, dass deine Einschätzung treffender sein würde als die aller anderen. Ich würde dich gerne zum Mittag - oder Abendessen treffen, um darüber zu sprechen. Du könntest dich auch darauf verlassen, das ich nichts Indiskretes veröffentlichen würde, du könntest darüber selbst bestimmen. Mir geht es einzig und allein darum, Hintergrundinformationen zu diesen außergwöhnlichen Zeichnungen und zu Die Schwestern Mortland zu erarbeiten, was ich für eine von Lucas´herausragendsten Arbeiten erachte.
Mir liegt nichts daran, weiter darüber zu spekulieren, ob der Sturz ein Unfall oder Vorsatz war. Ich habe auch kein Interesse daran, mich mit den Liebesangelegenheiten zu befassen. Darüber ist schon genug geklatscht worden. Die Leute sind offenbar höchst fasziniert von der Beziehung von Lucas zu den Schwestern, doch ich bin der Überzeugung, dass mich das nichts angeht. (Obwohl ich gestehen muß, das ich mich der Faszination nicht ganz entziehen kann - sie sind besondere Wesen, nicht wahr?)
Nein, was ich bräuchte, wären deine Eindrücke von der Abtei, von Luca´s Arbeitsweise, von den Mortlands und so fort. Wenn du mir einen Einblick verschaffen könntest in das, was ich als "Gruppendynamik" bezeichne, wäre das enorm wertvoll für mich. Hilfreich wäre auch eine präzisere Zeitzuordnung. Wenn ich das Recht verstanden habe, begann Lucas mit der Arbeit an den Zeichnungen und an dem Porträt Mitte Juni, als du mit ihm in der Abtei ankamst. Im Juli stellte er die Zeichnungen fertig und fuhr am 21. für ein paar Tage nach Cambridge. Bei seiner Rückkehr arbeitete er konzentriert an dem Porträt, das er dann Anfang August vollendete und der Familie zeigte, eine Woche vor der Tragödie.
Diese Zeitablauf war wasser auf die Mühlen der feministischen Kritik; diese Frauen sind wirklich eine Plage. Da wurde behauptet, das Porträt habe wie ein Katalysator gewirkt und die traurigen Ereignisse dieses Sommers erst ausglöst - derlei Idiotien, versteht sich, vom radikaleren Flügel der Schwesternschaft. Ich habe keinerlei Verständnis für solche Argumentationen. Allein die Formulierung "der männliche Blick" ist für mich schiere Heuchelei. Dennoch muß man damit rechnen, dass die Ausstellung erneut derartige Kontroversen auslösen wird, weshalb ich froh wäre, diese Spekulationen ein für allemal aus der Welt schaffen zu können. Ein besseres Verständnis der zeitlichen Abfolge der Geschehnisse wäre dabei äußerst hilfreich.
Wenn ich Lucas nach exakten Daten frage, weicht er aus, wie es eben so seine Art ist, weshalb jede Bestätigung oder Ergänzung von dir unschätzbar wertvoll für mich wäre. Ich frage mich, ob du vielleicht zufällig Tagebuch geführt hast?
Oder von jemanden weißt, der eines hatte?
Verzeih mir all diese Fragen. Ich will deine Zeit nicht länger in Anspruch nehmen. Doch es war sehr aufregend für mich, diese Zeichnung von Lucas in Händen zu halten, und ich bin seither auch noch entschlossener, all diese Rätsel zu lösen.
Bitte melde dich. Es sind nun neun Monate vergangen, seit ich zuletzt von dir gehört habe, und es erweist sich als nahezu unmöglich, dich aufzuspüren. Ich hoffe zuversichtlich, dass es dir gut geht.
Herzliche Grüße
Jonathan
18. Dezember 1990, Brief von Nickolas Marlow, Duncan Terrace, London N1, an Daniel Nunn, 29 The Street, Wykenfield, Suffolk
Lieber Dan,
gerade habe ich vom Tod deines Vaters gehört - das war ein schwerer Schock für mich, und ich bin sehr traurig. Er war ein wunderbarer und gütiger Mann, einer der Säulen meiner Kindheit, und ich habe ihn immer tief verehrt und bewundert. Ich wußte nicht einmal von seiner Krankheit. Ich hatte letzte Weihnachten von ihm gehört - wir schrieben uns immer Weihnachtskarten -, und als ich zum letzten Mal in Suffolk war, habe ich ihn besucht, aber das ist schon Jahre her. Es fällt mir schwer, dorthin zu fahren - zu viele Erinnerungen. Nun wünschte ich, ich hätte ihn nocheinmal besucht. Er war so stolz auf dich, Dan, er war ein Bindeglied zu unserer Vergangenheit und so ein großartiger Mensch. Wykenfield ohne ihn mag ich mir gar nicht vorstellen.
Ich habe es folgenermaßen erfahren: Meine Eltern haben das alte Pfarrhaus verkauft, als mein Vater in den Ruhestand ging, erinnerst du dich? Sie leben noch immer in dem Haus, das sie sich in Irland gekauft haben, aber meine Mutter hält Kontakt zu einigen ihrer alten Freunde in Wykenfield. Sie hat von Angus McIvers Witwe Flora vom Tod deines Vater gehört und mich sofort angerufen. Sie sagte, du seist seit Mai in Wykenfield und hättest in den vergangenen sechs Monaten deinen Vater gepflegt.
Dan, ich wünschte inständig, du hättest mir Bescheid gesagt - warum hast du das nicht getan? Lucas und ich und all unsere Freunde in London machen uns nun seit einem Jahr Sorgen um dich. Im einen Monat warst du in Tokio, im nächsten warst du wie vom Erdboden verschluckt. Und nun erfahre ich, dass du gar nicht im Ausland warst, wie alle glaubten, sondern in Wykenfield - wo dich keiner vermutet hätte.
Du hast gewiss eine schlimme Zeit hinter dir. Flora McIver sagte, dein Vater habe Krebs gehabt - mehr weiß ich nicht. Warum hast du mich nicht angerufen, Dan? Du weißt, das ich spezialisiert bin auf Krebserkrankungen. Ich hätte ihm auch helfen können, wenn keine Behandlung mehr möglich gewesen wäre, und das hätte ich sofort getan, das kannst du doch wohl nicht bezweifelt haben? Ich hätte auch zur Beerdigung kommen wollen. Das ich nicht da war, schmerzt mich mehr, als ich sagen kann - Finn geht es genauso. Sie hat heute zufällig angerufen, und ich habe mit ihr darüber gesprochen. Ich dachte, sie wüßte Bescheid - ich war sicher, dass du sie angerufen hättest, aber sie ist wohl sehr schwer zu erreichen, weil sie so viel unterwegs ist. Sie war sehr vertsört und läßt dir liebe Grüße ausrichten. Wie ich verehrte sie Joe und fand die Vorstellung furchtbar, dass du das alles allein durchstehen mußtest.
Dan, irgendwas läuft schrecklich schief, nicht wahr? Und auch schon vor Beginn der Krankheit deines Vaters, oder? Mir sind diverse Gerüchte zu Ohren gekommen, die Julia in den Fernsehsendern aufgeschnappt hat. Es heißt, es hätte eine Art Umsturz in deiner Agentur gegeben. Es heißt, du seist krank gewesen oder hättest eine Art Zusammenbruch gehabt. Sie reden viel Blödsinn, den ich nicht beachte. Du bist mein bester und ältester Freund. Ich möchte, dass du selbst mir erzählst, was los ist und wie ich dir helfen kann, falls du Hilfe brauchst.
Lucas behauptet, deine Probleme fingen an, als es zum ersten Mal um diese verfluchte Retrospektive ging. Er meint, das hätte Erinnerungen an den Sommer in der Abtei ausgelöst. Er glaubt, dass du dir immer noch die Schuld an dem gibst, was Maisie zugestoßen ist. Ich weiß nicht, wie du auf so eine Idee kommen kannst. Du hattest keinerlei Schuld daran, keiner von uns - wir haben nur einen Fehler gemacht: den gefährdeten Zustand eines Menschen nicht zu bemerken.
Nun, das wird mir kein zweites Mal passieren. Du hast drei Tage, um diesen Brief zu beantworten. Wenn ich bis dahin keine Antwort von dir habe, komme ich nach Wykenfield und suche dich.
Ein letzter Gedanke - ich will noch zum Briefkasten. Als ich dich zum letzten mal getroffen habe, hast du morgens Pillen zum wachwerden und abends Pillen zum einschlafen genommen. Ich habe dich damals schon davor gewarnt. Wenn du die immer noch schluckst, dann hör jetzt damit auf. Und auch mit anderen Sachen, die du womöglich außerdem nimmst.
Wenn du das nicht hinkriegst, helfe ich dir dabei.
Nick
19. Dezember 1990, Brief von Daniel Nunn, 29 The Street, Wykenfield, an Nickolas Marlow, London N1
Das war ein guter Brief, Nick, und ich weiß ihn zu schätzen. Früher fand ich das Wort "schätzen" blöde - hörte sich so nach Geldwaage an. Aber in den letzten Monaten habe ich die Bedeutung dieses Wortes erst richtig verstanden. Jetzt weiß ich alles zu schätzen - und es ist zu spät dafür. Ich habe meinen Vater jeden Sonntagabend angerufen, aus allen Ecken der Welt. Ich habe ihn gefragt, wie es ihm geht, und er sagte immer, >>ich kann nicht klagen<<. Geklagt hat er auch nie, über nichts - nicht über den Tod meiner Mutter, nicht über die fünf Jahre, die er sich um Bella kümmerte, nachdem sie Alzheimer bekam, die ganze Schufterei für einen Hungerlohn, die Bruchbude, in der er sein Leben zubringen mußte und die ihm nicht einmal gehörte, nachdem er fünfzig Jahre lang Miete dafür bezahlt hatte. Er hat auch nicht geklagt über den Sohn, der sich seiner schämte und nur darauf gewartet hatte, abzuhauen von zu Hause. Und er klagte auch nicht übers Sterben.
Er hielt es einfach aus. Das macht mich wirklich fertig. Ich breche in den sonderbarsten Momenten in Tränen aus. Beim Begräbnis habe ich nicht geweint, aber angesichts einer Cornflakes-Packung im Supermarkt in Deepden am nächsten Tag - wieso? Es ist schwierig für mich, das zu begreifen, aber ich trauere um Joe. Ich beweine meine Fehler. Und - ja, du hast Recht - ich trauere auch um Maisie. Ich weiß nicht einmal genau, warum, ich schaue einfach zurück in diese scheiß Vergangenheit. Das ist letztlich unsinnig, ich weiß, aber ich bin zur Zeit in keiner guten Verfassung, deshalb möchte ich dich bitten, mich jetzt nicht zu besuchen.
Ich muß eine Weile allein sein. Bitte erlaube mir das. Die McIvers - Flora und ihr ältester Sohn, Hector, du erinnerst dich sicher an ihn - haben sich rührend um Dad gekümmert und nehmen sich derzeit auch meiner an. Sie sagen, ich brauche das Haus noch nicht auszuräumen und kann gerne noch eine Weile hier bleiben. Im Moment kann ich die Vorstellung nicht ertragen, Dads und Bellas Sachen durchzusehen. Ich habe immer wieder versucht, Dad zum Umziehen zu bewegen - ich wollte ihm ein Cottage im Dorf kaufen, und vor ein paar Jahren hätte sich die Gelegenheit ergeben -, doch er wollte nichts davon hören. Hier hat sich also nichts verändert, alles ist noch genauso, wie du es erlebt hast: die Fotos von Ocean, die Tarot-Karten, Joes Urkunden vom Pflügen - im Küchenregal stehen sogar noch neun Kristallkugeln. Wenn ich die anschaue, weiß ich nicht, ob ich lachen oder heulen soll. Ich bin offenbar unbeleckt geblieben von der Hellsichtigkeit: ich bin scheiß blind durch mein Leben getaumelt. Es ist nicht leicht, sich hier zwischen diesem ganzen Nippes und Krimskrams aufzuhalten, der für anderen Menschen bedeutungslos ist - nur für mich nicht.
Ich bleibe also vielleicht vorerst hier und nehme das in Angriff, oder ich komme für eine Weile nach London und gehe dann hierher zurück - ich weiß es im Moment noch nicht. Aber ich nehme mir deinen Rat zu Herzen: Ich habe die ganzen Muntermacher weggeschmissen. Ich gebe dir mein Wort, ich hab den ganzen Plunder in den Mülleimer gefeuert, und es war tatsächlich nicht mal so schwer, weil ich schon seit Monaten versucht habe, davon runterzukommen.
Ich komme dich bald besuchen. Ich werde mich melden. Es tut mir Leid, dass ich nichts habe hören lassen, aber auch du hättest nichts ändern können. Keiner hätte etwas ändern können - die Krankheit war zu weit fortgeschritten. Es war nur noch eine Frage der Schmerzbekämpfung. Es würde mir gut tun, dich zu sehen, Nick, und mit dir zu reden, wie früher. Ich möchte über Dad sprechen - ich möchte über Maisie sprechen, wie es passiert ist, warum sie es getan hat. Ich möchte über den Sommer sprechen, in dem alles kaputtging. Ich habe das Gefühl, dass noch irgendwo eine Wahrheit zu finden ist, die wir alle übersehen haben. Und du könntest mir vielleicht dabei helfen, sie zu finden. Erinnerst du dich noch an den Tag, an dem wir Blutsbrüder geworden sind? Ich war etwa sechs Jahre alt, und du mußt acht oder neun gewesen sein, und wir hatten im Teich bei der Abtei geangelt. Du wolltest Barsche fangen - es gab viele Barsche dort. Ich hoffte auf einen Hai. Plus ca change ...
denke ich manchmal.
Sag Finn liebe Grüße, wenn sie mal wieder anruft, ja? Und grüß deine Familie - Fanny, die bestimmt jetzt schon erwachsen ist, und den kleinen Tom - erinnert er sich noch an mich? Ich denke oft an euch, an dich.
Alles Liebe für dich, Nick,
von deinem wahrhaft dankbaren Blutsbruder
Dan