Beiträge von BaBy2oo4

    Kapitel 13
    Im Palazzo Julia





    [B]Im Obergeschoss schimmert goldenes Licht; die Haustür ist schwarz lackiert und mit einem glänzenden Messingtürklopfer in Form eines Delphins versehen worden und - kann das wahr sein? Doch, es ist so: Vor den Fenstern hängen Blumenkästen. Es hat sich also einiges verändert, seit ich zum letzten Mal hier war - was nicht allzu erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass ich hier Hausverbot habe, und das seit wann?[/B]





    Neun Jahren. Das weiß ich ausnahmsweise genau. Vor neun Jahren war ich zum letzten Mal hier, bei der Tauffeier für Nicks und Julias zweites Kind, ihren Sohn Tom. Ich bin sogar Toms Pate (eine mutige Entscheidung von Nick, die auf heftigsten Widerstand von Julia stieß). Finn ist seine Patin.





    Neun Jahre. Finn mußte damals direkt nach der Feier beruflich ins Ausland, und seit damals habe ich sie nicht mehr gesehen. Zu Weihnachten schickt sie mir immer eine Karte. Auf der von letztem Jahr war ein Rotkehlchen zu sehen.





    Ich warte auf der Treppe, während Nick den Taxifahrer bezahlt. Der Motor tuckert, und ein sonderbarer blauer Dunst hängt über dieser mittlerweile sehr angesagten Gegend von Islington: du cóte de chez Nick. Wilkommen im Palazzo Julia.





    Als Nick die Tür aufschließt, höre ich, das oben jemand Geige übt, die Tonleiterin rauf und runter. Ein Hund bellt zur Begrüßung, auch im Obergeschoss, läßt sich aber nicht blicken. Tom habe ich zuletzt gesehen, als er fünf war. Nick hatte dieses Treffen arrangiert, wie alle anderen auch, und wir gingen zusammen in den Zoo.





    Wir mußten so tun, als seien wir uns zufällig begegnet, falls Spitzel-Julia dahinterkam, wer ihren Sohn ein Eis gekauft und mit ihm und seinem Papa den Pinguinen zugesehen hatte. Seither habe ich mein Patenkind nicht mehr zu Gesicht bekommen, obwohl ich Tom sehr gerne mag. Er ist ein melancholischer kleiner Bursche, Dinosaurierexperte - früher habe ich ihm ständig neue Saurier geschenkt, nach denen ich ganz London absuchte.





    Vier Jahre lang habe ich ihn nicht gesehen, und daran wird sich auch jetzt nichts ändern. Er ist mit seinem Kindermädchen oben und muß bestimmt gleich ins Bett; Nick wird hochgehen, um ihm gute Nacht zu sagen, ich soll in der Küche auf ihn warten. Er kann mir nicht in die Augen schauen, als er das sagt. Wir stehen unbehaglich in der Diele herum.





    Nick tut mir Leid - und ich nehme ihm das nicht übel. Ich möchte nicht, dass er wegen mir Schwierigkeiten hat, und wenn Julia dahinterkommt, dass ich hier war, bricht die Hölle los. Außerdem habe ich eine lebhafte Vorstellung davon, wie ich aussehe. Wie ein Stadtstreicher oder ein Irrer ... Tom würde nur einen Schreck bekommen. Nein, ich sollte mich lieber nicht blicken lassen.


    Ich weine ein bisschen - das passiert mir öfter, ich bin daran gewöhnt, kein Grund zur Sorge. Dann dämmere ich weg und komme an der Euston Road wieder zu mir. Ich erkundige mich, wo wir hinfahren.





    "Du kommst mit mir nach Hause", erklärt Nick. "Ich werde Dir was zu Essen machen und versuchen, dich zur Vernunft zu bringen."





    "Zu dir nach Hause?" Das ist eine Katastrophe. Ich habe den Türgriff schon in der Hand. "Kommt nicht in Frage. Das soll wohl ein Witz sein. Lass mich raus hier."
    Nick seufzt. "Es ist okay", sagt er und klingt dabei entsetzlich müde. "Julia ist nicht da."
    "Ehrenwort?"
    "Ehrenwort! Sie kommt frühestens um zwölf zurück. Sie ist bei irgendeiner Preisverleihung."



    -geht noch weiter-neues Kapitel-;)


    Mein Gehirn erstellt im Nu ein Abbild des labyrinthischen Inneren der Abtei, überprüft noch einmal die Position der Schwestern auf dem Gemälde und stellt zum ersten Mal fest, dass jenes irreale Licht, das auf dem Haar der Mädchen schimmert, von einer Quelle stammt, die ich kenne. Es fällt durch eines der Fenster in der Marienkapelle. Durch das mittlere Fenster, genauer gesagt: das Fenster, unter dem ich geboren wurde. Das Fenster, durch das meine Mutter - wenn man Bella glauben schenken kann, was man vermutlich nicht tun sollte - zum letzten Mal in ihrem Leben in die Welt hinausblickte, nur um dort etwas Grauenvolles zu sehen.





    Das Fenster, in dem Maisie stand, bevor sie zehn Meter in die Tiefe sprang oder ausrutschte - oder, das sollte man vielleicht auch bedenken, womöglich hinuntergestoßen wurde.
    "Was ist damals passiert? Ich muß es wissen -", sage ich laut.





    Zumindest glaube ich das, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, denn die Moleküle in der Luft scheinen sich ganz plötzlich jeglichen physikalischen Regeln zu widersetzen und wild durcheinander zu rasen, sodass die Luft in der Galerie Wellen schlägt. Ich erhalte einen ganz persönlichen Ausblick auf die Chaostheorie, kann sehen, wie sich das Universum auflöst.





    Nicht berühren. Treten Sie zurück, höre ich und fahre herum. Der Aufseher in Uniform kommt rasch näher, und er wirkt gar nicht erfreut, sondern äußerst aufgebracht. Er sieht rot und gereizt aus - komische Sache - je schneller dieser Neandertaler auf mich zuläuft, desto weniger kommt er voran. Er weicht vielmehr immer weiter zurück, scheint in einem düsteren Tunnel zu verschwinden, und das mit rasender Geschwindigkeit. Und in dem Augenblick, in dem mir bewußt wird, dass es höllenartig heiß ist in diesem Raum und ich aus dieser Hitze in eine kühle, dunkle, verheißungsvolle Leere versinken will, spüre ich, wie Nickolas Marlow, Arzt und Sohn eines Arztes, mich am Arm packt und davon abhält.






    Als Nächstes befinde ich mich draußen, in einer schwankenden Stadt auf unsicherem Boden, und atme hastig Auspuffgase ein. Ich sitze auf dem Rasen, den Kopf zwischen den Knien; Nick hält meinen Aktenkoffer und beugt sich über mich.





    Ich richte mich auf; ich will ihm unbedingt schnell alles erklären. Die Worte lassen sich leider nicht in die richtige Reihenfolge bringen, weshalb ich möglicherweise etwas hysterisch klinge, aber ich glaube, "Marienkapelle" und "Hagioskop" schaffe ich gerade noch. Bei "Perspektive" bleibe ich hängen, aber "Selbstmord?" bringe ich noch hervor.





    Dann halte ich inne, denn mir wird allmählich bewußt, wie Nick mich anschaut. Er wirkt leicht peinlich berührt, besorgt, beunruhigt und trotzdem ärgerlich. "Langsam einatmen", sagt er. "Gehts dir besser? Großer Gott, was für ein Zeug hast du dir reingezogen, Dan? Wann hast du zuletzt geschlafen? Oder was gegessen?"
    "Weiß ich nicht mehr."
    "Denk nach."
    "Ich erinnere mich an ein Kebab. Mit Chilis. Und Zwiebeln."
    "Vor kurzem?"
    "So ungefähr. Vor fünf Tagen? Sechs? Einerlei. Hör zu, Nick, das ist wichtig ..."





    Nick hört nicht zu, obwohl ich ihn am Sakko packe und auf ihn einrede. Er inspiziert meine Augen - will warscheinlich sehen, ob die Pupillen erweitert sind -, und was er dort sehen kann, scheint ihm nicht zu gefallen. Er hebt den Arm, und im Handumdrehen sitzen wir in einem Taxi.



    -geht noch weiter-


    Schau genau hin, sagt die Stimme ein letztes Mal, und ich gehorche ihr, obwohl ich Unruhe hinter mir spüre. Ich trete ganz dicht an das Bild heran, so dicht, dass ich die Adern auf der Haut erkennen kann und die Pinselstriche der Luft.





    Und jetzt - offenbart sich das Bild. Diese scheinbar abstrakten Umrisse ergeben plötzlich Sinn: Ich erkenne sie. Dieser dunkle gefleckte Farbklecks im Vordergrund links, beispielsweise, kommt der mir nicht bekannt vor? Dieses unheinliche schlangengleiche Ding in den Schatten hinter Finn, diese Gestalt, die den Kritikern Rätsel aufgegeben hat - weiß ich nicht, wo sie hingehört? Und diese drei schwebenden verschwommenen Kugeln über den Köpfen der Schwestern, die von der Kritik als Monde gedeutet wurden, ein Dreigestirn, für immer fixiert in der Galaxie der drei Schwestern - nein, das sind keine Monde, das ist nichts Fantastisches.





    Was ich vor mir sehe, ist ein Ort - ein Ort, den ich mit verbundenen Augen erkennen würde. Der gefleckte Kleks ist ein Löwenfell. Das schlangengleiche Etwas ist ein geschmackloser Tisch, den einen der vielen Mortland-Onkel zur Zeit des Kolonialismus auf einem Markt in Kalkutta erstanden hat. Und bei den drei Monden handelt es sich um die Elfenbeinkugeln, die mich als Kind so sehr faszinierten, dass ich sie gerne selbst besessen hätte.





    Schau genau hin, dann bist du in der Bibliothek der Abtei. Dann bist du in der Marienkapelle. Oder, noch präziser: Du blickst in diesen Ort durch Bellas Wunderding, das unfromme Hagioskop, diese Öffnung in der Wand in Augenhöhe eines Mannes, in einem Gebäude, in dem ausschließlich Frauen lebten.





    Und zwar religiöse Frauen. Das ist sonderbar, und vielleicht läßt sich damit erklären, weshalb die Schwestern nach oben zu blicken scheinen und dieses instabile Schwindelgefühl das Gemälde bestimmt. Voyeurismus wurde in der Kunstkritik auch erwähnt bei der Interpretation - und doch hatte Lucas meines Wissens keine Kenntnis von dem Hagioskop. Er hielt sich nur selten in der Abtei auf und interessierte sich weder für die Geschichte noch für die Architektur des Gebäudes. Ich habe ihn nie dort Skizzen machen sehen - er hat immer nur draußen oder im Refektorium gearbeitet.





    Und als wir uns schließlich alle an dem denkwürdigen Tag, als er das Gemälde enthüllte, im Refektorium einfanden, erwähnte er weder die Bibliothek, die Marienkapelle noch das Hagioskop, da bin ich ganz sicher. Oder doch nicht?





    "Wo hast du uns da hingestellt? Wo sind wir denn da?", fragte Maisie und brach damit das lange Schweigen. Es stank nach Terpentin.
    "In meine Fantasie", antwortete Lucas freundlich. "Und da werdet ihr auch bleiben", fügte er hinzu.





    Jemand muß ihm das Hagioskop gezeigt haben, denke ich jetzt. Wer, warum und unter welchen Umständen? Und dann, vergib mir Nick, setzt die Wirkung der diversen Substanzen tatsächlich ein, und mein Kopf geht ab wie eine Rakete. Mann, ist das schnell. Wie ein Greyhound, wie ein Bluthund, rase ich im Geiste Treppen hinauf, durch Flure und Vorzimmer, verfolge den Geruch dieses Sommers.

    Cyber19: Nein, es ist gar nicht dumm, ich finde es schön! Wenigst einer, der sich freut *fg* Glaub mir, es wird noch besser, auch wenn zwischendurch meist langweilige Passagen kommen, danach wirds meist interessant und so setzt sich alles wie ein Puzzle zusammen. *gg*


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    Doch bei Ihr hätte er kein leichte Spiel gehabt, denke ich und drehe mich zu dem Bild Die Schwestern Mortland um, als ich an die Maisie denken muß, wie ich sie kannte; die Maisie, die man nicht begreifen konnte, indem man sie als "absonderlich", "autistisch" oder "nicht richtig im Kopf" bezeichnete, wie sie es im Dorf gerne taten. Maisie war wie eine Landmine, eine tödliche Falle auf einem Schlachtfeld, eine alte Gerätschaft, die jederzeit explodieren konnte; die Maisie, die ich für unschuldig hielt und die in Wirklichkeit gefährlich war.





    Ich blicke in die undurchdringlichen grünen Augen, und wir starren einander an. Jahrzehnte sind wie verflogen, und genau in diesem Moment (Nick behauptet später, dass das Koks zu wirken begann) wird mir klar, dass dieses kleine verlorene Mädchen aus dem Rahmen entkommen möchte, in dem Lucas es eingesperrt hat, und dass es mir etwas erzählen will.





    Ich bewege mich rasch auf das Bild zu, wobei ich noch merke, dass Nick irgendwo rechter Hand aufsteht und etwas sagt - das wir gehen sollten, warscheinlich. Aber ich kann nicht stehen bleiben und ihm zuhören oder ihn auch nur kurz ansehen und auch den Aufseher nicht, der aufspringt.





    Nein, ich muß mich ganz und gar auf Maisie konzentrieren, auf das, was sie mir sagen und zeigen will. Schau genau hin, sagt eine vertraute Kinderstimme, und nein, ich bilde mir das nicht ein, ich habe nicht irgendeine Halluzination, es fühlt sich ganz anders an, als wenn ich aufgrund von Drogen, Alkohol und Verzweiflung irgendwelche Dinge sehe, die nicht da sind. Schau genau hin, sagt die Stimme, schau genau hin.





    Und das tue ich. Ich betrachte Maisie. Sie trägt das blaue Kleid, hält die winzige Schere in der Hand, die man kaum sieht. Maisie, in der Mitte des Bildes, ist auch der Quell von dessen Dynamik; man kann förmlich die Spannung zwischen ihr und ihren Schwestern spüren. Finn hält sie an der Hand, Julia umklammert ihre Schulter; der Himmel hinter ihnen leuchtet. Die drei verströmen eine unsichtbare Kraft, eine elektrische Spannung, die Funken schlägt und die auch mich erfasst.





    Das Bild erzeugt Unruhe, weil es modern und alt zugleich ist. Ich kann mich bemühen, es distanziert zu betrachten, in die Hymnen und Referenzen der Kunstkritik einzustimmen: Les Desmoisel les d´Avignon, Die Öffnung des fünften Siegels. Ja, wenn ich versuche, mit deren Augen zu sehen, erkenne auch ich die Anspielungen und Zitate; ich bemerke, dass die Pose der Schwestern an Botticellis Grazien erinnern - doch das ist bedeutungslos für mich. Drei Grazien, drei Schicksalsgöttinnen, drei Sybillen, drei Hexen: Mir fällt auf, das alle drei Schwester den Betrachter anblicken und ihr Kopf zugleich leicht nach oben geneigt ist, als sähen sie dort etwas anderes.





    Das verleiht dem Gemälde eine irritierende Perspektive, macht es schwindelerregend wie die Bilder von El Greco. Ich beschäftige mich mit dem Hintergrund, der eigentlich nicht wirklich erkennbar ist, ein Zimmer sein könnte, doch ich ging immer davon aus, dass es sich dabei um ein postmodernes Nirgendwo handelt, eine unheimliche Verdichtung dieses Ödlands des zwanzigsten Jahrhunderts.





    Diese angedeuteten gezackten wirren Umrisse entziehen sich der Interpretation, doch dahinter kann ich nichts erkennen. Was sich mir jedoch deutlich vermittelt, ist die rätselhaft bedrohliche Ausstrahlung von Lucas´Werk. Ich versuche, diese sonderbare Perspektive, diesen verfremdeten Realismus, diese Endzeitstimmung zu begreifen. Etwas Gewaltiges steht hier bevor, scheint das Bild zu schreien, doch ich bin nicht sicher, ob es ein freudiges oder ein grauenvollen Ereignis seien wird. Wo schauen die drei Schwestern hin? Sehen sie eine Widerauferstehung oder das Ende der Welt?


    An der Wand hinter Nick hängen einige von Lucas´späteren Arbeiten. Seine berühmten Spätwerke. Ich mag sie nicht. Das Licht ist gnadenlos und sein Blick auch. Zwei seiner Ehefrauen, diverse seiner Geliebten. Alle sehen bleich und blutleer aus, als hätte Lucas aus Transsylvanien sich an ihrem Hals festgebissen, ihnen das Blut ausgesaugt und - wenn er nur noch einen schwachen Puls spürte - sie in ihren letzten Zuckungen gemalt.





    Sie sind erbarmungswürdig reglos. Man merkt, dass der Tod sie ganz plötzlich heimgesucht hat. Da lasen sie ein Buch, spielten mit einem Kind, tranken ein Glas Wein, waren mit Sex beschäftigt, als es an der Tür klopfte. Alle einsteigen, sagte eine Stimme, und die Reise, die vor ihnen liegt, sieht man in ihren Augen, diesen fahlen Zombie-Augen, in denen es keine Hoffnung mehr gibt. Und dann liegt in diesen Augen auch noch ein bösartiges Funkeln, als wollten sie uns, den Betrachtern vermitteln, dass wir bald im selben Zug landen werden. Überdies - und das finde ich besonders unangenehm - spürt man auch, dass es keine lange Reise sein wird. Nächste Station Hades - und das war´s dann.





    Tja, besten Dank, Lucas, aber ich werde auf diese Tour verzichten. Ich habe kein Bedürfniss, mir diese ganzen nackten Frauen anzuschauen - Lucas malt fast ausschließlich Frauen. Die Zeichnung von Maisie an der nächsten Wand will ich auch nicht sehen, diese Zeichnungen, auf denen sie so entstellt und verzweifelt aussieht.





    Stattdessen betrachte ich die frühen Zeichnungen von Finn. Finn im Obstgarten, ein reizendes Mädchen, das mit einem Buch in der Hand unter einem Baum liegt, umgeben von Falläpfeln. Finn am Black Ditch, eine Nymphe neben einem dunklen ominösen Gewässer, dem Styx nicht unähnlich. Finn am Nun Wood, Finns Schlaf, Finns Traum. Finn, immer wieder Finn - hier hängen mindestens 15 Zeichnungen von ihr, stelle ich fest. Ich wusste gar nicht, dass Lucas Finn so oft gezeichnet hat, und einen Großteil dieser Bilder habe ich noch nie zu Gesicht bekommen.





    Eine Vielfalt schwarzweißer Finns, die mir vor den Augen zu tanzen beginnen. Wann hat Lucas all diese Zeichnungen gemacht?, frage ich mich. Wann hat er in diesem Sommer die Zeit dafür gefunden? Wo war ich, wenn er daran arbeitete, wenn sie für ihn Modell stand? Ich habe doch in jenem Sommer fast jede Stunde mit ihr verbracht.





    Doch so war es nicht. In diesem Sommer entfernte sich Finn von mir, ging mir verloren. Ich denke: Er ist mein Freund, versuche das zu erklären, Finn. Das scheint ein Satz zu sein, den ich vielleicht einmal gesagt habe, aber ich weiß nicht mehr, ob ich ihn nur gedacht oder auch ausgesprochen habe, und falls ja, unter welchen Umständen. Eifersüchtig war ich dabei, und ich bin es auch jetzt, eifersüchtig und einsam, vor mir eine Vielfalt an Finns, die ich niemals kannte und erahnte, die durch einen Tunnel der Vergangenheit tanzen und sich mir - wie immer - entziehen.





    Auf der letzten Zeichnung, einem Porträt mit dem Titel "Finn zuletzt", überschattet sie die Augen mit der Hand, und sie trägt einen Ehering. Lucas´Ehering - denn verheerenderweise war sie Lucas´erste Ehefrau. Die Zeichnung ist nicht datiert, und auch sie habe ich noch nie gesehen. Ich starre so angestrengt darauf, dass das Bild sich vor meinen Augen in ein Wirrwarr aus Linien und Punkten auflöst und keinen Sinn mehr ergibt. Wann hat Lucas diese Zeichnung gemacht? Als ihre kurze Ehe ein unerfreuliches Ende fand oder erst später? Oder womöglich an ihrem Hochzeitstag? Eine halbe Stunde, nachdem sie aus dem Standesamt in Cambridge kamen, würde ich sagen. "Finn zuletzt". Ja, das kann ich mir vorstellen. Es würde zu Lucas passen, dass er Begrüßung und Abschied in ein Bild fasst. Aber er ist ein talentierter Künstler, ein herausragender vermutlich, und solche Menschen sind sonderbar: Aus dem Unglück, das er im wirklichen Leben anrichtet, zieht er seine Inspiration, doch er bemerkt das Unglück gar nicht; in dieser Hinsicht ist er blind.





    Er hat Finn verlassen; er hat Julia verlassen - mehrmals, wenn man dem Tratsch glauben kann; ihre Begegnungen sind immer nur kurz und richten furchtbaren Schaden an. Lucas hat also zwei von den drei Mortland-Schwestern an Land gezogen, und unter anderen Umständen wäre Maisie in einigen Jahren wohl auch dran gewesen.


    Und dann geht irgendwas schief. Der Wasserhahn lässt sich nicht drehen, und als ich ihn endlich drehen kann, lässt er sich nicht mehr abstellen. Im einen Moment tropft er nur, im nächsten führt er sich auf wie die Niagara-Fälle. Das Licht wird furchtbar grell, dann furchtbar matt, und bevor ich irgendwas tun kann, rasen die ganzen vergeudeten Jahre im Raum umher, heulen in meinen Ohren, verhöhnen mich.





    Also tue ich das, was schon vorher klar war. Ich kann diese Freudlosigkeit nicht ertragen, diese tagtägliche Freudlosigkeit. Davor hat mich keiner gewarnt. In diesen Tonnen von Papier, die ich im letzten Jahr studiert habe zu bislang missachteten und verhöhnten Themen wie Midlife-Crisis bei Männern, Trauer-Schuld-Komplexe, Depression, hat nicht ein einziger Guru, Arzt, Spinner oder Scharlatan die Freudlosigkeit erwähnt.





    Keiner hat beschrieben, wie sie sich über Jahrzehnte herausschlängelt und man sie erst bemerkt, wenn es zu spät ist, wenn sie einen schon im Würgegriff hat und einem die Luft abdrückt. Und natürlich können sie auch kein Heilmittel dagegen vorschlagen - was nichts macht, da ich ja eines in der Tasche habe.





    Mehrere, genauer gesagt. Und um auf Nummer Sicher zu gehen, nehme ich gleich drei davon. Es ist schändlich und entwürdigend, und meine Hände zittern so heftig, dass die Hälfte des Heilmittels in den Niagara-Fällen landet, aber schließlich schaffe ich es. Ich hacke mir die kostbare vorletzte Line vom besten bolivianischen Stoff und ziehe sie mir in die Nase.





    Ich zerkaue zwei Amphetamin-Tabletten und schlucke sie mit Wasser. Ich zünde mir eine Marlboro an und blase ketzerische Qualmwolken Richtung Deckensensor, warte auf die Reaktion: rote Blinklichter, Alarm, Sprinkleranlage, zumindest Auftritt eines Uniformierten, aber - glaubt man´s? Gar nichts passiert. Rein gar nichts.





    Der irre Wasserhahn sprudelt weiter. Die Welt dreht sich.





    Mein Spiegelbild zersplittert und setzt sich neu zusammen. Und dann kommt die Erleichterung, kehrt die Sicherheit zurück, das Gefühl von Hoffnung, das man sich nur mit Hilfe von Chemie verschaffen kann. Hieronimo´s mad again. Mit einem Satz bin ich frei, draußen aus diesem Raum - und wieder in der Galerie.





    Nick hat sich nicht von der Stelle gerührt. Er reagiert auch nicht, als ich wiederkomme - was erstaunlich ist, wenn man bedenkt, wie viele Lichtjahre vergangen sind, wie viele Galaxien ich aufgesucht habe. Einerlei, hier drin gibt es eine Menge zu sehen und zu erfahren, und dank meiner verbesserten Körperchemie und meinen wieder verschalteten Synapsen kann ich das alles mit neuen Augen betrachten.

    Kapitel 12


    Schau genau hin





    Eines möchte ich klarstellen: Alles, was danach geschah, führe ich auf die zwei Minuten und zwanzig Sekunden zurück, die ich in diesem kühlen, stillen, weiß gekachelten Raum zugebracht habe.





    Als ich die Tür öffne und sie hinter mir schließe und sich mir der entsetzliche Anblick meiner Selbst im Spiegel bietet, wird mir sonnenklar, was ich zu tun habe.





    Ich muss ausnüchtern, die Drogen absetzen und dann drogenfrei bleiben. Ich muss das restliche Zeug in den Müll werfen, wie ich es Nick schon vor sechs Wochen versprochen hatte. Ich muss mich wieder in den Griff kriegen. Ich muss mich erneuern. Und ich muss jetzt damit anfangen. Sofort!





    Wenn ich in der Vergangenheit Fehler begangen habe, werde ich mich absofort nicht mehr mit ihnen beschäftigen. Nichts lässt sich mehr rückgängig machen, weshalb es völlig sinnlos ist, wenn ich mich geißele oder durchdrehe oder von einem Chemiebedarf- und Eisenwarenladen zum nächsten renne und mir Stanley-Messer und Paracetamol-Plus und uralte Gilette-Rasierklingen anschaffe. Wem soll das nützen?





    Niemandem, und mir erst Recht nicht. Ich werde also nicht mehr an Finn oder Maisie, an alte Liebe oder alte Schuld, an verflossene Berufsträume, vergeudetes Talent oder den verlassenen Vater denken. Das ist alles so verdammt melodramatisch, und ich will nichts mehr zu tun haben mit diesem Pathos. Ich werde mit neuer Kraft voranschreiten. Ich werde tun, was jeder vernünftige Mensch tut: mich zufrieden geben, mit dem, was ich kriegen kann - anständige Arbeit und Bedeutungslosigkeit.





    Wie sehe ich mich in, sagen wir, fünf Jahren? Das Wort Bürger kommt mir in den Sinn. Ja, ein guter Bürger von Islington, ein Familienvater vielleicht, sofern es sowas noch gibt. Ich sehe es jetzt ganz deutlich vor mir: ein bescheidenes Häuschen in London, ein bescheidenes Cottage auf dem Land, beim Frühstück den Guardian, das umweltschonende Auto, den Komposter. Die Spenden an Oxfam, die zwei Komma vier Kinder, die patente Frau, den Rentenplan; die kurzen Wanderwochenenden, die Drei-Wochen-im-bezaubernden-Ferienhaus-in-Frankreich-Urlaube; der Geruch der Unantastbarkeit, die tröstenden Prinzipien, die Hoffnung auf einen Neuanfang ... oh, das untadelige Leben: Ich kann es kaum erwarten.






    Ich trete ans Waschbecken. Alles is klar, ich habe mich entschieden. Ich bin so entschlossen, ich bin geradezu göttlich.
    Und dann ...



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    Und dann ....???
    Was wird wohl passieren??
    Wird Dan sich wirklich ändern und einen Neuanfang wagen?
    Oder wird er wieder dem alten Leiden verfallen?
    Das alles erfahrt ihr im nächsten Teil...



    Als ich einmal los gelegt hatte damit, gab es kein Halten mehr. Ich schmückte die Geschichten aus ohne Ende, und in dem Sommer in der Abtei, als Lucas das Porträt malte, hatte ich eine perfekte Version meiner Geburt auf Lager. Ich gab sie gerne zum Besten - und eines Abends im Zwielicht erzählte ich sie auch Maisie. Das war ein paar Tage vor dem alljährlichen Treffen in Elde; wir hielten uns alle in der Bibliothek auf. Ich ging mit Maisie zum Fenster und zeigte ihr die Blutflecken von Dorrie auf dem Parkett.





    "Sie hat etwas Furchtbares gesehen?", fragte Maisie stirnrunzelnd. "Die Nonnen? Oder diese drei toten Babys?". Denn ja, man sei mir gnädig, davon hatte ich ihr auch erzählt. "Etwas Grauenhaftes", bestätigte ich. Ich hatte zuviel Wein getrunken. "Es muß etwas ganz Grauenhaftes gewesen sein."
    "Und du bist sicher, dass sie am mittleren Fenster stand?"
    "Ganz sicher. Am mittleren Fenster."





    "An diesem Fenster habe ich dich auch gesehen", erwiderte sie auf ihre sonderbare ernsthafte Art. "Ich war die erste in der Familie, die dich gesehen hat. Am Tag von Daddys Begräbnis, obwohl es natürlich kein richtiges Begräbnis war. "Deshalb sind wir Freunde."
    "Ja", sagte ich. "Genau". Und ich gesellte mich wieder zu Nick, Finn und Julia.





    Drei Wochen später ging Maisie in die Bibliothek, als niemand sich dort aufhielt, öffnete dieses mittlere Fenster, stieg auf das Sims und sprang in die Tiefe. Zehn Meter tief, und sie landete auf dem Steinboden des Kreuzgangs. Einer Theorie zufolge (an die Stella glaubt) sprang sie nicht hinunter, sondern stand auf dem Fenstersims und rutschte aus. Ich sehe das anders. Ich habe sie gefunden. Ich kann den Gedanken daran nicht ertragen.





    "Bin gleich wieder da", sage ich zu Nick und laufe los. "Ich muss nur ... dauert nicht ... " Schnell. Ich bin schon ewig weit entfernt, bevor er was sagen kann.





    "Helfen Sie mir", sage ich zu dem ersten Uniformierten, den ich sehe. Es würde mich nicht wundern, wenn er mich verhaften ließe, aber er ist ein gutherziger Mensch, dieser Bewacher der Galerie. Er nimmt mich am Arm, weist auf eine Treppe, und wahrhaftig finde ich die richtige Tür, nachdem ich noch eine Weile durch die Hölle gegangen bin. Da bin ich endlich allein, Daniel und sein Spiegelbild, dreifach auf der Herrentoilette.

    Cyber19: Vielen Dank! Ich will ja nicht die Spannung nehmen, aber noch in diesem Kapitel erfahrt ihr was mit Maisie gewesen ist. Obwohl ich selbst denke, das es damit noch viel viel viel mehr aufsich hat, aber das weiss ich selbst noch nicht so genau! Und nein, es wird ganz und gar nicht langweilig. Kapitel 12 wird wieder ein wenig anders und darauf freue ich mich schon, dann erfahrt ihr sogar, wie es einer der Schwestern geht, welche verrat ich aber nicht! *gg*


    Und bitte seid mir nicht böse, aber ich wusste nicht was ich für Bilder machen sollte, deshalb kommt gleich ein richtig langer Text... *sorryyy*



    Ich versuche mich am indischen Seiltrick. Ich klettere an der Nabelschnur hoch, um in den Bauch zurückzukommen - und als mir das nicht gelingt, mache ich meiner Empörung darüber auf eine Weise Luft, die Bella mir immer wieder vorgehalten hat. Zuerst klappe ich die Augen auf, klick, wie die Blende einer Kamera. Dann reiße ich dramatisch den Mund auf und lasse mein rosa Zahnfleisch sehen. Mich muß man nicht schütteln oder auf den Rücken schlagen: Ich gebe von selbst einen angstvollen lauten Schrei von mir - nur einen einzigen, was Bella noch nie erlebt hat. Er hallt in dem riesigen Raum dieses riesigen frommen Hauses wider und lässt Bella das Blut in den Adern gefrieren. Übernatürliche Kräfte, sie spürt es augenblicklich. Die Gabe, von Ocean über Bella an mich weitergegeben: Dieses Roma-Baby weiß, dass seine Mutter, die da auf dem Boden liegt, mit Sterben beschäftigt ist. Der Schrei ist Hellseherei. Dieser Kleine weiß, dass er seine Mutter gerade umgebracht hat.





    An diesem Punkt kommt der Auftritt des neuen Dorfeinwohners, der so schnell als möglich, aber zu spät geholt wurde: Dr. Marlow. Er naht in seinem Ford, mit meinem bleichen Vater auf dem Beifahrersitz. Er rast die Treppe zur einstigen Marienkapelle - jetzt Bibliothek - hinauf. Er schneidet die Nabelschnur durch, wickelt mich in Bellas Petticoat und versucht die Blutung zu stoppen. Doch es gelingt ihm nicht. Meine Mutter stirbt schnell und leise - und ich weiß immer noch nicht, wo genau. Ich wußte es nicht, als ich mit sechs Jahren in das Hagioskop blickte, und etliche Jahrhunderte später - mir scheinen es Jahrtausende zu sein -, als ich neben Dr. Marlows Sohn in einer Galerie in London sitze, weiß ich es immer noch nicht.
    Ist Dorrie auf dem Parkett in der Bibliothek verblutet, auf dem Weg ins Krankenhaus in Deepden oder, Stunden später, dort in der Klinik? Ich weiß, dass ich sie getötet habe, aber ich will wissen, wo. Irgendwie würde mir das helfen. Bella sagte mir immer:
    Im Krankenhaus, du Dummerchen. Sie hielt das kleine weiße Gebetbuch in Händen, das ich ihr geschenkt hatte, das mit dem Ledereinband. Und als sie gegangen war, haben Joe und ich ihr das Hochzeitskleid angezogen, das war schlimm für ihn, es ist mir ein Gräuel, einen erwachsenen Mann weinen zu sehen, waren schon als Kinder ein Herz und eine Seele, die beiden, und das Kleid war noch kein Jahr alt, zehn Meter glatter Satin, wir hatten unsere ganzen Bezugsscheine dafür aufgebraucht. Wir haben sie im vorderen Zimmer aufbewahrt, und das ganze Dorf hat ihr die letzte Ehre erwiesen, und als die Mortlands davon hörten - Joe hat ihnen geschrieben -, schickten sie ein Telegramm, das hängt da im Rahmen an der Wand - die arme Dorrie, sie hielt so große Stücke auf die Mortlands, hat sie immer verehrt, ich dachte, es würde ihr gefallen.
    Aber habe ich das geglaubt? Glaubte ich diese Version der Geschichte? Ich habe sie gesucht, Dorrie in ihrem weißen Satinkleid. Ich glaubte, wenn ich alles ausspionierte und in allen Winkeln nach ihr suchte, würde ich sie finden, und sie würde mir berichten, was wirklich geschehen war. Sie würde mir sagen, dass sie mir verziehen hätte. Sie würde mir erklären, warum sie mich verließ. Doch ich fand sie nie - und Bellas Berichte nützten mir nichts. Ich wurde an dem Tag geboren, an dem der zweite Weltkrieg zuende ging - das steht auf meiner Geburtsurkunde. Und meine Mutter Dorrie starb an diesem Tag - das wurde vom Vater meines besten Freundes attestiert, der den Totenschein ausfüllte. Meine Geburt fiel also auf einen historisch bedeutsamen Tag - Geburtstag des Friedens, sagte Großmutter immer, wenn sie mich trösten wollte. Die Messerschmitt war Schuld an ihrem Tod, nicht ich, das dürfe ich nie vergessen. Wenn das Flugzeug nicht gewesen wäre, dann wäre die Geburt normal verlaufen, und Dorrie wäre noch bei mir. Hör auf zu schniefen, sagte Großmutter und kniff mich. Denk doch, Danny, denk doch - wie viele Babys kommen schon auf einem Löwenfell zur Welt?
    Eine nette Mär. Haarspalterische Fragen sollte man sich lieber verkneifen, wie zum Beispiel: Was hatte dieser wildgewordene deutsche Jagdbomber in jedem Mai auf den Feldern von Suffolk zu suchen? Was für ein Interesse sollte Großmutters behelmter Hunne daran gehabt haben, ein neunzehnjähriges hochschwangeres englisches Mädchen, das ihrem Gatten beim Karottensäen zusah, vom Leben zum Tode zu befördern? Was hatte es mit dieser verspäteten Kamikaze-Aktion auf sich? Der Krieg in Europa war vorbei. Und dann gab es auch noch Variationen, wie immer in Bellas Geschichten. Wenn sie mal wieder zu viel Mackeson´s intus hatte, wurde aus der Mister Schmitt unversehens eine Dornier.





    "Ich habe es nachgeprüft", sage ich jetzt, in der stillen Galerie. Zumindest glaube ich, dass ich die Worte ausgesprochen habe, aber vielleicht auch nicht, denn Nick zeigt keinerlei Reaktion, und auch der ältere Aufseher nicht, der am Eingang sitzt. Sonst hält sich niemand hier auf, die Galerie schließt bald.





    Als ich fünfzehn war und aufs Gymnasium ging, habe ich recherchiert. Ich ging ins Archiv der Lokalzeitung und schaute im Schweiße meines Angesichts die Wälzer mit vergilbten Zeitungsartikeln durch. Ergebnis: Meine Vermutungen wurden voll bestätigt. Es gab tatsächlich einen solchen Zwischenfall mit einer Messerschmitt, die auf die Abtei schoss. Es konnte nie geklärt werden, was es damit auf sich hatte; man vermutete, dass der Bomber unterwegs war zum Stützpunkt in Deepden und aus schierer Vernichtungswut auf die Abtei feuerte. Kommt mir nicht sehr warscheinlich vor, diese Theorie. Vielleicht lag dieser Deutsche, der von seiner Staffel getrennt war, in den letzten Zügen; dann kann ich ihn nur bemitleiden. Er starb jedenfalls einen furchtbaren Tod, als sich das Flugzeug ins Acre Field bohrte - aber all das ereignete sich vier Jahre vor Kriegsende, zwei Jahre vor der Hochzeit meiner Eltern, 48 Monate, bevor ich auf das Löwenfell fiel.





    "Ich will endlich die Wahrheit hören", sagte ich zu Bella, als ich aus dem Archiv nach Hause kam. Bella sah mich mit einem ihrer Ocean Blicke an - uralte Weißheit der Roma, Augen, die in die Ferne blicken etc. Ich ließ mich nicht ablenken. "Also los, Großmutter, was ist damals passiert?", frage ich.
    Und sie berichtete haarklein: Doch, es stimmte alles, der Ort, die plötzliche Wehen, das Fenster, Cotter´s Frühkarotten, Löwenfell. Der einzige Zusatz war die Messerschmitt gewesen: Großmutter hatte sie hinzugefügt, als ich noch klein war, weil ich sie ständig mit Fragen belästigte, und in gewisser Weise könnte diese Version auch stimmen, denn als meine Mutter am Fenster der Marienkapelle stand, sah sie etwas.
    Doch was sie sah, wußte auch Großmutter nicht genau. Es mochte der todbrigende Jagdbomber gewesen sein, der vier Jahre später einen Geisterflug startete. Es mochte auch etwas anderes gewesen sein; jedenfalls hatte Dorrie, bei der sich die Gabe noch nie gezeigt hatte, etwas Unheimliches gesehen, etwas, das auch die hellsichtige Bella nicht entdecken konnte und das grauenvoll war. So grauenvoll, das die Wehen verfrüht einsetzten.





    Ich stehe auf. Es ist totenstill in der Galerie. Nick atmet nicht. Ich atme nicht. Ich denke über meine Vergangenheit nach, über meine Schuld. Als Kind tat ich mich schwer mit der Geschichte meiner Geburt; später legte ich mir ein dickeres Fell zu. Ich merkte, dass die Scham und der Schmerz, die ich mit meiner Herkunft verband, verschwanden, wenn ich eine Show daraus machte. In Cambridge kam ich gut an mit meiner Roma-Herkunft, meinen Berichten von Ocean und Bella und dem pflügendem Vater. Sicher, ich war ein Zigeuner, aber ich war nicht blöd: Mir war klar, dass ich niemals dazugehören würde, aber in den Sechzigern hatte man ganz gute Karten, wenn man sein Unterschicht-Image geschickt einsetzte.



    Durch die Zwischendecke, die Großvater Mortland eingezogen hat, sind sie halbiert, aber sie sind immer noch riesig, mindestens viermal so hoch wie ich, oben spitz und mit mütterlichen Engeln verziert. Die Fenster haben einen Bleirahmen und sind so umgebaut worden, dass man sie öffnen kann. Auf dem glatten Steinsims und den beiden Ecksteinen daneben kann ich die berühmten Löcher der Geschosse erkennen.





    Und mit diesen Löchern, die ich gerne berühre, an denen ich abergläubisch reibe und in die ich meine Finger lege, halte ich Einzug in diesem Raum. Mit großer Geste, mittels einer Tragödie. Mit meinen sechs Jahren habe ich schon einen guten Titel ersonnen für dieses Drama. Es heißt: Danny in der Höhle des Löwen.





    Diese Einschusslöcher, von denen es vier auf den Sims und fünf auf den Ecksteinen gibt, stammen von den Gewehren einer Messerschmitt. Das Ganze spielte sich im Frühling ab, während des Krieges. Im einen Augenblick herrschte noch friedliche ländliche Stille, und Großmutter und ihre Tochter Dorrie waren in der Bibliothek der Mortlands mit Abstauben beschäftigt.





    Im nächsten Augenblick hörte man das Dröhnen eines Kampffliegers. Wie ein silbrig glitzerndes Insekt tauchte er auf der anderen Seite des Tals auf - und mein Vater, der sich im Kreuzgang aufhielt, stützte sich auf seinen Spaten. Er blinzelte und versuchte, das Flugzeug zu erkennen. Keine Spitfire, dachte er und bückte sich, um das Samenpäckchen mit Cotter´s Frühkarotten aufzuheben, die er als Nächstes in der Furche aussäen wollte, die er gerade angelegt hatte. Keiner von unseren, dachte er, richtete sich wieder auf, beobachtete, wie das Flugzeug die Größe eines Vogels annahm, höher stieg und näher kam.





    Dann sah er die wespengelbe Spitze und die stumpfen Flügel im Profil. Messerschmitt, dachte er, oder schrie er, als der Flieger über den Obstgärten in den Tiefflug ging; doch falls Vater tatsächlich schrie, hörte ihn niemand wegen des Dröhnens der Motoren, und er konnte nichts tun, außer fassungslos dazustehen und zuzusehen, wie der Flieger das Feuer eröffnete, auf die Südseite der Abtei mit den vielen Fenstern schoss, wo meine hochschwangere Mutter genau in diesem unglückselig gewählten Moment ihren Staubwedel beiseite legte und sich aus dem offenen Fenster lehnte, vielleicht um meinen Vater etwas zuzurufen.





    Mit meinen sechs Jahren stehe ich jetzt am Hagioskop und blicke auf den schicksalhaften Ort des Desasters. Ich weiß, was dann geschah. Ein Wunder nämlich. Dorrie wurde nicht getroffen. Ich wurde nicht getroffen, der ich behaglich im Fruchtwasser vor mich hin dämmerte und die letzten Tage einer ansonsten ruhigen und mühelosen Zeit genoss. Dem deutschen Piloten des Flugzeugs, das Großmutter immer hartnäckig falsch als "Mister Schmitt" bezeichnete, erging es weniger gut. Das Flugzeug legte sich in die Kurve, wendete, versuchte, wieder hoch zu kommen, schaffte es nicht, und weil der Pilot offenbar das Tempo und den Winkel falsch berechnet hatte oder vielleicht auch wegen der Fliehkraft bewusstlos wurde, raste er auf dem Acre Field in eine Herde Kühe. Das Flugzeug, der Pilot und vier Kühe gingen in Flammen auf, und das Feuer brannte zwei Tage lang. Das gesamte Dorf betrachtete das Spektakel, mit Ausnahme von Dr. Marlow, dessen Frau und ihrem kleinen Jungen, die, Großmutter zufolge, ein derartiges Benehmen missbilligten - aber das war nicht anders zu erwarten, sie kamen schliesslich aus Cambridge und waren hochnäsige Zugezogene.





    Ich finde dieses Urteil etwas hart. Man muß schliesslich die Folgen des Angriffs bedenken. Denn was geschah als Nächstes? Dorrie bekam Wehen - zwei Wochen zu früh, durch den Schock ausgelöst, und die Fruchtblase platzte genau dort, zwischen dem Löwenfell und dem mittleren Fenster. Ich sehe die vertraute Szene vor mir: Da ist meine Mutter, die ich nie kennengelernt habe; sie bricht zusammen; Schreie, und mein Vater läuft los, um Hilfe zu holen. Bella, die wild entschlossen zwischen den gespreitzten Beinen ihrer Tochter hockt - und eigentlich müsste alles gut gehen, denn Bella ist eines von vierzehn Kindern gewesen, sie hat bei sechs Niederkünften ihrer Mutter Ocean geholfen, sie ist vertraut mit Geburten. Doch diese Geburt verläuft nicht erwartungsgemäß. Es ist Dorrie´s erste Geburt, und sie ist eine zierliche Person, noch fast ein Mädchen, weshalb Bella mit langen Wehen rechnet, doch dieses Kind will nicht warten, und binnen knapp fünfzehn Minuten ist mein Kopf zu sehen, Blut überall, und dann, wusch, bin ich da: Ausstieg eines kleinen Ausserirdischen durch die Notluke.





    Ein kleiner spitzköpfiger Marsianer, der in Bellas Hände gleitet. Der Marsianer ist glitschig, ich bin glitschig, und inzwischen hat Bella Angst bekommen wegen des vielen Bluts. Sie lässt mich fallen, und ich lande auf dem Löwenfell. Offenbar muß Daniel, der Neugeborene, einen erschreckenden Anblick geboten haben: schwarze Zigeunerhaare, muskulöse Arme, wildes Gesicht, von Schmerz und Wut verzerrt, und mit meinen blutigen Händen klammere ich mich an die dicke violette Nabelschnur.


    Es sind drei Elfenbeinkugeln, die ein chinesischer Schnitzer und Magier angefertigt haben muß. In jeder Kugel befinden sich neun weitere, eine ist kleiner als die andere, und in allen sind Kulis, Drachen und Dschunken zu sehen. Sogar in der innersten Kugel, die nur noch die Größe einer Erbse hat, sind diese winzigen rätselhaften Zeichen eingeschnitzt, und alle Kugeln können sich drehen. Wie hat ihr Schöpfer das bewerkstelligt, wenn er sie aus einem einzigen Stoßzahn angefertigt hat und sie niemals öffnen konnte?





    Ich versuche, aus anderen Winkeln in den Schacht zu spähen, aber diesen Teil des Zimmers bekomme ich nicht zu sehen. Deshalb befasse ich mich stattdessen mit den Spuren der Mortland-Familie, weil ich so vertraut bin mit ihrer Geschichte. Ich habe so viele Episoden daraus gehört, und es macht mir Spaß, die Gegenstände und die Geschichten zusammenzufügen.





    Bei mir zu Hause gibt es Dinge aus ganz England, die Großmutter mitgebracht hat, als sie noch jung war und Reisen unternahm; Erinnerungen an Ocean und Dads Pflügeurkunden, die sehr wertvoll für mich sind, weil sie mich daran erinnern, dass diese Kunst erheblich ist - schon Joes Großvater bestellte diese Felder und sein Großvater ebenso. Mit etwas Glück habe ich diese Gabe auch geerbt; vorläufig kann ich mich mit diesen stummen Männern auf dem Friedhof unterhalten.





    Aber in diesem Raum hier befindet sich die ganze Welt, so wie wenn ich in der Dorfschule auf die große Karte an der Wand schaue und das rosafarbene Empire sehe, ein rosa Indien, ein rosa Afrika. Ein Mortland-Onkel hat diese Löwin, deren Fell dort liegt, in Botswana erlegt, und ein anderer Onkel entdeckte den Kobra-Tisch in Kalkutta, und ein Großgroß-Irgendwas brachte die magischen Kugeln aus den Opiumkriegen mit - was auch immer das gewesen sein mag.





    Und dann diese gewaltigen "guten Stücke", die seit Jahrzehnten, Jahrhunderten sogar, von Frauen wie meiner Großmutter poliert werden ... Ich merke schon, dass unser Cottage trotz Tarot-Karten und Pflügeurkunden etwas beschränkter wirkt.





    Aus diesem Blickwinkel in diesen Raum zu schauen, bringt mich auf neue Ideen. Von hier aus wirkt er wie ein Puppenhaus, und ich kann meine Mortland-Puppen überall verteilen, wie es mir beliebt. Der Großvater - von dem Angus McIver behauptet, er verstehe rein gar nichts von der Landwirtschaft - passt aufs Sofa, wo er bis in alle Ewigkeit ein Glas Whisky trinken kann. Den Vater, Guy, der jetzt krank ist, früher aber ein brillanter Cricketspieler war, ordne ich der Sammlung signierter Miniatur-Cricketschläger zu.





    Das ältere Mädchen, das laut Bella bildschön und eine richtige kleine Dame sein muß, stelle ich zu dem Spiegel an der Wand gegenüber: Sie hat goldenes Haar und träumt von einem Prinzen - von mir vielleicht -, der sie retten soll. Die jüngere Tochter ist ein Bücherwurm, mehr weiß ich nicht über sie. Sie ist bei den Bücherregalen am besten aufgehoben. Für die Mutter, Stella, finde ich keinen guten Platz in diesem Zimmer, aber Bella sagt, sie sei eine gute Köchin; ich stecke sie in die Küche. Bleibt noch - der Sohn. Es gibt ihn noch nicht, aber sie würden wohl gerne einen haben.





    Ich denke über den Sohn nach, den sie vielleicht noch bekommen werden, frage mich, wie er wohl aussehen wird und ob die Familie wieder zurückkommt, damit ich mich mit ihm anfreunden kann, und schaue zu den Fenstern hinüber.


    Wessen Kinder waren das dann? Wer hat sie getötet und warum? Ich habe alle gefragt - und ein Jahr später weiß ich immer noch nicht mehr. Ich denke, Nick, der drei Jahre älter ist als ich (und einen Arzt zum Vater hat), könnte es vielleicht wissen. Bella jedenfalls sicherlich und auch mein Vater - aber sie sagen mir nichts. Ich wünschte, sie würden es tun, denn dann würde diese drei Nonnen-Babys endlich aus meinen Träumen verschwinden, statt dort zu baumeln wie Anhänger an einem Armband des Bösen, sobald ich im Dunkeln die Augen schließe.





    Ich weiß genau, dass ich sie jetzt in diesem Schlund sehen werde. Diese kleinen weißen Schädel mit den wackligen Kieferknochen und leeren Augenhöhlen, diesen Rippen, so dünn wie Fischgräten, und diesen winzigen Knöchelchen, in denen die Rosenkränze lagen - das werde ich sehen am Ende dieses dunklen Schachts. Für mich sind sie wie Brüder und Schwestern, und ich kann sie riechen, ihren sauren modrigen Geruch. Ich habe die Augen fest zugekniffen, und ich habe nicht vor, sie ohne irgendeine Schutzvorkehrung zu öffnen. Man könnte es mit einem Gebet versuchen, aber ich habe nicht allzu viel Vertrauen in Gebete - sie haben mir meine Mutter Dorrie nicht zurückgebracht, und darum habe ich wahrhaftig oft gebetet.





    Deshalb versuche ich es mit einem magischen Spruch, einem Zigeunerspruch, den ich von Ocean gelernt habe; er ist sybilinisch, zischend wie Schlangenzungen, Wörter, die ich nur zur Hälfte begriffen habe: dreimal sage ich ihn stumm auf, einen für jedes ermordete Baby, dann öffne ich die Augen.





    Es funktioniert. Keine Nonnen. Keine toten Babys. Ich blicke verwundert in einen Schacht, der eine Art umgekehrtes Fernrohr zu sein scheint, und sehe etwas ganz Normales, nämlich die Bibliothek der Mortlands. Ich kenne mich da gut aus, was nicht erstaunlich ist, denn ich habe erst zehn Minuten vorher Großmutter dabei geholfen, dort die Tische abzustauben, die weißen Laken auf den breiten Sesseln auszuschütteln und den Papierschirm vor dem rußigen Kamin zurechtzurücken. Bella hat auf die silbernen Bilderrahmen gespuckt und sie dann mit den Ärmeln poliert, was schlampig ist, das merke sogar ich, aber wem soll es auffallen außer mir?





    Die Mortlands sind nicht da; sie haben Suffolk gegen Kriegsende verlassen, als Guy Mortland wegen Krankheit aus der Air Force entlassen wurde, und seither sind sie unterwegs, der Großvater, der Sohn, die Frau und, wie Bella mir berichtet hat, nun auch zwei Töchter namens Finn und Julia. Sie waren auf der Isle of Wight, in Schottland, der Schweiz und zuletzt in Kanada und Amerika. An keinem dieser Orte wurde Guy Mortland gesund, der irgendeine Lungenkrankheit hat - und auch noch anderes, wie Großmutter andeutete. Wer weiß, wann oder ob diese Familie jemals zurückkehren wird?





    Was sehe ich jetzt gerade von den Mortlands? Einen Teppich aus dem Fell einer Löwin mit aufgerissenem Maul, in dem Zähne abgebrochen sind. Eine ausgestopfte Kobra als Fuß eines kleinen Messingtischs, auf dem Großvater Mortland abends gerne seinen Whisky abstellte. Diverse schwere Möbelstücke aus Elde, dem Haus, in dem der Großvater aufwuchs; das sind die sogenannten "guten Stücke", die Bella mit Politur behandeln soll. Sonst sehe ich noch die Wandtäfelung und ganze Armeen von Büchern mit Ledereinbänden, die muffig riechen - ich darf sie gelegentlich mit dem Staubwedel säubern, aber noch nicht hineinschauen. Das Hagioskop ist gekrümmt, sodass mir der beste Teil des Raums entgeht: der Marmorkamin, der in die Ostwand eingelassen ist, an der Stelle, an der sich früher der Altar der Nonnen befand, sagt Bella. Und meine drei Lieblingsgegenstände, in die ich ganz vernarrt bin, kann ich auch nicht sehen, denn sie stehen auf dem Kaminssims.


    Dann nimmt Bella mich bei der Hand und führt mich durch die Abtei, durch zahllose Gänge bis zu einer Tür, die wie eine Schranktür aussieht, doch als Bella sie öffnet, befindet sich eine Trittleiter dahinter. Hoch mit dir, flüstert Bella, ich hatte dir doch versprochen, dass ich es dir zeigen würde, nicht? Sie hilft mir die Stufen hinauf, und dann sehe ich direkt vor meinen Augen eine kleine rechteckige Öffnung. Es ist ein Wunderding, sagt Bella.





    Ich blicke skeptisch auf dieses Wunderding. Es ist uralt, Stein und Mörtel zerfallen, und in den Ritzen lauern Spinnen, vermute ich - und ich fürchte mich schrecklich vor Spinnen. Pelzige Spinnen, schwarze Spinnen, kleine gemeine Spinnen mit Giftsäckchen an ihren acht Beinen. Sie können sich schnell bewegen und springen. Wenn nun ein ganzes Nest von denen da drin ist, die nur darauf warten, dass ich näher komme? Beiß, beiß, haben Spinnen Zähne? Ich spüre schon diese kleinen hungrigen Mäuler, die meinen Augapfel aussaugen wollen. Ich stelle mir vor, dass ich dann blind bin, ohne Augen ...





    Nun mach schon. Wir haben nicht ewig Zeit, sagt Bella. "Du siehst nur ein Zimmer", sagt sie, und ich merke, dass sie ärgerlich wird. "In diesem Zimmer bist du geboren - gleich unter dem mittleren Fenster. Ich hab dir die Geschichte ja schon oft erzählt. Damals dachte ich, es sei ein Junge, der da auf die Welt gekommen ist. Aber es muß ein Mädchen gewesen sein, ein kleines Angsthasen-Mädchen ..." Damit nicht genug der Beleidigung, zwickt sie mich auch noch.





    Das reicht. Ich nähere mein sechsjähriges Auge Bellas Wunderding. Das auch noch einen anderen Namen hat. Es ist ein Hagioskop. Ich habe Angst, dass ich Nonnen sehen werde. Knochige Geister-Nonnen womöglich, schaurig lebendig, obwohl sie seit Jahrhunderten tot sind. Letztes Jahr fand sich an meinem fünften Geburtstag ein Trupp Archäologen in der Abtei ein, mitsamt einer schriftlichen Grabungsgenehmigung von den Mortlands, die sich in New Mexico aufhielten. Die Archäologen gruben im Kreuzgang und fanden so gut wie nichts. Im Graben förderten sie nur Schlamm zutage, wie Bella ihnen prophezeit hatte.





    Darauf nahmen sie sich den Nun Wood vor, wo sie auf das Fundament eines kleinen runden Gebäudes stießen und eine Feuerstelle, Tontöpfe und Haushaltsgeräte entdeckten, aber keinen Altar oder andere Spuren religiöser Nutzung des Orts. Der Leiter der Gruppe fand das merkwürdig, denn es gab wohl Unterlagen, denen zufolge dieses Gebäude aus dem 15. Jahrhundert außerhalb der Klostermauern zum Rückzug und Gebet genutzt worden war.





    Nick und ich verloren bereits das Interesse; wir hatten ein Abenteuer erwartet, denn Archäologen waren zumindest etwas Neues für uns, und in Wykenfield war sonst wenig los. Doch es dauerte alles furchtbar lange - Grabungen, Erdesieben, trockenen Lehm von Tonscheiben bürsten. Wir hatten auf etwas richtig Gruseliges gehofft, und Scherben, die nach alten Blumentöpfen aussahen, waren langweilig. Doch dann, in ihrer letzten Woche im Nun Wood, legten die Archäologen einen letzten Graben an, im rechten Winkel zum Fundament des Gebäudes. Nach einem halben Meter Grabung stießen sie auf Stein. Es handelte sich um drei kleine rautenförmige Steinplatten mit abgerundeten Kanten, und darunter fanden sie ...





    Das, wovor ich mich nun fürchte, als ich in das Hagioskop blicke. Drei Säuglingsskelette. Mit Rosenkränzen in den winzigen Händen und gut erhaltenen Lederriemen am Hals. Nick und ich waren dabei, neugierig und entsetzt, als die Archäologen mit ihren weichen Pinseln die Erde aus den hohlen Augenlöchern der Skelette entfernten. Bei einem Skelett fanden sie Würmer zwischen den Rippen. Der Chef der Truppe fluchte, und seine Stellvertreterin sagte: Das ist doch nicht möglich, die Nonnen können doch nicht - großer Gott, schauen sie doch nur, wie klein die sind, das waren Neugeborene, sie können sie doch nicht erwürgt haben? Dann redeten alle durcheinander, und Nick und ich wurden verbannt.





    Das war vor einem Jahr, und ich begreife es immer noch nicht, denn ich weiß zwar nicht viel über Nonnen, aber ich weiß immerhin, dass sie nicht wie andere Frauen sind und dass sie keine Kinder bekommen.



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    Bitte entschuldigt die fast immer gleichen Bilder, aber ich wußte echt nicht, wie ich es sonst machen sollte und was bitte ist ein Hagioskop, ich hab echt keine Planung, also musste ich irgendwie improvisieren?! Ich hoffe, ihr seid nicht enttäuscht deswegen. Es geht noch weiter...



    Er fährt herum, und ich sehe auf seinem Gesicht einen Ausdruck, der mir fremd ist. Ich weiß nicht, wo Nick in Gedanken gewesen ist - in einem weit entfernten Ort namens Timbuktu vielleicht -, doch es war jedenfalls ein Ort der Einsamkeit und Trauer. Er muß sich anstrengen, um der Stimmung dort zu entkommen, doch als er aufsteht, entspannt sich sein Gesicht, sein Blick ist warm und herzlich, und er nimmt meine Hand. Es ist so lange her, dass sich jemand auch nur annähernd gefreut hat, mich zu sehen - Freundlichkeit und Güte setzen mir mehr zu als Feindseligkeit. Die Luft verschwimmt vor meinen Augen, und der Raum gerät ins Schwanken.





    Nick legt mir den Arm um die Schultern und führt mich zu der Bank. "Setzen wir uns ein Weilchen", sagt er. Er hat zweifellos eine rasche ärztliche Diagnose gestellt - es dürfte ziemlich offensichtlich sein, dass ich nicht in einem guten Zustand bin. Aber dem Gesichtsausdruck nach zu schließen, den ich eben bei ihm gesehen habe, kann man das von ihm auch nicht behaupten. Was eigenartig ist, denn Nick hat ja alles: einen angesehenen Beruf, Anerkennung, ein Zuhause, Frau, Kinder, kein seelisches Gleichgewicht, einen ruinierten Ruf - und so gut wie nichts, um das auszugleichen. Zurzeit ist nicht einmal Sex ... ach, lassen wir das lieber.





    Doch diese Unterschiede spielen keine Rolle mehr, als ich neben Nick sitze. Nick hatte schon immer diese Ausstrahlung: Aufregung legt sich in seiner Nähe. Unsere Freundschaft ist so bedingslos, dass ich wieder zu mir selbst finde und diese innere Rastlosigkeit aufhört. Wir sitzen schweigend nebeneinander, entspannt und freundschaftlich.





    Ich erblicke erneut auf das Gemälde, auf die drei Schwestern: Eine konnte ich nicht leiden, eine mochte ich gern, eine liebte ich. Lucas hat sie so lebendig abgebildet, als könnten sie jeden Moment aus der Leinwand treten und zu sprechen beginnen. Ich schaue die Walküre Julia an, Finn und Maisie. Sie wirkt winzig neben ihren Schwestern - und sie war ja auch tatsächlich klein für ihr Alter, ein dünnes, ernstes, verwirrendes Mädchen. Meine Großmutter hat ihr einmal die Zukunft vorhergesagt. "Was hast du in der Kristallkugel gesehen, Maisie?", habe ich sie damals gefragt. Ich war sicher, dass sie etwas gesehen hatte, denn die Kristallkugel war danach zerbrochen.





    "Dieses Geheimnis werde ich niemals preisgeben", antwortete sie - sie sprach so gestelzt wie ein kleiner Roboter mit eingebauter Zeitbombe. Und sie hielt Wort. Sie erzählte es niemandem, nicht einmal Finn - ich weiß es, weil ich Finn nach dem Unfall gefragt habe.





    Was war dein Geheimnis, Maisie?, frage ich sie stumm. Sie hält eine kleine Schere in der Hand auf dem Gemälde - dieses Detail habe ich noch nie bemerkt. Eine winzige Schere, und hinter ihr strömt Licht aus einer nicht sichtbaren Quelle; ich sehe eine verschwommene Gestalt in diesem unheimlichen Licht. Lucas malt immer zweideutige fließende Figuren. Dieser Schemen hier scheint mir ein Vogel zu sein, eine Schwalbe. Eine Schere und eine Schwalbe, vielleicht vor einem Himmel, an dem ein Unwetter naht.





    Wann habe ich zuletzt eine Schwalbe gesehen, denke ich. Und - es mag an der Stille in dem Raum liegen oder an der Nähe von Nick oder diesen grässlichen Pillen oder diesem verstörenden gasblauen Blick aus drei Augenpaaren - jedenfalls bin ich plötzlich erlöst. Es geht so schnell, dass ich es nicht einmal merke. Im einen Moment sitze ich noch auf der Bank, im nächsten bin ich in den endlosen Weiten meiner Kindheit.





    Ich sitze mit Nick am Black Ditch; ich baue im Nun Wood eine Hütte mit ihm; ich sehe meinem Vater zu, der ein Feld pflügt, und Bella sagt: Das ist Kunst, wahrhaftig.

    Cyber19 und Gotti: Ich danke Euch für eure KOmmis.
    Ich werde Euch heute mal wieder mit ner längeren FS beglücken, ich haben fertig *gg*.. also viel Spaß!






    Auf der anderen Straßenseite flattern die großen Banner, die für die Retro werben, als ein Bus vorüberfährt. Lucas´hageres Gesicht wirft Falten, glättet sich dann wieder. Es fängt an zu regnen; die Leute spannen ihre Regenschirme auf; um mich das typische Rushhour-Chaos.





    Auf der anderen Straßenseite marschieren, drängeln, eilen Tausende von Fremden vorbei. Ich betrachte sie mit diesem distanzierten Gefühl, das mich jetzt oft heimsucht und das vielleicht ein Resultat meiner Isoliertheit ist oder vielleicht auch von den Rennies herrührt oder auch einfach das Leben ist, als sich plötzlich eine der Gestalten aus der Menge löst.





    Es ist Nickolas Marlow. Mein ältester Freund, der Mann, dem ich vor sechs Wochen versprochen hatte, dass ich mich bei ihm melde, den ich in Gedanken wohl hundertmal angerufen habe, aber nicht einmal in der Wirklichkeit.





    Er trägt einen dunklen Mantel und geht schnell. Den Regen, den Verkehr, das Gedränge scheint er nicht zu bemerken. Wird er in die Galerie gehen? Das ist doch nicht möglich. Doch, tatsächlich. Ich beobachte, wie er durch den Bogen tritt, die Treppe hinaufsteigt. Er zögert nicht, schaut nicht auf die Plakate, steuert direkt auf den Eingang zu. Das war´s: Der schwarze Prinz ist schlagartig von seiner Unentschiedenheit erlöst.





    Das rote Ampelmännchen erscheint, ein Taxi hält mit quietschenden Reifen; ich klemme mir den Aktenkoffer unter den Arm, winde mich zwischen den Autos hindurch, laufe die Treppe hinauf, Marmor unter den Füßen, dann Parkett.





    Ich weiß, in welcher Galerie ich Nick finden werde - und da ist er auch, nachdem ich durch tausend Flure und Räume gehastet bin. Er sitzt auf einer Bank vor dem Bild Die Schwestern Mortland, mit dem Rücken zu mir. Er dreht sich nicht um, er starrt auf das Bild - und sogar in meinem desolanten Zustand frage ich mich: Was sieht er? Dasselbe wie ich - oder etwas ganz anderes? Was bedeuten diese Gestalten, Farben, Zeichen, diese Frauen für ihn?





    Langsam, widerstrebend blicke ich auf das Bild. Ich kenne es so gut, und doch, jedes Mal, wenn ich es ansehe, verwandelt es sich. Es bleibt einfach nicht gleich; es hat die unangenehme Eigenschaft, einen zu beunruhigen, zu verwirren, zu verstören, zu erfreuen, zu erregen, einen zugleich zu blenden und einem Erleuchtung zu bringen. Es ist riesig; die Figuren haben fast Lebensgröße. Drei Schwestern; zwei, die noch am Leben sind, eine, die schon lange verloren ist. Der Blick der drei jungen Mädchen, leuchtend blau wie eine Gasflamme, ruht auf mir - und macht mir Angst.





    Ich schließe die Augen, doch ich spüre ihren Blick noch unter den Lidern. Finisterre, flüstere ich vor mich hin, und als ich mich wieder im Griff habe, gehe ich zu meinem Freund hinüber und berühre ihn am Arm. "Nick", sage ich. "Ich bin´s. Ich bin wieder hier."

    So, heute nur ne ganz kleine FS, da ich immer noch nicht wirklich weiß, wie ich die Kapitel bearbeiten soll. Ich hoffe, ihr freut euch trotzdem!
    @Gotti: Es wird noch viele überraschende Wendungen geben, aber die Auflösung wird noch auf sich warten müssen. Wie heisst es so schön? Geduld ist eine Tugend *fg*
    Nikita: Danke!
    Cyber19: Nein, soviel ich weiß ist Maisie nicht bei den Nonnen im Kloster, obwohl das mal was wäre oder? Naja. Ja Dan, mhh dafür habe ich kein Wort übrig.



    Kapitel 11
    Das Hagioskop





    Vor der Galerie passierte etwas Sonderbares. Ich stehe gegenüber auf der Strasse, voll auf Tempo - und plötzlich, ohne Vorwarnung, bin ich unentschieden. Ein Hamlet´scher Augenblick. Ein bipolarer Augenblick. Das muß wohl an dem Hustenmittel liegen; weiß Gott, was da alles drin ist.





    Schaffe ich den Fußgängerüberweg, oder soll ich mich vor den nächsten Bus werfen? Soll ich nach Hause fahren, wo ich mir ein weniger unappetittliches Ende bereiten könnte? In letzter Zeit finde ich die Vorstellung, Schluß zu machen, immer wieder sehr verlockend. Ich habe altmodische Rasierklingen gesammelt - die sind heutzutage gar nicht mehr so leicht zu kriegen, bin durch zahllose Läden getrabt.





    Aber ich kann mich nicht entscheiden: Kehle - schnell und tödlich, erfordert aber eine gewissen Geschicklichkeit; oder Pulsadern - langsam und gemächlich, die Edler-Zigeuner-Nummer? Ich besitze einige Meter robustes Seil, das mein Gewicht aushalten würde. Einen erkläcklichen Vorrat an Schlaftabletten und Schmerzmitteln habe ich angeschafft, für den Fall, dass ich mich nicht recht traue und den feigen Weg wählen muß. Zugegebenermaßen konnte ich mich bislang überhaupt nicht entschließen, zur Tat zu schreiten, obwohl die Versuchung spätnachts manchmal groß ist. Konzentrier dich also, Daniel: Rübergehen oder nicht rübergehen, das ist hier die Frage.

    Zu deine Story, sag ich jetzt erstmal nichts, dafür ist es noch zu wenig, aber was mich interessieren würde.. Kann es sein, das ich das schon mal irgendwo gesehen habe? Ich glaube mich zu erinnern, das mir das sehr bekannt vor kommt, ich glaube es ist ein Spielfilm, aber ich weiss leider den Namen jetzt nicht!!


    Lieben Gruß