Cyber19: Vielen Dank! Ich will ja nicht die Spannung nehmen, aber noch in diesem Kapitel erfahrt ihr was mit Maisie gewesen ist. Obwohl ich selbst denke, das es damit noch viel viel viel mehr aufsich hat, aber das weiss ich selbst noch nicht so genau! Und nein, es wird ganz und gar nicht langweilig. Kapitel 12 wird wieder ein wenig anders und darauf freue ich mich schon, dann erfahrt ihr sogar, wie es einer der Schwestern geht, welche verrat ich aber nicht! *gg*
Und bitte seid mir nicht böse, aber ich wusste nicht was ich für Bilder machen sollte, deshalb kommt gleich ein richtig langer Text... *sorryyy*
Ich versuche mich am indischen Seiltrick. Ich klettere an der Nabelschnur hoch, um in den Bauch zurückzukommen - und als mir das nicht gelingt, mache ich meiner Empörung darüber auf eine Weise Luft, die Bella mir immer wieder vorgehalten hat. Zuerst klappe ich die Augen auf, klick, wie die Blende einer Kamera. Dann reiße ich dramatisch den Mund auf und lasse mein rosa Zahnfleisch sehen. Mich muß man nicht schütteln oder auf den Rücken schlagen: Ich gebe von selbst einen angstvollen lauten Schrei von mir - nur einen einzigen, was Bella noch nie erlebt hat. Er hallt in dem riesigen Raum dieses riesigen frommen Hauses wider und lässt Bella das Blut in den Adern gefrieren. Übernatürliche Kräfte, sie spürt es augenblicklich. Die Gabe, von Ocean über Bella an mich weitergegeben: Dieses Roma-Baby weiß, dass seine Mutter, die da auf dem Boden liegt, mit Sterben beschäftigt ist. Der Schrei ist Hellseherei. Dieser Kleine weiß, dass er seine Mutter gerade umgebracht hat.
An diesem Punkt kommt der Auftritt des neuen Dorfeinwohners, der so schnell als möglich, aber zu spät geholt wurde: Dr. Marlow. Er naht in seinem Ford, mit meinem bleichen Vater auf dem Beifahrersitz. Er rast die Treppe zur einstigen Marienkapelle - jetzt Bibliothek - hinauf. Er schneidet die Nabelschnur durch, wickelt mich in Bellas Petticoat und versucht die Blutung zu stoppen. Doch es gelingt ihm nicht. Meine Mutter stirbt schnell und leise - und ich weiß immer noch nicht, wo genau. Ich wußte es nicht, als ich mit sechs Jahren in das Hagioskop blickte, und etliche Jahrhunderte später - mir scheinen es Jahrtausende zu sein -, als ich neben Dr. Marlows Sohn in einer Galerie in London sitze, weiß ich es immer noch nicht.
Ist Dorrie auf dem Parkett in der Bibliothek verblutet, auf dem Weg ins Krankenhaus in Deepden oder, Stunden später, dort in der Klinik? Ich weiß, dass ich sie getötet habe, aber ich will wissen, wo. Irgendwie würde mir das helfen. Bella sagte mir immer:
Im Krankenhaus, du Dummerchen. Sie hielt das kleine weiße Gebetbuch in Händen, das ich ihr geschenkt hatte, das mit dem Ledereinband. Und als sie gegangen war, haben Joe und ich ihr das Hochzeitskleid angezogen, das war schlimm für ihn, es ist mir ein Gräuel, einen erwachsenen Mann weinen zu sehen, waren schon als Kinder ein Herz und eine Seele, die beiden, und das Kleid war noch kein Jahr alt, zehn Meter glatter Satin, wir hatten unsere ganzen Bezugsscheine dafür aufgebraucht. Wir haben sie im vorderen Zimmer aufbewahrt, und das ganze Dorf hat ihr die letzte Ehre erwiesen, und als die Mortlands davon hörten - Joe hat ihnen geschrieben -, schickten sie ein Telegramm, das hängt da im Rahmen an der Wand - die arme Dorrie, sie hielt so große Stücke auf die Mortlands, hat sie immer verehrt, ich dachte, es würde ihr gefallen.
Aber habe ich das geglaubt? Glaubte ich diese Version der Geschichte? Ich habe sie gesucht, Dorrie in ihrem weißen Satinkleid. Ich glaubte, wenn ich alles ausspionierte und in allen Winkeln nach ihr suchte, würde ich sie finden, und sie würde mir berichten, was wirklich geschehen war. Sie würde mir sagen, dass sie mir verziehen hätte. Sie würde mir erklären, warum sie mich verließ. Doch ich fand sie nie - und Bellas Berichte nützten mir nichts. Ich wurde an dem Tag geboren, an dem der zweite Weltkrieg zuende ging - das steht auf meiner Geburtsurkunde. Und meine Mutter Dorrie starb an diesem Tag - das wurde vom Vater meines besten Freundes attestiert, der den Totenschein ausfüllte. Meine Geburt fiel also auf einen historisch bedeutsamen Tag - Geburtstag des Friedens, sagte Großmutter immer, wenn sie mich trösten wollte. Die Messerschmitt war Schuld an ihrem Tod, nicht ich, das dürfe ich nie vergessen. Wenn das Flugzeug nicht gewesen wäre, dann wäre die Geburt normal verlaufen, und Dorrie wäre noch bei mir. Hör auf zu schniefen, sagte Großmutter und kniff mich. Denk doch, Danny, denk doch - wie viele Babys kommen schon auf einem Löwenfell zur Welt?
Eine nette Mär. Haarspalterische Fragen sollte man sich lieber verkneifen, wie zum Beispiel: Was hatte dieser wildgewordene deutsche Jagdbomber in jedem Mai auf den Feldern von Suffolk zu suchen? Was für ein Interesse sollte Großmutters behelmter Hunne daran gehabt haben, ein neunzehnjähriges hochschwangeres englisches Mädchen, das ihrem Gatten beim Karottensäen zusah, vom Leben zum Tode zu befördern? Was hatte es mit dieser verspäteten Kamikaze-Aktion auf sich? Der Krieg in Europa war vorbei. Und dann gab es auch noch Variationen, wie immer in Bellas Geschichten. Wenn sie mal wieder zu viel Mackeson´s intus hatte, wurde aus der Mister Schmitt unversehens eine Dornier.
"Ich habe es nachgeprüft", sage ich jetzt, in der stillen Galerie. Zumindest glaube ich, dass ich die Worte ausgesprochen habe, aber vielleicht auch nicht, denn Nick zeigt keinerlei Reaktion, und auch der ältere Aufseher nicht, der am Eingang sitzt. Sonst hält sich niemand hier auf, die Galerie schließt bald.
Als ich fünfzehn war und aufs Gymnasium ging, habe ich recherchiert. Ich ging ins Archiv der Lokalzeitung und schaute im Schweiße meines Angesichts die Wälzer mit vergilbten Zeitungsartikeln durch. Ergebnis: Meine Vermutungen wurden voll bestätigt. Es gab tatsächlich einen solchen Zwischenfall mit einer Messerschmitt, die auf die Abtei schoss. Es konnte nie geklärt werden, was es damit auf sich hatte; man vermutete, dass der Bomber unterwegs war zum Stützpunkt in Deepden und aus schierer Vernichtungswut auf die Abtei feuerte. Kommt mir nicht sehr warscheinlich vor, diese Theorie. Vielleicht lag dieser Deutsche, der von seiner Staffel getrennt war, in den letzten Zügen; dann kann ich ihn nur bemitleiden. Er starb jedenfalls einen furchtbaren Tod, als sich das Flugzeug ins Acre Field bohrte - aber all das ereignete sich vier Jahre vor Kriegsende, zwei Jahre vor der Hochzeit meiner Eltern, 48 Monate, bevor ich auf das Löwenfell fiel.
"Ich will endlich die Wahrheit hören", sagte ich zu Bella, als ich aus dem Archiv nach Hause kam. Bella sah mich mit einem ihrer Ocean Blicke an - uralte Weißheit der Roma, Augen, die in die Ferne blicken etc. Ich ließ mich nicht ablenken. "Also los, Großmutter, was ist damals passiert?", frage ich.
Und sie berichtete haarklein: Doch, es stimmte alles, der Ort, die plötzliche Wehen, das Fenster, Cotter´s Frühkarotten, Löwenfell. Der einzige Zusatz war die Messerschmitt gewesen: Großmutter hatte sie hinzugefügt, als ich noch klein war, weil ich sie ständig mit Fragen belästigte, und in gewisser Weise könnte diese Version auch stimmen, denn als meine Mutter am Fenster der Marienkapelle stand, sah sie etwas.
Doch was sie sah, wußte auch Großmutter nicht genau. Es mochte der todbrigende Jagdbomber gewesen sein, der vier Jahre später einen Geisterflug startete. Es mochte auch etwas anderes gewesen sein; jedenfalls hatte Dorrie, bei der sich die Gabe noch nie gezeigt hatte, etwas Unheimliches gesehen, etwas, das auch die hellsichtige Bella nicht entdecken konnte und das grauenvoll war. So grauenvoll, das die Wehen verfrüht einsetzten.
Ich stehe auf. Es ist totenstill in der Galerie. Nick atmet nicht. Ich atme nicht. Ich denke über meine Vergangenheit nach, über meine Schuld. Als Kind tat ich mich schwer mit der Geschichte meiner Geburt; später legte ich mir ein dickeres Fell zu. Ich merkte, dass die Scham und der Schmerz, die ich mit meiner Herkunft verband, verschwanden, wenn ich eine Show daraus machte. In Cambridge kam ich gut an mit meiner Roma-Herkunft, meinen Berichten von Ocean und Bella und dem pflügendem Vater. Sicher, ich war ein Zigeuner, aber ich war nicht blöd: Mir war klar, dass ich niemals dazugehören würde, aber in den Sechzigern hatte man ganz gute Karten, wenn man sein Unterschicht-Image geschickt einsetzte.