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Es gab tatsächlich Essen – Schnitzel mit Gemüse, wie er es angekündigt hatte. Paulas Bedenken, es könnte vergiftet sein, wich einem überwältigenden Hungergefühl und als sie zu Ian sah, der auf der Liege saß und gierig das Fleisch in sich hineinstopfte, waren ihre letzten Zweifel ausgeräumt.
Es gab Essen.
Paula nahm den Teller, der auf dem Boden stand und setzte sich zu dem jungen Mann auf die Pritsche. Im Moment machte sie sich keine Gedanken darüber, wie Kor das Essen in den Raum ohne Tür bekommen hatte – Ian war ja auch irgendwie rein gekommen, es gab also einen Weg – im Moment zählte nur das klein geschnittene Fleisch und die Blumenkohl- und Brokkoliröschen auf ihrem Teller.
Obwohl Paula von dem Geschmack nicht viel mitbekam, weil sie zu gierig aß, bemerkte sie doch, dass es nicht übermäßig schlecht schmeckte. Wer war Kor, dass er sich so viel Mühe mit dem Essen gab, dass er extra etwas kochte? Paula konnte sich beim besten Willen keinen Reim auf sein Verhalten machen.
Einen Moment lang war sie froh. Froh, dass Ian wieder da war und froh, dass sie hatte, was man zum überleben brauchte. So absurd es ihr auch vorkam, in ihrer Situation noch so etwas wie Freude empfinden zu können – für einen Moment dachte sie nicht an ihren Kummer, ihre Angst, ihre Fragen.
Paula schmeckte das gut gewürzte Schweinefleisch auf ihrer Zunge und war zum ersten Mal seit langer Zeit – zum ersten Mal seit aller Zeit, an die sie sich erinnern konnte, glücklich.
Ja, sie empfand Glück.
Kor hatte gesagt, Montag sei Wunschtag, und es wäre ihr erster. Sie waren also noch nicht ewig lange hier, höchstens seit einer Woche. Wenn sie erst seit kurzer Zeit da waren, könnte es ja doch sein, dass ihr Aufenthalt nur für kurze Dauer geplant war.
Sie teilte diesen Gedanken mit Ian, der sein Schnitzel schon aufgegessen und den Teller auf die Erde gestellt hatte.
Ian schien realistischer denn je.
„Paula, wenn Montags Wunschtag ist… wird es viele Montage geben, nicht nur einen oder zwei.“
Das Mädchen merkte, wie ihre Hoffnung mit einem Satz zerschlagen wurde. Trotzdem klammerte sie sich an einen gedanklichen Grashalm.
„Aber vielleicht geht das ganze ja nur eine Woche… Vielleicht passiert jeden Tag etwas anderes und Sonntag werden wir freigelassen.“
Sie merkte selbst, wie hilflos diese Idee klang.
„Für eine Woche hätte er sich nicht diese Mühe gemacht. Wieso sollte er? Und er wüsste, dass wir ihn danach sofort verraten würden und identifizieren könnten. So ein Risiko geht er nicht ein. Nicht, wenn er uns nur eine Woche hier behalten will um uns ein bisschen zu ärgern.“
Ian sah dem Mädchen in die Augen.
„Paula, ich weiß nicht, weswegen wir hier sind, aber ich weiß, dass er uns am Ende töten wird.“
Paula stand auf, um dem jungen Mann nicht länger ins Gesicht sehen zu müssen. Sie wollte diese Worte nicht hören. Sie würde ihr Leben nicht so einfach abschreiben.
Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals.
„Er wird uns nicht töten“, sagte sie und hoffte, dass die Worte Ian mehr überzeugen konnten, als sie selbst.
„Warum sollte er dann damit warten?“
Ian schwieg. Er wusste keine Antwort.
„Vielleicht sollten wir uns nicht mehr trennen“, sagte er dann. „Dann kann er keinen von uns einzeln hier rausholen.“
Paula dachte, dass Kor bestimmt die Mittel besaß, sie beide bewusstlos zu machen, wenn er es für nötig hielt und somit tun konnte, was immer er wollte, aber sie entgegnete nichts. Es war nicht sinnvoll, negativ zu denken.
„Lass uns jetzt die Tür suchen“, sagte sie. „Es muss ja eine geben.“
Ian zuckte unmotiviert die Schultern.
„Und wenn? Was bringt es uns, wenn wir sie gefunden haben?“
Für einen Moment kam dem Mädchen wieder der Gedanke, der junge Mann könnte Kors Komplize sein. Wieso lag ihm nicht am Finden des Ausganges? Aber hatte er nicht andererseits auch Recht? Die Tür würde verschlossen sein. Es würde ihnen rein gar nichts bringen. Bis auf die Gewissheit, dass es einen Ausgang gab – einen Ausgang aus der Hölle. Und diese Vorstellung reichte Paula.
Sie begann, die gefliesten Wände abzutasten.