Ich dachte an meine Kindheit zurück, als ich als kleines Mädchen mit langen Zöpfen mit meinem jüngeren Bruder auf einer Wiese spielte. Hätte es nicht immer so bleiben können?
Ich hatte das Auto zuerst wirklich nicht gesehen, welches ihn auf dem Heimweg anfuhr. War es trotzdem meine Schuld gewesen? Ich erinnerte mich an schreiende, heulende Menschen, viel Blut. Und eine große Leere. Ich hatte nicht einmal geweint, war es denn nicht schlimm für mich gewesen? Es gab mehr Streit, viel mehr Streit als Trauer als mein Bruder wenige Tage später starb.
Es hatte doch niemand gewollt, er war noch so klein. Nichts war mehr wie vorher gewesen, Mutter weinte nur noch, ging nicht mehr zur Arbeit, wir mussten in eine kleine Wohnung ziehen, ohne Vater, er wollte nicht mehr bei uns sein. War es meine Schuld gewesen? Ein paar Jahre später zog ich aus. Sie hatten mir nicht mehr ins Gesicht sehen können.
Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn wir nicht auf der Wiese gespielt hätten, oder wenn wir früher heimgegangen wären, wie Mutter es mir aufgetragen hatte. Wenn ich auf sie gehört hätte. Vielleicht hätten wir dann nicht so rennen müssen und wir hätten das Auto an der Straße gesehen. Vielleicht.
Ob es anders gekommen wäre? Ob ich jetzt ein anderer Mensch wäre? Vielleicht hätte ich einen guten Beruf gefunden, wenn ich nicht schon mit sechzehn Jahren auf mich allein gestellt gewesen wäre. Vielleicht hätten meine Eltern mich unterstützt und ich hätte die Schule weiter machen können. Vielleicht hätten sie das. Dann würde ich jetzt nicht hier sitzen, vielleicht nicht. Vielleicht wäre ich dann glücklich.
Es war meine Schuld.
„Du wirst ihn heute treffen”, sagte ich laut zu mir selbst, dann stand ich entschlossen auf und schüttete die noch volle Schüssel Cornflakes in den Ausguss.
„Du wirst ihn anrufen. Jetzt.”
Meine Hände zitterten, als ich in meinem Handy nach Blacks Nummer suchte. Bevor ich es mir noch mal anders überlegen konnte, drückte ich die Wähltaste und schon nach dem zweiten Klingeln antwortete eine dunkle Männerstimme.
„Hey Black, hier ist Lia. Ich würde mich gerne heute mit dir treffen… wenn du Zeit hast. Du hast doch Zeit, oder? Wenn nicht, ist das auch nicht schlimm, dann vielleicht morgen, oder…”
„Ich habe Zeit”, unterbrach Black mich.
„Um drei im Stadtpark, am alten Wasserturm. Ach ja; ich habe gewusst, dass du anrufst.”
„Der Stadtpark ist so weit…”, fing ich an zu protestieren, doch schon tönte mir das monotone Piepen entgegen. Ohne genau zu wissen, was ich gerade getan hatte, und noch viel weniger warum, legte ich auf. Ich würde ihn also treffen.
Um drei, im Stadtpark.
Ich legte mich aufs Sofa und beschloss, erstmal meine Gedanken zu ordnen.
Was wollte ich eigentlich von ihm und was erhoffte ich mir von diesem Treffen? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ich so durcheinander war und mein Leben so sinnlos erschien, und Black, der Mann, der mir so viel Angst einjagte und doch so anziehend war, das Einzige in meinem Leben war, das nicht hinein passte in das ewige Graue, der nicht zu der Routine gehörte, sondern irgendwo von außen kam und eine gewisse Faszination mitbrachte. Ich kannte ihn doch nicht, aber irgendwie klammerte ich mich an die Vorstellung, dass er was Besonderes war und sich mein Leben durch ihn ändern konnte. Sicherlich war es eine verzweifelte Phantasie. Aber vielleicht bewahrte sie mich trotzdem vor dem seelischen Tod. Das war zumindest der Plan.