Beiträge von Gifti

    Ich dachte an meine Kindheit zurück, als ich als kleines Mädchen mit langen Zöpfen mit meinem jüngeren Bruder auf einer Wiese spielte. Hätte es nicht immer so bleiben können?



    Ich hatte das Auto zuerst wirklich nicht gesehen, welches ihn auf dem Heimweg anfuhr. War es trotzdem meine Schuld gewesen? Ich erinnerte mich an schreiende, heulende Menschen, viel Blut. Und eine große Leere. Ich hatte nicht einmal geweint, war es denn nicht schlimm für mich gewesen? Es gab mehr Streit, viel mehr Streit als Trauer als mein Bruder wenige Tage später starb.



    Es hatte doch niemand gewollt, er war noch so klein. Nichts war mehr wie vorher gewesen, Mutter weinte nur noch, ging nicht mehr zur Arbeit, wir mussten in eine kleine Wohnung ziehen, ohne Vater, er wollte nicht mehr bei uns sein. War es meine Schuld gewesen? Ein paar Jahre später zog ich aus. Sie hatten mir nicht mehr ins Gesicht sehen können.



    Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn wir nicht auf der Wiese gespielt hätten, oder wenn wir früher heimgegangen wären, wie Mutter es mir aufgetragen hatte. Wenn ich auf sie gehört hätte. Vielleicht hätten wir dann nicht so rennen müssen und wir hätten das Auto an der Straße gesehen. Vielleicht.
    Ob es anders gekommen wäre? Ob ich jetzt ein anderer Mensch wäre? Vielleicht hätte ich einen guten Beruf gefunden, wenn ich nicht schon mit sechzehn Jahren auf mich allein gestellt gewesen wäre. Vielleicht hätten meine Eltern mich unterstützt und ich hätte die Schule weiter machen können. Vielleicht hätten sie das. Dann würde ich jetzt nicht hier sitzen, vielleicht nicht. Vielleicht wäre ich dann glücklich.
    Es war meine Schuld.



    „Du wirst ihn heute treffen”, sagte ich laut zu mir selbst, dann stand ich entschlossen auf und schüttete die noch volle Schüssel Cornflakes in den Ausguss.
    „Du wirst ihn anrufen. Jetzt.”
    Meine Hände zitterten, als ich in meinem Handy nach Blacks Nummer suchte. Bevor ich es mir noch mal anders überlegen konnte, drückte ich die Wähltaste und schon nach dem zweiten Klingeln antwortete eine dunkle Männerstimme.



    „Hey Black, hier ist Lia. Ich würde mich gerne heute mit dir treffen… wenn du Zeit hast. Du hast doch Zeit, oder? Wenn nicht, ist das auch nicht schlimm, dann vielleicht morgen, oder…”
    „Ich habe Zeit”, unterbrach Black mich.
    „Um drei im Stadtpark, am alten Wasserturm. Ach ja; ich habe gewusst, dass du anrufst.”



    „Der Stadtpark ist so weit…”, fing ich an zu protestieren, doch schon tönte mir das monotone Piepen entgegen. Ohne genau zu wissen, was ich gerade getan hatte, und noch viel weniger warum, legte ich auf. Ich würde ihn also treffen.
    Um drei, im Stadtpark.


    Ich legte mich aufs Sofa und beschloss, erstmal meine Gedanken zu ordnen.



    Was wollte ich eigentlich von ihm und was erhoffte ich mir von diesem Treffen? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ich so durcheinander war und mein Leben so sinnlos erschien, und Black, der Mann, der mir so viel Angst einjagte und doch so anziehend war, das Einzige in meinem Leben war, das nicht hinein passte in das ewige Graue, der nicht zu der Routine gehörte, sondern irgendwo von außen kam und eine gewisse Faszination mitbrachte. Ich kannte ihn doch nicht, aber irgendwie klammerte ich mich an die Vorstellung, dass er was Besonderes war und sich mein Leben durch ihn ändern konnte. Sicherlich war es eine verzweifelte Phantasie. Aber vielleicht bewahrte sie mich trotzdem vor dem seelischen Tod. Das war zumindest der Plan.

    Vielen Dank für eure Kommis und euer Lob, habe mich total gefreut :)




    In diesem leider etwas kurzen Kapitel erfahrt ihr mehr über Lias Vergangenheit.
    Das nächste Mal geht es dann endlich mit Black weiter. Ich würde mal behaupten, dass die Story jetzt 'so richtig los geht'.
    Viel Spaß!


    Kapitel 6 - Teil 3


    ....Dann fuhr er mit der Hand meinen Oberschenkel hinauf...
    Ich hielt sie fest.




    „Ich will das nicht”, sprach ich es aus, bevor ich es wirklich dachte.
    „Wir können woanders hingehen”, sagte Phil, ohne seine Hand von mir zu nehmen.
    „Nein, ich will nicht”, sagte ich irgendwie kleinlaut und doch bestimmt und schob den jungen Mann von mir weg.
    „Es tut mir Leid, es liegt nicht an dir.” Mit diesen Worten drehte ich mich um und ohne ihn noch mal anzusehen lief ich davon.



    Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war mein Zimmer schon vom Sonnenlicht erhellt. Wie immer drang von draußen Vogelgezwitscher in den Raum. Mir war sehr kalt, irgendwie hatte ich mich nicht richtig zugedeckt, und dann fiel mir auf, dass ich noch die Klamotten des gestrigen Abends anhatte. Ohne mich umzuziehen oder abzuschminken war ich ins Bett gefallen, nachdem ich meine konfusen Gedanken in der Küche noch in einer viel zu großen Menge Alkohol zu ertränken versucht hatte.
    Ich setzte mich auf und mein Kopf dröhnte.
    „Oh Mist”, fluchte ich laut. Ich hatte mich überhaupt nicht unter Kontrolle gehabt gestern, wie konnte das nur passieren?
    Ich stand auf und obwohl mein Kopf sich anfühlte, als wollte er explodieren, schleppte ich mich ins Badezimmer und nahm eine eiskalte Dusche.



    ‚Was ist bloß los mit dir?’, meckerte ich über mich selbst. ‚Komm mal wieder klar!’
    Ich vergaß die Zeit, als das kalte Wasser auf meine Haare prasselte und meine Haut runter lief. Ich stand nur da und dachte an gar nichts, erst als meine Hände irgendwann schon völlig aufgeweicht waren, bemerkte ich, dass ich schon ewig duschen musste. Ich stellte das Wasser ab, stieg auf die kalten weißen Fliesen und setzte mich auf den Badewannenrand.



    Das kalte Nass perlte sich auf meiner Haut und ich begann zu zittern, nahm mir aber kein wärmendes Handtuch. Strähnen meiner dunklen Haare klebten auf meinem Gesicht und einige Wassertropfen bahnten sich ihren Weg von meinem Körper zum Boden. Langsam bildete sich an meinen Füßen eine kleine Pfütze. Ich krampfte meine Zehen zusammen, die Fliesen waren kalt. Ich fühlte mich mies und verloren, wurde mir aber nicht des richtigen Grundes bewusst. Eigentlich hatte ich Grund mich zu freuen, denn ich hatte heute einen freien Tag und konnte machen, wonach mit der Sinn stand. Aber was gab es schon noch zu machen?



    Es würde in einem Tag vorm Fernseher enden, wie immer. Nichts gab es zu tun, nichts zu erledigen, nichts zu bereden. Das Einzige, was immer wieder meine Gedanken durchflog war Black, und den sollte ich dringend aus meinem Kopf verbannen. Weil er meine Routine durchkreuzte. Die Routine war nötig.
    Ich wollte das nicht mehr. Ich wollte nicht, dass mein Leben aus Fernsehen und Disco bestand. Wollte nicht in meiner Freizeit dauernd an meinen Job erinnert werden, wie gestern in der Gasse. Es war doch viel mehr als ein Job. Ich wollte das nicht. Nicht mehr.
    Ich zitterte.



    Gelangweilt stocherte ich in meinen Cornflakes herum. Ich hatte mir weite Sportkleidung übergezigen. Eine nasse Spur auf dem Boden, vom Badezimmer in die Küche führend, verriet, dass ich keine Energie zum Abtrocknen gehabt hatte, aber diese zog nun langsam in den Fußboden ein und verschwand somit.
    Still, unauffällig.
    Es war ein grauer Tag und man hörte nichts weiter als die vorbeieilenden Autos draußen auf den Straßen, selbst die Vögel hatten ihren Gesang mittlerweile aufgegeben. Kälte umgab mich.
    Kälte, weil es Herbst wurde und niemand es für nötig hielt, die Heizung anzustellen, aber auch eine andere Art Kälte. Menschliche Kälte, Leere, um mich herum und tief in meinem Herzen. Es sollte aufhören, verschwinden. Ich überlegte, was ich mit meiner Zeit anfangen sollte. Sollte ich mir einen neuen Wintermantel kaufen? Vielleicht einen mit Fell, einen richtig guten. Oder sollte ich mal ins Sonnenstudio gehen, oder in ein Restaurant?



    Es gab doch immer so viele Ablenktipps, für Leute die sich langweilten. Aber ich wollte keinen Wintermantel. Ich wollte auch nicht ins Sonnenstudio und Restaurants waren nichts für mich. Ich hatte nun genug Geld, vielleicht sollte ich es spenden. Ob es reichen würde, meine Sünden zu bezahlen?
    Es war eine Sache, seinen Köper zu verkaufen, aber es ging auch an die Seele. Sie verkümmerte. Langsam, aber stetig, immer mehr. Schleichend, aber doch so schnell, so unaufhaltsam. Was würde ich machen, wenn nichts mehr übrig blieb? War das dann der Tod? Und ließ er sich noch aufhalten?
    Für einen Bruchteil einer Sekunde dachte ich an Drogen. Es war so einfach, welche zu bekommen, und sie sollten ja wirklich helfen, alles zu vergessen. Vielleicht ging es einfach nicht anders.

    Der Mann starrte ihm in die Augen. Regungslos, fast wie eine Maschine.
    „Ich frage Sie noch einmal: Erinnern Sie sich an einen Mann namens Luke?“
    Ians Gedanken kreisten. Er erinnerte sich an Luke. Er war der Mann aus seinen Träumen, er war… er? Nein, das war nicht möglich, ebenso wenig wie… ebenso wenig wie dieser ganze Zustand möglich war. Was wussten diese Männer? Inwieweit konnte er ihnen trauen?
    „Ich kenne keinen Luke.“
    „Ian, Sie täten besser daran, uns nicht anzulügen.“
    Ian biss sich auf die Lippe.



    „Wenn ihr eh schon alles wisst, wieso fragt ihr mich dann? Was wollt ihr von mir? Ja, ich kenne vielleicht einen Mann namens Luke, aber ich weiß nicht, wer er ist. Ich kenne diesen Namen und ich kenne auch den Namen Paula, aber sie passen in diese Geschichte nicht rein. Sie sind von außerhalb, aber ich kann sie nicht zuordnen.“
    „Was wissen Sie noch von außerhalb?“



    „Ich vergesse es. Ich träume, und dann vergesse ich es wieder. Es ist wie ein Fluch. Ich weiß, dass diese Erinnerungen da sind, aber ich komme nicht an sie ran, kannst du das verstehen? Kannst du dir das vorstellen?“
    Ian wusste nicht, warum er mit diesem Mann redete, der ihm nicht einmal seinen Namen verraten hatte, wusste nicht, warum er ihm all das erzählte, und er hasste sich dafür. Er beschloss, nichts mehr zu sagen, keine Auskünfte mehr zu geben, und wenn sie ihn dann umbringen würden, dann wäre es wenigstens vorbei.



    „Ja, ich kann es mir vorstellen“, sagte der Mann plötzlich überraschend sanft und Ian zuckte zusammen. „Ich kann mir das sehr gut vorstellen. Ian, was würden Sie gerne tun?“
    „Ich würde euch gerne umbringen“, hörte Ian sich sagen, bevor er diesen Gedanken realisiert hatte.
    Der Mann war unbeeindruckt.
    „Glauben Sie, dass Sie das könnten? Hätten Sie die Kraft dazu, wenn sie nicht angebunden wären? Haben Sie schon einmal jemanden umgebracht, Ian? Erinnern Sie sich daran?“



    „Noch nie hatte ich Grund dazu, jemanden umzubringen!“
    Das Metall schnitt sich in Ians Handgelenke. Er wusste nicht, ob das Beruhigungsmittel schon in seiner Wirkung nachließ, oder wie es ihm sonst gelang, wieder zu Emotionen fähig zu sein, aber er hatte das Bedürfnis, laut zu schreien, zu randalieren, irgendetwas durch den Raum zu schleudern. Er musste diese Wut rauslassen, die sich in seinem Bauch staute. Stundenlang hatte er sich vorgestellt, was er machen würde, wenn er seinem Entführer gegenüber saß und nun tat er es und war unfähig, irgendetwas zu tun.



    „Wie können Sie sich da so sicher sein, wenn Sie sich an nichts erinnern?“
    „Ich weiß es einfach. Hattest du das jemals, dass du einfach etwas wusstest?“
    „Ich glaube nicht, nein. Ian, Ihre Aggressivität macht uns Sorgen.“
    „Dann redet mit mir. Gebt mir Antworten, verdammt noch mal!“
    „Das können wir leider auch nicht. Ich befürchte, Sie müssen das erst einmal so hinnehmen. Die Antworten sind vielleicht in Ihnen selbst, Ian.“
    Ian starrte auf die Tischplatte. Sein Zorn und seine Wut wandelten sich zu Hass. Er war sich sicher, dass nicht viele Menschen jemals so empfunden hatten.



    „Wir werden Sie gleich zurück bringen, Ian. Können wir noch irgendetwas für sie tun?“
    Er hob den Blick und starrte dem Mann in seine kalten Augen. Ja, er hätte die Kraft, ihn zu töten, wenn er fähig wäre, sich zu bewegen, das wusste er jetzt. Ian war sich sicher, dass es Situationen gab, in denen ein jeder fähig war, andere Leben auszulöschen. Diese gehörte dazu.
    „Was habt ihr mit meiner Frau und dem Baby gemacht?“ Ians Augen verengten sich zu Schlitzen, aber sein Verhörer zeigte keine Regung. Ians Blick fiel auf Kor, der die ganze Zeit geschwiegen hatte.
    „Sie hatten nie eine Familie, Ian. Es wäre besser, wenn Sie das endlich akzeptieren.“



    „Was, was wollen Sie hören? Ich habe mein Gedächtnis verloren, ich bin in diesem Raum aufgewacht und da war dieses Mädchen…“
    Ian erzählte alles, was er über die letzte zwei Tage wusste. Er hielt einen Monolog und seine Verhörer unterbrachen ihn kein einziges Mal, fragten nie weiter nach, ja, regten sich nicht einmal.
    „… Und dann wachte ich auf, und bin hier. Und ich weiß nicht, warum. Weiß nicht, was das alles zu bedeuten hat, was ihr von mir wollt… weiß nicht, ob ihr mich tötet.“
    „Danke Ian. Dieses Mädchen, Paula. Erzählen Sie von Ihrer Beziehung zu ihr. Was denken Sie über sie?“



    Ian atmete tief durch. Obwohl seine Augen schwer wurden und er das Gefühl hatte, sich zusammenreißen zu müssen, damit er nicht das Bewusstsein verlor, raste sein Herz. Er erzählte alles über Paula, was ihm einfiel, alles, was sie wissen wollten und vielleicht auch eine Menge, die sie nicht interessierte.
    Er wusste nicht, warum sie all das wissen wollten, wer sie waren, aber er hatte keine Kraft, sich gegen sie aufzulehnen. Er wusste ja nicht einmal, wer er war. Ob sie es wussten? Vielleicht hatte er eine Chance, wenn er kooperierte.



    „Ian, was glauben Sie, warum Sie hier sind?“
    Warum er hier war? Er wusste ja nicht einmal, wo er war.
    „Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Ihr habt mich entführt, aber ich weiß nicht, wieso. Weiß weder, wer ihr seid, noch was ihr wollt, noch sonst irgendwas.“
    Die Männer schwiegen. Der Mann ohne Namen sah Kor an, doch Ian konnte einen Blick nicht deuten. Kor nickte.
    „Ian. Erinnern Sie sich an einen Mann namens Luke?“


    Danke für eure Kommis, ihr Beiden!
    Und hier dann mal das nächste Kapitel, das vllt etwas mehr Anreize zu Spekulationen bietet!




    12



    Als Ian aufwachte, sah er in zwei graue Augen. Er brauchte einen Moment, um wieder klar im Kopf zu werden, und sich daran zu erinnern, was geschehen war. Das Licht war ausgegangen und daraus hatte er geschlossen, dass Abends war. Paula hatte nicht mehr mit ihm geredet und so hatte er sich irgendwann zum Schlafen hingelegt, und nun… wie lange war das her?
    Er brauchte einige Sekunden, um zu realisieren, dass er nicht mehr in dem Raum war. Jemand hatte ihn rausgeholt. War er frei?
    Wo war er?



    „Er braucht ein bisschen“, hörte er eine Stimme sagen. „Gib ihm eine Minute.“
    Er saß. Saß auf einem Stuhl, seine Hände lagen auf seinen Beinen. War er gefesselt? Vor ihm ein Tisch, groß, dunkel. Und dahinter… zwei Männer. Wer waren sie? Kannte er sie?
    „Können Sie uns hören?“
    Ian erkannte, dass einer der Männer Kor war.



    „Ian, dass Sie grade nicht ganz klar sind, liegt an einem Mittel, das wir Ihnen gegeben haben. Es wird gleich besser. Heute ist Mittwoch, Ian, und mittwochs wollen wir uns ein bisschen unterhalten. Bitte versuchen Sie, sich nicht zu sehr zu bewegen, es wird Ihnen Schmerzen bereiten. Ian, geben sie uns ein Zeichen, wenn sie soweit sind.“



    „Wer… wer verflucht sind Sie?“ Ian begriff die Situation und versuchte aufzustehen, auf die Männer loszugehen, die hier mit ihm redeten, als wäre das das normalste der Welt, aber Schellen an seinen Händen und Füßen machten ihn bewegungsunfähig.
    „Ian, alles was Sie wissen müssen, wissen Sie bereits. Namen sind nicht von Bedeutung.“
    „Ich weiß überhaupt nichts!“ Ian brüllte und wand sich in seinen Fesseln.
    Der Mann, der die ganze Zeit redete, sah ihn durchdringend an. Ians Blick fiel auf Kor, der aber nur da saß und unbeteiligt wirkte.



    „Vielleicht beruhigen Sie sich. Hören Sie… an was erinnern Sie sich?“
    Ian fragte sich, ob er sich das alles nur einbildete. Es kam ihm unwirklich vor, noch surrealer als die Gefangenschaft mit Paula in diesen… Paula. Was hatten sie mit ihr gemacht?
    „Wo ist Paula?“, keifte Ian den Mann an, der betont ruhig und lässig wirkte.
    „Wer ist Paula, Ian?“
    „Jetzt hör auf, mit mir zu reden, als wäre ich nicht ganz dicht. Das Mädchen, mit dem ihr mich eingesperrt hattet, wo ist sie?“



    „Ian, jetzt sind erstmal allein Sie wichtig. Wie fühlen Sie sich?“
    „Wie ich mich fühle? Wollt ihr mich verarschen?“ Ian kochte von Wut, riss an seinen Handschellen, wollte aufstehen, sie schlagen, umbringen, abhauen, raus hier, zurück zu… ja, zurück zu was eigentlich?
    „Lasst mich frei!“
    „Beruhigen Sie sich, sonst müssen wir Ihnen was geben. Es ist doch auch in ihrem Interesse, dass das hier schnell vorbei ist.“
    „Und dann? Und was macht ihr, wenn das hier vorbei ist? Mich wieder zurück bringen? Mich einsperren wie Vieh und mich auf meinen Tod warten lassen? Was wollt ihr von mir?“



    „Ian, sagen Sie uns, an was Sie sich erinnern.“
    „Ihr Schweine, ich weiß überhaupt…“
    Der Mann sah über Ian hinweg und nickte, und erst dann bemerkte er, dass hinter ihm noch eine Person stand. Sein Kopf fuhr herum, aber dann spürte er auch schon die Nadel in seinem Hals. Unfähig, etwas dagegen zu unternehmen, musste er zusehen, wie die blonde Frau, die er schon einmal irgendwo gesehen hatte, ihm das Beruhigungsmittel in die Vene spritzte.



    „Danke“, hörte er den Mann sagen und die Frau entfernte sich. Ob sie wirklich ging oder nur einige Schritte hinter ihm stehen blieb, konnte er nicht ausmachen. Ian spürte, wie das Mittel seine Sinne benebelte und er willenlos wurde.
    „An was können Sie sich erinnern, Ian?“, fragte der Mann ein drittes Mal ohne jegliche Betonung in der Stimme, ja, nicht einmal mit Interesse.


    Sie merkten nicht, ob die Stunden verflogen oder die Minuten dahinkrochen, wussten nicht, in welchem Tempo sie ihrer Freilassung näher kamen – oder ihrem Tod. Ian überlegte sich, ob es sinnvoll war, sich eine Uhr zu wünschen, um das Zeitgefühl wieder zu erlangen, aber dann erschien ihm dieser Wunsch trivial und unnötig. Es gab wichtigeres, als Zeit. Wichtigeres, als das Wissen, wie lange sie schon eingesperrt waren.



    Sie starrten auf den Einwegspiegel, in der Hoffnung, ihr Peiniger würde dahinter erscheinen und irgendetwas verlauten lassen. Es war ganz egal was. Und wenn er nur ein Mal auf diese furchtbar undurchschaubare Art falsch grinsen, oder sie beschimpfen oder einfach nur dastehen und sich von ihnen beschimpfen lassen würde. Aber sie konnten nichts anderes tun, als zu warten, auf dem kalten Fliesenboden zu sitzen und Löcher in die Luft zu starren, zu warten auf eine Erlösung, die nie kommen sollte.



    Und wenn es doch alles nur ein Traum war? In Träumen merkt man doch nicht, dass man träumt, oder? Denkt man denn darüber nach? Würde man es merken, wenn man darüber nachdenken würde?
    Ian schlug seinen Hinterkopf hart gegen die Wand. Es tat ihm gut, sich selbst zu spüren, irgendetwas menschliches zu erleben, und sei es der Schmerz, der ihm half, sich daran zu erinnern, dass er noch lebte. Er schloss die Augen, in der Hoffung, irgendwelche Erinnerungsbruchstücke würden auftauchen, irgendwelche Motive, Farben, Stimmen, aber alles was er sah, war Schwärze. Unbarmherzliches schwarz, welches umso erdrückender wurde, je länger er versuchte, etwas anderes herauf zu beschwören.



    Paula saß an der Wand und kaute an ihren Fingernägeln. Sie wusste nicht, ob sie das vorher schon getan hatte oder wie sie jetzt darauf kam, denn ihre Nägel sahen gepflegt aus, aber es war ihr auch egal. Wenn man keine Vergangenheit mehr hatte, hatte man auch kein Bild über sich selbst, dem man weiterhin entsprechen sollte. Man konnte neu anfangen, sich ein neues Ich zusammenbauen. Ob man der gleiche Mensch werden würde wie vorher? Inwiefern würde man ihm noch gleichen? War der Charakter in den Genen festgeschrieben oder formte er sich durch die Vergangenheit?



    Paula wusste auf all diese Fragen keine Antwort. Ob sie sie früher gewusst hätte?
    Sie wartete auf Essen. Obwohl sie keinen Hunger verspürte, was sie sich nicht erklären konnte, wartete sie darauf, weil sie hoffte, das damit etwas Bewegung in die Situation kam. Es war ihr zuwider, nur zu sitzen und zu warten und noch nicht einmal zu wissen, auf was. Was war, wenn Kor nicht mehr auftauchte? Wenn ihm etwas zugestoßen war oder er nicht mehr herkommen könnte, aus welchen Gründen auch immer? Wenn er sich vielleicht verstecken musste? Würden sie hier jemals gefunden werden?
    Paulas Gedanken zermürbten sie. Sie musste einfach etwas tun, irgendetwas, so absurd es auch sein mochte.



    „Ian?“
    Der junge Mann sah auf. Er sah sie genau so an, wie am Tag zuvor, mit genau dem selben gebrochenen Blick und doch glaubte sie, irgendetwas in seinem Ausdruck hätte sich verändert. Es fehlte das Leuchten, sein Blick wirkte stumpf, unecht. Ob es daran lag, dass seine Seele starb?
    „Glaubst du, es hat einen Grund, dass er uns beide ausgewählt hat? Haben wir etwas gemeinsam? Glaubst du, wir kannten uns?“
    Ian antwortete nicht. Paula wusste nicht einmal, ob er sie gehört hatte.
    „Oder glaubst du, es ist Zufall?“
    Ians Gedanken rasten. Paula. Paula! Es fiel ihm wieder ein. Er hatte geträumt, von… von diesem Namen, Paula, und diese Frau…



    „Meine Tochter heißt Paula“, rief er und sprang auf. Das rothaarige Mädchen starrte ihn an.
    „Was?“
    „Ich erinnere mich wieder, an diesen Traum. Meine Frau war schwanger und dieses Kind, wir wollten es Paula nennen.“
    „Ian, Träume… Träume spiegeln nicht die Realität wieder, du hast dir das zusammengesetzt aus…“
    „Nein. Nein. Nein. Es war nicht so. Es ist kein normaler Traum. Ich weiß es, Paula, ich weiß es.“



    Paula wusste nicht, was sie denken sollte. Was war los mit Ian, dass er immer diese Stimmungsumschwünge hatte? Und diese Träume, sollte er Recht haben, und sie stammten aus seiner Vergangenheit? Halluzinierte er, war er vielleicht psychotisch?
    „Ich kann mich kaum erinnern, es scheint als würde mir jemand dieses Wissen entreißen, aber es war da. Dieses Gefühl. Paula, ich bilde mir das nicht ein. Dein Name ist kein Zufall.“
    „Ian, ich bin nicht deine Tochter, das würde…“
    „Nein. Nein, bist du nicht. Aber es hängt zusammen, Paula. Irgendwie hängt es zusammen.“
    „Und was ist, wenn Kor deine Gedanken nur manipuliert? Wenn er das irgendwie steuern kann, so wie er alles andere auch steuert, wenn das alles nur Hirngespinste sind?“

    So... ein bisschen Gerede und Erinnerungen... aber dafür nicht ganz so kurz wie sonst.
    Und auf das nächste Kapitel (12) dürft ihr euch besonders freuen, dann gibts mal was ganz Neues :D Muss nur noch die Location bauen^^ Und DA freu ich mich dann auf eure Gedanken :D
    Aber nun erstmal viel Freude bei 11 (;


    11


    Das Mädchen regte sich nicht, ihr Blick war starr.
    „Paula. Paula, was ist los?“ Ian fühlte, wie sein Herz sich zusammenzog. „Komm, rede mit mir!“
    „Was macht er mit uns?“ Paulas Stimme war schwach, kaum hörbar. „Er holt uns hier raus, oder? Wenn wir ohnmächtig sind, holt er uns hier raus.“
    „Ich konnte mich erinnern“, hörte Ian seine Stimme sagen, „Ich war aufgewacht und konnte mich irgendwie erinnern. Ich wollte es dir sagen, aber diese Schmerzen, diese Kopfschmerzen. Und diese Ohnmächte.“



    „Er macht uns absichtlich bewusstlos, oder?“ Paula sah Ian jetzt an und in ihren Augen bildeten sich Tränen. Er war froh darüber. Froh, über diese Gefühlsregung, dieses Lebenszeichen, welches ihm die ganze Situation menschlicher, weniger surreal vorkommen ließ.
    „Ich denke, von alleine kommen diese Gedächtnisprobleme nicht. Er manipuliert uns gezielt. Beabsichtigt. Und ganz sicher mit Erfolg.“
    „Ich erinnere mich an gar nichts. An wirklich überhaupt nichts. Es ist nur Leere und Stille da, keine Bilder, keine Erinnerung, nur… nichts.“



    Ian sah zu Boden. Er hasste sich dafür, die Bruchstücke der Erinnerungen wieder gehen lassen zu haben, hasste sich dafür, seine vielleicht einzige Chance nicht nutzen zu können.
    „Vielleicht sind wir schon ewig hier drin. Wir erinnern uns nur nicht. Ian… was ist wenn er uns schon seit Jahren hier gefangen hält?“
    „Tut er nicht.“
    „Was?“ Paula war verdutzt über die Sicherheit in Ians Stimme, fragte sich, wie er ihre ihr doch so berechtigt erscheinenden Vermutungen einfach wegwischen konnte.
    „Tut er nicht. Wir sind noch nicht lange hier.“
    „Wie kannst du dir da so sicher sein?“
    „Die Erinnerung an die Zeit hier drin löscht er nicht aus. Ich kann mich haargenau an alles erinnern, was in diesen Räumen geschehen ist.“



    „Ja, seit gestern.“ Paula fühlte Wut in sich aufsteigen. „Aber woher willst du denn wissen, was davor war, wenn du dich nicht erinnern kannst, woher willst du wissen, dass…“
    „Paula!“ Ians Stimme klang beschwichtigender als gewollt. „Ich kann mich nicht erinnern, aber ich weiß es. Ich habe ein Gefühl, von dem ich nicht glaube, dass er es manipulieren kann, und falls doch, kann ich immer noch sehen.“
    „Sehen? Was meinst du mit sehen?“



    „Überleg doch mal, als du gestern Morgen hier aufgewacht bist, warst du geschminkt. Es war verschmiert vom Weinen, vom Schlafen, vielleicht von einer Auseinandersetzung, aber du hattest Schminke im Gesicht. Ich habe diese Wunde im Gesicht, und sie ist frisch. Hier drinnen werde ich sie mir nicht zugezogen haben, denn hier gibt es nichts zum verletzen, ist dir das aufgefallen? Du warst noch geschminkt und ich frisch verletzt. Er hat uns erst gestern hier her gebracht.“



    Paula schwieg. Sie wusste nicht, wie sie so blind hatte sein können, so ignorant und war wütend, dass sie weniger fähig war, Zusammenhänge zu erkennen, logisch zu denken, als ihr Mitgefangener. Aber er hatte Recht. Es war unwahrscheinlich, dass Kor all das inszeniert hatte. Möglich, aber unwahrscheinlich, nicht anzunehmen. Zwei Tage also erst.

    Naaaa... ziemlich Ebbe in diesem Unterforum seit dem Release von Sims 3, hm? Trotzdem danke ich euch drei für die Kommis :)


    sabeunski: VIelen Dank für dein Lob. Ja, du hast Recht, die Pose auf dem einen Bild ist wirklich nicht so der Bringer.


    Shoshona: Auch dir vielen Dank, schön dass man sich auf Kommis von dir so verlassen kann :) Freue mich jedes Mal!


    FastForward: Wow, du hast echt interessante Gedanken zu der Story :) Und einiges aus deinen Spekulaionen trifft sowas von zu...der Großteil leider nicht, wobei ich das aber echt mega interesant finde und ene hervorragende Idee. Wär ich gar nicht so drauf gekommen :)
    Zufall ist übrigens nichts, aber auch so gar nichts, in der Story... es hat alles seine Gründe... die ich euch nach und nach präsentieren werde... irgendwann ;)
    Viel Spaß noch weiterhin!

    Ich fühlte mich begehrt. Lachte über Phils Witze, erzählte Halbwahrheiten über mich und genoss, dass er nicht wusste, wer ich war.
    Das Zeitgefühl verschwand irgendwann, auch dachte ich über meine Umgebung, meine dröhnenden Ohren und meine brennenden Augen nicht mehr nach.



    Und als mich Phil später am Abend fragte, ob ich mit nach draußen kommen würde, beschloss ich, es darauf ankommen zu lassen.
    Die Nacht war sternenklar und sehr kalt. Wie selbstverständlich nahm Phil meine Hand. Dem ersten Impuls, diese wegzuziehen, widerstand ich und so gingen wir einige Meter schweigend durch die Nacht.



    Ich wusste, was Phil wollte. Und da er wusste, dass ich es wusste, dauerte es nicht lange und wir verschwanden in eine kleine dunkle Gasse.



    Phil drückte mich an die kalte Steinmauer und ich konnte seinen Atem auf meinem Gesicht spüren. Es war nicht unangenehm, und doch konnte ich mit dieser Art, das scheinbare Opfer eines Aufreißertypens zu werden, nichts anfangen.
    War es denn so?



    Wollte ich es nicht auch? Sehnte ich mich nicht nach einem Mann? Einem jungen, hübschen, der mich wollte, weil er mich sympathisch fand und nicht, weil ich eine Hure war?
    Wir küssten uns, und im Alkoholrausch vergaß ich diese Gedanken.



    Dann fuhr er mit der Hand meinen Oberschenkel hinauf...

    Ich beugte mich zu Vera herüber. „Was habt ihr ihr zu trinken gegeben? So ist sie doch sonst nicht.”
    „Sie fand die Bedienung in der Bar ja so toll und deswegen hat sie sich immer neuen Kram bestellt, um einen Grund zu haben, mit ihm zu reden.”
    „Ach so, ich verstehe”, grinste ich. Das Mädchen war wirklich verrückt.



    Noch ein paar Minuten beobachtete ich Maras ausgelassenen Tanzstil, bis Veras Freund Jay auf uns zukam und ihr überschwänglich um den Hals fiel. Es gab ein Küsschen links und ein Küsschen rechts und ich war echt angewidert. Jay war eine der wenigen Personen, die ich überhaupt nicht mochte und ich hoffte sehr, dass Vera seinen Schein auch bald durchblickte.



    „Hey Schnecke”, säuselte Jay und fing an, die rothaarige Frau zu betatschen.
    „Was sitzt’n hier so gelangweilt rum, das ist doch nichts für ein Mädchen wie dich. Komm, lass uns gehen, ich kenne schönere Plätze.”



    Jay packte Vera am Handgelenk und ohne ein Wort von ihr verschwanden die beiden in der Menge. Er passte schon rein äußerlich gar nicht zu Vera, nicht nur, dass er viel kleiner, ungepflegter und schmächtiger als sie war, allgemein gaben die beiden einfach ein schreckliches Bild zusammen ab.



    Aber auch grade sein schleimiger und doch so skrupelloser Charakter wirkte auf mich so abstoßend und gefährlich. Dazu kam ja noch seine Beschäftigung als Dealer, was das Ganze noch einmal doppelt so schlimm machte. Angeekelt drehte ich mich auf meinem Hocker um und wandte mich an den Barkeeper.
    „Einen Whisky bitte… doppelt!”



    Die Technobeats durchfuhren meinen Körper und ich hatte das Gefühl, sie würden meinen Herzschlag beeinflussen, während der DJ unermüdlich versuchte, die jungen Besucher zu noch munteren Tanzen zu bewegen. Die Lichtorgel und Discokugeln wurden nun von einer aufwändigen Lasershow unterstützt und eine Nebelmaschine sorgte für den letzten Schliff.
    Ich schüttete den Whisky herunter und drehte mich lustlos auf dem Barhocker hin und her, als mich plötzlich eine Männerstimme ansprach.



    „Hey du!”
    Ich drehte mich um und sah in zwei hellblaue Augen, die mich von oben bis unten neugierig musterten. „Ich bin Phil. Darf ich mich zu dir setzen?”
    Ich war gelangweilt, fühlte mich alleine und da ich mit der Gesellschaft der Mädchen wohl sowieso nicht mehr zu rechnen hatte, stimmte ich zu.
    Phil schien den Barkeeper zu kennen und orderte zwei Mixgetränke für uns, die er kostenlos bekam.
    „Du bist sehr hübsch”, wandte er sich dann wieder an mich.



    „Danke…” Ich merkte, wie ich ein bisschen rot wurde. Eigentlich war das nicht meine Art, aber Phil war nun wirklich sehr direkt.
    „Wie heißt du?”
    Eine Weile redete ich mit Phil typisches anspruchsloses Discogeschwafel. Der junge Mann war sicher niemand, mit dem man sich auf hohem Niveau unterhalten konnte, aber eine nette Abendbekanntschaft. Er hatte blonde kurze Haare, war etwas größer als ich und recht schlank und wirke auf mich wie ein typischer Discogänger auf Weiberfang. Trotzdem fühlte ich mich bei ihm erstaunlich wohl und nach einigen weiteren Mixgetränken begann ich sogar, die Lasten meines Alttags zu vergessen.



    „Du siehst so hot aus", kreischte sie. "Boah, wie gerne hätte ich deine Figur. Achja - und iiich will dich schminken!”.
    „Mara, du benimmst dich wie sechzehn.”
    „Na und, lass mich. Das macht mir gar nichts.”
    Ich hielt mir demonstrativ die Ohren zu, als sie begann aus vollem Leibe „Sweet little Sixteen” zu trällern. Was hatte ich nur angerichtet.


    -


    Kapitel 6 - Teil 2


    Nach etwa eineinhalb Stunden verließen wir alle die Wohnung, stolperten die Treppe hinunter und ernteten auf der Straße gleich einige kritische, aber auch einige bewundernde Blicke. Ich hatte mich im Spiegel zwar fast nicht wieder erkannt, schminkte ich mich doch normalerweise nicht so stark und auch mein Haar toupierte ich eigentlich nie, aber es war ja nur für einen Abend. Ich hoffte, dass ich mir in der Disco in diesem Outfit nicht allzu verloren vorkommen würde, denn das Butterfly war bekannt für seine eher freizügigen Besucher.



    „Ey, was geht”, rief Mara einigen Autofahrern zu, die auf unserem Weg zur Reeperbahn langsam an uns vorbeifuhren und uns aufmerksam musterten. Wir wirkten sicher wie ein Haufen verrückter Hühner, aber wenigstens waren wir schöne Hühner.



    Vera trug ihre langen roten Haare wie fast immer offen und obwohl ihr Oberteil hochgeschlossen war, wirkte es sehr sexy. Ihre schlichte Jeans betonte ihre langen Beine und allgemein machte sie eher einen edlen, als einen billigen Eindruck. Vanessa war wie immer nicht allzu aufdringlich gekleidet, hatte Mara sie doch heute mit ihrer Euphorie verschont und war über mich hergefallen. Maras kurzer Rock wurde natürlich noch durch Kiras getoppt, der wie immer schon mehr als grenzwertig war. Alle trugen wir hohe Stöckelschuhe, auf denen wir aber mittlerweile perfekt laufen konnten und einen Haufen Schmuck. Ich war gespannt auf die Blicke in der Disco und darauf, was der Abend so bringen würde.



    Mara lief voraus und grölte irgendwelche Partylieder, was Kira dazu brachte, sich die Hand vor den Kopf zu schlagen.
    „Nur, dass ihr es wisst”, merkte sie an, „sie ist nicht meine Schwester. Eigentlich kenne ich diese Person gar nicht, höchstens flüchtig…”
    „Mit so einem Griesgram will ich auch gar nicht verwandt sein”, gab Mara schnippisch zurück und ich fragte mich, wie sie Kira bei ihrem Gegröle hatte verstehen können.
    „Hört auf, euch anzuzicken”, mischte sich Vera übertrieben herrisch dazwischen, während sie sich eine Strähne aus dem Gesicht strich, „sonst kenne ich euch beide nicht mehr.”



    Nach kurzer Zeit kamen wir beim Butterfly an. Draußen vor der Disco herrschte die übliche Reeperbahnatmosphäre, hupende Autos fuhren vorbei, Mädchen wurden angebaggert und es herrschte ein allgemeines Getümmel. Wir drängelten uns durch die vielen Wartenden am Eingang und standen schon ein paar Minuten später in der Disco, die von lauter Technomusik und bunten Lichteffekten durchflutet wurde.



    Mara griff sofort nach Vanessas Hand und zog sie auf die Tanzfläche, während die anderen beiden Mädchen und ich uns den Weg durch die Menschenmassen bahnten, um uns erstmal einen groben Überblick zu verschaffen.
    Kira traf gleich auf einen Bekannten, mit dem sie sich verquatschte und Vera und ich beschlossen, uns an die Theke zu setzen.



    „Ich hätte nicht gedacht, dass es hier mitten in der Woche so voll ist”, schrie Vera mir ins Ohr, um die Musik zu übertönen.
    „Der Laden scheint echt gut zu laufen.”
    Ich nickte zustimmend und blickte mich in der Disco um. Die Tanzfläche war voll leicht bekleideter Mädchen, die teilweise ziemlich verquer zu den Technorhythmen hin und her sprangen. Mara tanzte bereits ausgelassen mit einem etwas steif wirkenden Anzugträger.


    Kommen wir zu einem Kapitel, von dem mir ausnahmsweise mal die Bilder gefallen...
    es ist ziemlich lang und ich wünsche euch viel Spaß!


    Kapitel 6 - Teil 1



    Es war etwa 22 Uhr und ich lag auf der Couch, als die Tür aufflog und alle vier Mädchen hineinstürzten. Sie kicherten und lachten und schienen einen sehr lustigen Tag zusammen gehabt zu haben. Für einen kurzen Moment fühlte ich mich ausgeschlossen, dann aber schmiss Mara sich auch schon zu mir auf die Couch.



    „Wir waren in so einer neuen Bar”, keuchte sie aufgeregt.
    „Du hast echt was verpasst!”
    „Oh ja”, fuhr Vanessa fort, „die Bedienung, so eine geile Sau sag ich dir, o lala. Der Hintern…” „’Netter junger Mann’”, verbesserte Vera sie gespielt streng, „Nicht geile Sau.”
    „Das war ne geile Sau, glaub mir. Da musst du das nächste Mal mit hin, geile Cocktails haben die auch noch.” Mara kam aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus.
    „Lasst doch die arme Lia in Frieden”, rief Kira aus der Küche, kurz darauf ging irgendetwas scheppernd zu Boden und man hörte ein lautes Fluchen. Ich schmunzelte. Die Mädchen waren zurück und die stille Zeit war vorüber. War vielleicht aber auch ganz gut so.



    „Wir wollen gleich noch in die Disco. Ich frag dich gar nicht erst, du wirst mitkommen. Geht ja nicht an, dass du hier nur zu Hause rumhockst. Wir wollen taaanzen.“
    Mara stand auf , zog mich an meinem Arm hoch und tanzte herum.
    „Ach… Disco… ich hab grad erst gebadet, und dann dieser Rauch da…”
    „Versuch es gar nicht, du hast keine Chance”, zwinkerte Vera mir zu.
    „Wir gehen in das Butterfly, den Laden von Hugos Bruder. Und natürlich hat sie Recht, du kommst mit.”



    Mara hüpfte auf und ab wie ein Kind und es war nicht schwer zu erkennen, dass sie schon gut angeheitert war.
    „Wir suchen jetzt welche von deinen neuen Sachen aus”, trällerte sie und begutachtete meinen Körper.



    Bevor ich etwas erwidern konnte, zog sie mich in mein Zimmer, wo ich mich gleich aufs Bett fallen lies.



    Mara durchwühlte meine Einkaufstaschen und schmiss mir ein paar Sachen zu.
    „Das, und das…. Und dieses hier noch. Ach ja, und natürlich die Sandalen.”
    „Wirf die Schuhe nicht, sonst…” Doch es war auch schon zu spät und die Sandalen flogen gegen meine Wand, wo sie einen Kratzer hinterließen.



    „Stell dich nicht an”, verlangte Mara bevor ich überhaupt etwas sagen konnte.
    „Lalala, das wird so schön. Ich zieh’ meinen neuen Rock an. Hihihi, hoffentlich sind geile Typen da.”



    Mit diesen Worten hüpfte sie aus dem Zimmer und ich fiel stöhnend aufs Bett zurück. Dieses Mädchen war heute echt anstrengend. Aber ich hatte natürlich keine Wahl und ein bisschen ansteckend war Maras Laune ja auch, also zog ich mir die Sachen an, die sie ausgesucht hatte, was mich für meinen Geschmack ein wenig zu nackig aussehen lies. Zu der Hotpants und dem weißen Oberteil, das eigentlich nicht viel mehr Stoff hatte, als ein BH, zog ich mir die hellblauen, hohen Sandalen an, die Mara ausgesucht hatte.
    Dann kam Mara auch schon wieder ins Zimmer gestürmt.

    Danke ihr beiden!
    Das nächste Kapitel werde ich gleich reinstellen,w enn nichts dazwischen kommt.


    Nicci: Vielen Dank für dein Lob! Freut mich dass dir die Story gefällt und wünsche dir viel Spaß weiterhin!


    Shoshona:

    Zitat

    Der weisse VW Beetle ist ja echt süss.


    Ja, gell? ;)


    Zitat

    Mara ist ja wohl schon ziemlich kindisch,kommts mir vor.


    Genau so ist es. Gut, dass es rübergekommen ist :D


    Zitat

    Kein Wunder,dass Lia sich minderwertig und schmutzig fühlt nach einer solchen Arbeit,da würde sich wohl jede Frau so fühlen.Was ist das nur für ein Leben?


    Ja, denke auch, dass es leider normal ist bzw ist auf jeden Fall zu verstehen.


    Zitat

    Ob Prostituierte wirklich so viel Geld haben zum Ausgeben,die meisten wohl eher nicht.


    Nein, der Standard ist das nicht und Lia hatte auch nur so viel, weil sie vorher schon ewig nichts mehr ausgegeben hatte, weil sie kaum raus geht. Da hat sie einiges gespart.


    Zitat

    Aber eine schöne Unterwäsche hat sie bei ihrem Kunden getragen


    Freut mich, dass die dir gefallen hat, ich mag sie auch ;)


    Es war ihm so real vorgekommen, er konnte sogar das Parfum der Frau riechen und den Duft der frisch gebackenen Kekse. Es lag sicher noch nicht lange zurück.
    Und wenn es doch nur ein bedeutungsloser Traum war? Wenn er weder Luke war, noch Paula das Baby, wenn dieses Szenario nur seinem kranken Kopf entsprungen war und er an einer Illusion festzuhalten versuchte? Aber bedeutungslose Träume kamen nicht wieder. Sobald er schlief, war er Lukes Stimme, und sobald er schlief, befand er sich in diesem Wohnzimmer.



    Ian riss sich zusammen und stand auf. Beißender Schmerz durchfuhr seinen Kopf und für einen Moment fürchtete er, das Bewusstsein zu verlieren. Er schleppte sich die paar Schritte zur Tür und stellte erleichtert fest, dass sie nicht verschlossen war.



    Das rothaarige Mädchen lehnte an der Wand und zitterte. Ihre Augen waren halb geschlossen und sie starrte in die Leere oder in etwas, was nur sie sehen konnte. Ian fühlte, wie seine Beine unter ihm nachgaben und mit einem Blick auf Paula verlor er wieder das Bewusstsein.


    Durch den Aufschlag auf den Boden erlangte Ian das Bewusstsein wieder. Obwohl er wusste, dass Köpfe nicht die Eigenschaft hatten, zu explodieren, hätte es ihn nicht gewundert, wenn ihm auf einmal sein Gehirn um die Ohren flog.



    Er war sich sicher, noch nie in seinem Leben solche Schmerzen empfunden zu haben. Die Wirklichkeit flackerte vor seinen Augen und er wunderte sich, dass er überhaupt noch etwas sehen konnte.
    „Paula“, hörte er sich keuchen, als er an die Wand robbte. „Kannst du dich… an irgendetwas erinnern?“



    Paula starrte ihn an, aber in ihren Augen war nur Leere. Er wollte ihr erzählen, was sie mit ihm gemacht hatten, wollte ihr erzählen, war er geträumt hatte, aber die Erinnerungen waren weg.
    Alles, was er noch wusste, war, dass er sich nächstes Mal einen Stift und Papier wünschen wollte – wenn er denn noch einen Wunschtag erleben sollte.

    10



    Nur Schwärze. Unglaubliche Schmerzen, die seinen Körper durchfuhren und um ihn herum alles Schwärze. Und dann sah er sie wieder, diese Frau, diese wunderschöne schwangere Frau, die ihn so friedlich anblickte und er begriff, dass er entweder starb oder halluzinierte.
    „Luke“, sagte sie und legte ihre Hand behutsam auf seine Schulter und auf einmal befand er sich wieder in jenem idyllischen Wohnzimmer auf dem Sofa vor dem knisternden Kamin.



    „Hast du eine Idee, wie wir sie nennen sollen?“
    Er verstand erst, als ihr Blick auf ihren gewölbten Bauch fiel.
    „Vielleicht Paula“, hörte er eine Stimme sagen, und dann begriff er, dass es seine eigene war. „In Gedenken an deine Mutter Pauline, dachte ich.“
    Sie antwortete nicht, aber er fühlte, dass sie glücklich war. Auch er empfand Glück, als er sie so ansah, begriff dann aber wieder, dass es nur eine Traumwelt war, in die er da geflüchtet war und wurde jäh vom brennenden Licht in seinen Augen geweckt.



    Ian rappelte sich auf und lehnte sich an die kahle Wand. Seine Knochen schmerzten vom Liegen auf den harten Fliesen und sein Kopf dröhnte. Er wusste weder, wie viel Zeit vergangen war, noch, was in dieser geschehen war, aber ihm wurde schmerzlich bewusst, dass er Gefahr lief, auch die kleinen Erinnerungsfetzen zu verlieren, die als einziges zwischen ihm und der Leere standen, die ihn aufzufressen drohte.



    Er erinnerte sich, dass es nicht das erste Mal war, dass er von dieser Frau geträumt hatte. Wer war sie? Wer war dieser Mann, der so anders aussah als er, der sich so anders anfühlte, als er, und der doch seine Stimme hatte? War er Luke? War es seine Frau, die schwanger war, und die jetzt vielleicht auf ihn wartete, voller Ungewissheit, mit dem Baby im Bauch?



    Ian schlug mit dem Kopf hin und her, als wollte er seine Kopfschmerzen abschütteln. Er erinnerte sich wieder an den Untersuchungsraum, an seine Bewegungsunfähigkeit und an die Frau mit dem weißen Mundschutz, die sich über ihn beugte. War auch das nur eine Halluzination gewesen? Er spürte, wie seine Erinnerungen schwanden, wie bei einem Traum, an den man sich morgens noch erinnert und den man festzuhalten versucht, von dem eine Stunde später aber nichts mehr übrig ist. Er fühlte sich, als würde er den Verstand verlieren.
    Er musste es aufschreiben.



    Ian fluchte, dass es in seinem Gefängnis nichts gab, was man ansatzweise als Stift verwenden konnte, nicht einmal einen Stein oder einen Stock, mit dem man die Erinnerungen irgendwo hineinritzen konnte, und sei es in die eigene Haut.
    Wo war Paula? Vielleicht konnte er ihr alles erzählen und sie würde es für ihn behalten. Sich erinnern, wenn ihm nichts mehr blieb als die traurige Gewissheit, dass da irgendwann mal etwas war, und wenn es auch nur zwei Puzzleteile zu einem unendlich großen Rätsel waren.



    Ian wollte aufstehen, aber die Schmerzen in seinen Knochen und Gliedern übermannten ihn. Was hatten sie mit ihm gemacht? Wer waren „sie“ überhaupt? War Kor vielleicht nicht der Einzige? Waren es zwei, drei oder gar eine ganze Gruppe Menschen, die ihn hier eingesperrt hatten?
    „Paula!“, schrie Ian so laut er konnte, aber seine Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt.
    Zugeschnürt und staubtrocken. Er musste sich dringend bis zum Waschraum schleppen, wenn er nicht dehydrieren wollte. Dehydrieren? War er jemand, der solche Ausdrücke benutzte?



    „Paula!“, rief er noch einmal und dann wurde ihm klar, dass sie den gleichen Namen hatte, wie das Baby aus seinen Träumen. Aber wenn die schwangere Frau Paulas Mutter war, dann konnte er nicht Luke sein. Paula war mindestens sechzehn, vielleicht auch achtzehn oder neunzehn, er konnte unmöglich ihr Vater sein. Oder doch? Vielleicht war er älter, als er dachte?
    Nein. Es fühlte sich auch nicht so an. Sollte sein Traum tatsächlich eine Erinnerung sein, dann eine, die noch nicht lange zurück lag, zumindest keine Jahrzehnte.

    Kapitel 13 – Elena


    Sich glücklich fühlen können auch ohne Glück - das ist das Glück.
    (Marie von Ebner-Eschenbach)



    Endlich war sie gekommen. Elena hatte schon seit Wochen um Unterstützung aus der Familie gebetet. Es war ihr schleierhaft, wie Samanthas Familie sich in solch einer schwierigen Situation so rar machen konnte, aber es stand ihr nicht zu, ihre Meinung darüber zu äußern.
    In ihrer Familie wäre so etwas nie vorgekommen, aber vielleicht lag das auch an dem kulturellen Unterschied.



    Hoffentlich würde sie lange bleiben und nicht bald wieder verschwinden. Samantha brauchte Hilfe. Hilfe, die Elena ihr nicht geben konnte, auch wenn sie sich noch so viel Mühe gab. Sie kannte Catherine noch nicht, traute dieser aber zu, ihre Schwester aufzuheitern.
    Beruhigt und voller Hoffnung richtete Elena das größte Gästezimmer für den Besuch aus England her. Sie bezog das Bett und schnitt frische Frühlingsblumen aus dem Garten, um sie in eine Vase auf den kleinen Tisch zu stellen.
    Catherine sollte sich wohl fühlen.



    Als Elena das Wohnzimmer betrat, hörte sie die Schwestern über alte Zeiten reden. Sie atmete innerlich auf. Endlich schien es mal nicht um Paul zu gehen. Sie beschloss, den Frauen Tee oder Kaffee anzubieten.
    „Cathi, ich habe euch ja gar nicht vorgestellt“, ergriff Samantha das Wort, bevor Elena was sagen konnte.
    „Elena, das ist meine Schwester Catherine. Cathi, das ist Elena, meine Haushälterin. Sie hat viel für mich getan in… der letzten Zeit.“



    Elena gab Catherine höflich die Hand und begutachtete sie dabei genauer.
    Die junge Frau war ungefähr Mitte Zwanzig und wunderschön. Ihre langen braunen Haare waren zu einem Zopf gebunden, der locker über ihre Schultern fiel. Sie war schmal gebaut, aber nicht so dünn wie Samantha und wirkte sehr gepflegt.
    Elena fand es lustig, wie Catherine sich darauf konzentrieren musste, Deutsch zu sprechen und ab und an aus Versehen englische Wörter einwarf, obwohl Deutsch ja ihre Muttersprache war. Auch Elena ging es manchmal so, wenn sie in ihre Heimat Polen zurückreiste und lange kein Wort Polnisch mehr gesprochen hatte.



    „Soll ich etwas zu trinken bringen? Kaffee? Tee? Vielleicht auch Plätzchen?“
    Vorsichtig sah sie Samantha an und hoffte, nicht zu aufdringlich zu wirken.
    „Sehr gerne“, antwortete Catherine, bevor ihre Schwester etwas sagen konnte. „Aber lassen Sie den Tee weg, den kann ich nicht mehr sehen.“
    Sie zwinkerte Elena zu und diese fand die junge Frau sofort sympathisch.
    „Für mich nichts“, sagte Samantha leise und Elena befürchtete, in ihrer Stimme wieder den alten, traurigen Ton zu hören. Es würde noch ewig dauern, bis Samantha wieder unbefangen sein konnte, das wusste sie.



    Nachdem sie den Kaffee serviert hatte, verschwand Elena aus dem Wohnzimmer, um die beiden Frauen nicht zu stören. Sie musste sich eingestehen, dass sie froh war, mal wieder für eine kurze Zeit ohne Verpflichtungen sein zu können. Dass jemand anderes da war, der sich um Samantha kümmerte. Dass sie sich um sich selbst kümmern konnte, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.
    Zum ersten Mal seit November ließ sie sich ein heißes Bad ein.

    The Show Must Go On!
    Habs sogar geschafft heute die nächsten beiden Kapitel fertig zu machen :) Schlechtes Gewissen sei Dank
    Und ja, es gibt zwei Kapitel, weil es so lange keins gab und weil sie auch viel zu kurz wären...
    Bin mit den Bildern sogar relativ zufrieden.
    Also: Let me entertain you... oder einfach: Viel Spaß - falls denn noch jemand mitliest :D


    Kapitel 12 - Samantha

    You can not control emotion, because emotion is what controls you.
    (L. Selmon)

    -




    Begeistert war Samantha nicht, als Catherine vom Flughafen in London anrief und ihr mitteilte, dass sie sie besuchen würde, aber sie sagte auch nichts dagegen. Sie mochte ihre kleine Schwester, und das bevorstehende Wiedersehen erfüllte sie sogar ein bisschen mit Freude.
    Aber sie wusste auch, dass Cathi eine traurige, depressive Samantha nicht akzeptieren würde und wahrscheinlich Dutzende Anstrengungen unternehmen würde, sie aufzuheitern.



    Samantha mochte gar nicht daran denken. Natürlich brauchte sie Abwechslung, Unterhaltung, Spaß, das wusste selbst sie, aber sie hatte einfach keine Lust darauf. Hatte keine Lust auf Cathis aufgedrehte, extrovertierte Art und wollte auch nicht, dass Cathi sie so sah.
    Dass Elena wusste, dass Samantha sich gehen ließ, unregelmäßig schlief und zu wenig aß, war schon schlimm genug. Aber Elena war eine Angestellte, es ging sie einfach nichts an. Catherine dagegen war Familie. Und Samantha wusste, dass sie sie darauf ansprechen würde; dass sie den Zustand ihrer Schwester nicht akzeptieren würde, ihr vielleicht sogar Vorwürfe machen würde.



    Höchstwahrscheinlich würde sie sie dazu drängen, aus dem Haus zu gehen, sich zu amüsieren.
    Amüsieren.
    Wie sollte man sich amüsieren, wenn die Liebe des Lebens grade von Würmern aufgefressen wurde? Wie sollte man Spaß haben, wenn man wusste, dass das Leben eigentlich vorbei war? Dass es sich für nichts mehr zu leben lohnte?
    Sie wusste nicht, wie sie Catherine das erklären sollte.



    Es war kurz nach 16 Uhr an diesem Samstagnachmittag, als Catherine Farrel ihre zahlreichen Koffer vor der Tür des riesigen Hauses abstellte und auf die Klingel drückte.
    Nach wenigen Sekunden öffnete Elena ihr und bat sie herein.
    Samantha hatte ihre Haare etwas ordentlicher zurückgesteckt, um einen guten Eindruck auf ihre Schwester zu machen, außerdem hatte sie sich dazu überwunden, einigermaßen frühlingshafte Klamotten anzuziehen. Als Catherine das Haus betrat, kam sie grade die Treppe herunter.



    Die Schwestern fielen sich in die Arme. Es war zu viel Zeit vergangen seit ihrem letzten Treffen.
    Samantha wusste, dass Catherine sie kaum noch erkannte, aber diese ließ sich jedenfalls im Moment noch nichts anmerken.
    „Es ist so schön, hier zu sein“, sagte sie sanft. „Ich habe euch so vermisst.“
    „Ich habe dich auch vermisst“, entgegnete Samantha der Wahrheit entsprechend und bat ihre Schwester ins Wohnzimmer, wo sie sich auf den gelben Sofas niederließen.



    Catherine ließ sich die Erschöpfung nach ihrer Reise nicht anmerken und ließ ihre Blicke neugierig und bewundernd durch den Raum schweifen.
    „Ihr habt ein schönes Haus“, sagte sie.
    Samantha bemerkte den Fehler in ihrem Satz, berichtigte sie aber nicht. Ja, sie hatte Recht. Er war noch hier.

    Kapitel 5 - Teil 2


    Überpünktlich erschien ich beim Beverly und hatte noch genug Zeit, mich angebracht herzurichten und zu schminken. Ich traf mich mit Günther, einem durchschnittlichen Stammkunden.



    Als ich mich gestylt hatte und wieder in den Eingangsbereich des Hotels ging, in dem heute nicht Stupsi, sondern die andere Rezeptionistin, eine graue, streng aussehende ältere Frau ohne jegliche Besonderheiten saß, wartete er schon auf mich.



    Günther war Mitte vierzig, schüchtern und ein mittelständischer Familienvater ohne nennenswerte Probleme. Eigentlich der typische Kunde, auch wenn der normale Bürger bei dem Wort ‘Freier’ nicht an einen normalen Mann wie Günther denken würde. Ich mochte ihn, wenn man denn von mögen reden kann, denn er war kaum anspruchsvoll, bezählte immer ein bisschen mehr und war schnell wieder verschwunden. Ein Kunde wie man ihn sich wünschte also.
    Der Mann und ich verlangten den Zimmerschlüssel von der grauen Rezeptionistin, die uns wie immer einen herabwürdigenden Blick zuwarf und verschwanden im Hotelzimmer.



    Es war eine schnelle Routinearbeit, in der ich meine Seele mittels Gedankenkraft wieder ganz weit weg an einen Traumstrand beamte. Ich erinnere mich nicht an viele Details dieser gefühslosen Momente. Ich weiß nur, dass meine Seele tot zu sein schien.


    Eine halbe Stunde später befand ich mich auch schon wieder auf dem Heimweg.



    Der Wind war nun kälter und stärker geworden und in trotz meiner dickeren Klamotten wurde mir plötzlich sehr kalt. Graue Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben und ließen den Tag trist und langweilig wirken.
    Ich schlang meine Arme und mich und ging ein wenig schneller. Der Wind blies einige Blätter von den Bäumen, die die Straße entlang wirbelten. Autos huschten vorbei, scheinbar ziellos, irgendwie sinnlos.



    Ich fühlte mich plötzlich unwohl und fehl am Platze und fing an in kleinen Schritten zu laufen, den Kopf gesenkt und gegen den Wind. Das schöne angenehme Gefühl von vor so kurzer Zeit war wie weggeblasen und ich fühlte mich irgendwie minderwertig, obwohl ich es mir nicht richtig erklären konnte. Nun begann es zu regnen, erst ein paar kalte Tropfen, dann immer mehr.


    Als ich nach einiger Zeit endlich die Haustür aufschloss und in den Hausflur stolperte, fühlte ich mich so gehetzt wie lange nicht mehr. Ich beschloss, mir ein heißes Bad mit Kerzen zu machen und mich erstmal eine Runde zu entspannen.



    In der WG war es ziemlich ruhig, scheinbar war niemand zu Hause. Ich genoss die Stille, legte leise Musik auf, machte Kerzen an und ließ ein Vollbad mit extra viel Schaum einlaufen. Ich erinnerte mich nicht daran, wann ich das letzte Mal gebadet hatte, es musste ewig her gewesen sein und so freute ich mich ganz besonders darauf.
    Ich genoss es, wie das heiße Wasser meine Haut umspülte.



    Irgendwie fühlte ich mich dreckig und so nahm ich einen Schwamm und wusch mich immer wieder ab, gab es aber dann irgendwann auf und lehnte mich einfach nur zurück und schloss die Augen. Ich beschloss, dass sie Welt da draußen mich mal kreuzweise konnte, ich würde mich ganz sicher nicht unterkriegen lassen.



    „And you can’t fight the tears that ain’t coming, or the moment of truth in your lies. When everything seems like the movies, you bleed just to know your alive”, sang ich leise das Lied auf der CD mit.
    „And I don´t want the world to see me, ‘cause I don’t think that they’d understand. When everything’s made to be broken, I just want you to know who I am...”