„Aber du brauchst doch einen richtigen Job!” Sie tat entrüstet.
Natürlich, es konnte ja nicht sein, dass ihre Tochter eine von den Menschen am unteren Ende der Angesehenheits-Skala geworden war. Aber brauchte ich auch nicht irgendwo viel mehr eine richtige Mutter? Eine Familie? War es nicht das, was mir fehlte?
„Ich habe mich bei einigen Stellen beworben, Mama. Es sind ein paar Vorstellungsgespräche in Sicht”, log ich.
„Oh, wie schön. Hihi, das freut mich für dich. Es geht dir doch gut?!”
„Ja, natürlich geht es mir gut, Mama.”
„Das ist schön zu hören, Schätzchen. Ich muss dann auch mal wieder auflegen, du weißt ja, der Haushalt und alles, man ist doch immer beschäftigt.”
„Natürlich Mama. Man sieht sich ja dann”, antwortete ich mit dem Wissen, sie nie wieder zu sehen. „Ja, ich hab dich auch lieb.”
Kapitel 7 - Teil 3
Am Abend hockten Vanessa, die sich mittlerweile wieder abgeregt hatte, die beiden Schwestern und ich auf der Couch vorm Fernseher rum. Mara aß Chips und machte Kira mit dem Knistern der Tüte wahnsinnig, während diese sich die Nägel lackierte. Vanessa lag in ihrem Pyjama zusammengerollt auf dem anderen Sofa und wir beide verfolgten mehr oder minder gespannt eine langweilige Soap.
Es war also ein ganz normaler Abend, ohne Vera, die, wie wir vermuteten, sicher bei Jay war und sich dort amüsierte. Sie war immer gegen Drogen gewesen und ich fand es absolut unverständlich, wie sie sich nun mit einem dreckigen Dealer abgeben konnte, aber das wusste wohl nur sie selbst. Sein roter Sportwagen war eines von Veras Lieblingsargumenten, aber eigentlich wussten wir alle, dass Vera nie dermaßen oberflächlich gewesen war. Vielleicht hatte sie sich geändert. Vielleicht war es auch was anderes. Ich beschloss, nicht mehr so viel darüber nachzudenken.
„Mensch kannst du mal aufhören zu fressen?!”, schrie Kira plötzlich Mara an und wir alle zuckten erschrocken zusammen. „Das macht mich voll kirre, ich vermal mich dauernd. Du bist sowieso schon fett genug, du isst ja nur noch!”
„Ach halts Maul”, gab Mara zurück, „besser als so ein abgemagertes Stück wie du.“
„Du bist doch fresssüchtig”, brüllte Kira, den Nagellackentferner aufdrehend. „Schau, wie viel du in dich reinstopfst! Das ist doch nicht normal. Niemand isst so viel wie du, das ist ja eklig. Und mit so was bin ich auch noch verwand, ich fasse es…”
„Könnt ihr mal die Fressen halten!?!”, schrie Vanessa auf einmal dazwischen und übertönte selbst Kira. „Ihr benehmt euch wie die Kleinkinder, meine Güte. Ich will hier fernsehen!”
Kira und Mara verstummten und wir drei sahen uns erstaunt an. Was war bloß mit der sonst so stillen Vanessa los? Noch nie hatte ich sie schreien hören. Was war passiert?
„Was geht’n mit dir Mädel?”, fragte Kira, nachdem die erste Schrecksekunde vorbei war.
„Ach, lasst mich doch alle in Ruhe!”, keifte Vanessa, während ihr Tränen aus den Augen schossen und sie aufstand, um in ihr Zimmer zu rennen, doch Mara sprang ebenfalls auf und hielt sie fest.
„Was hast du denn?”, fragte das blonde Mädchen und zog ihre Freundin wieder auf das Sofa. „Was ist passiert?”
„Ach nix man”, schmollte Vanessa.
Kira tat desinteressiert und wischte an ihren Nägeln rum, aber ich wusste genau, dass sie heimlich sehr neugierig war, was Vanessa so durcheinander brachte. Auch ich war gespannt und sah das verheulte Mädchen an, das auf mich auf einmal einen heruntergekommenen Eindruck machte. Ich hatte das Gefühl, sie war viel blasser als sonst, hatte ihre schwarzen Haare zu einem unordentlichen Dutt gebunden und ihre Hautunreinheiten heute ausnahmsweise mal nicht überschminkt.
„Man ich hab’ halt ‘nen bisschen Stress okay?!” Vanessa schien nicht reden zu wollen und Mara nahm sie tröstend in den Arm.
„Du weißt, dass du mir alles erzählen kannst, ja? Egal was es ist.”
Vanessa schwieg eine scheinbar endlos lange Zeit, dann nahm sie jedoch ihren Mut zusammen und erzählte uns, was sie so belastete.
„Vera hat herausgefunden, dass ich mit manchen Kunden ohne Kondom schlafe.”
„Du tust was?!” Maras Augen weiteten sich und auch ich traute meinen Ohren nicht.
„Ja man ich weiß, dass wir das nicht sollen, aber manche bezahlen weit über 100 extra.”
„Bist du noch zu retten?”, fragte Mara entsetzt. „Warum machst du das?”
Vanessa liefen wieder Tränen über die Wangen. Sie schaute zu Kira, die sich oberflächlich unbeeindruckt zeigte und sich weiter ihren Fingernägeln widmete, und dann zu mir. Ihr Blick war teils verlegen und teils hilflos und obwohl ich echt schockiert war, tat sie mir Leid.
„Hast du mal an die Krankheiten gedacht?”, fragte Mara weiter.
„Ja man, ich denke die ganze Zeit daran, denkst du ich finde das toll?! Mara… meiner Familie geht’s nicht so gut, du weißt, dass sie kein Geld haben und mein Vater ist krank. So verdiene ich etwas extra, was ich ihnen zuschicke. Ich will ihnen doch nur helfen…” Sie gestikulierte wild, schluchzte und Mara nahm sie wieder in den Arm.
„Du bist ein viel zu guter Mensch”, flüsterte sie. „Aber das darfst du nicht machen. Wir kriegen das anders hin, ich kann dir ein bisschen Geld geben… wir finden einen Weg. Setz deine Gesundheit nicht so aufs Spiel, das wollen deine Eltern doch auch nicht.” Vanessa nickte langsam und vergrub ihr Gesicht in Maras Schulter. Ich war überwältigt von der Freundschaft der beiden, und wie toll sie miteinander umgingen. Es musste so unglaublich schön sein, eine richtig gute Freundin zu haben.