Als ich am nächsten Morgen aufwachte, erinnerte ich mich erst nach einem kurzen Moment an den gestrigen Abend. Irgendwie hatte ich das Gefühl, alles nur geträumt zu haben, war es doch auch so unwirklich erschienen, was mitten in der Nacht in meinem Zimmer vor sich gegangen war.
Es war nun kurz vor neun Uhr und noch relativ dunkel, was darauf hindeutete, dass es wirklich langsam auf die kalte Jahreszeit zuging, die ich so hasste.
Man musste sich immer warm anziehen, ich konnte meine Lieblingsklamotten nicht tragen, dauernd waren die Finger und Füße eingefroren, die Tage waren viel zu kurz, das Wetter viel zu schlecht und die Menschen dauernd mies gelaunt. Im Sommer war doch alles irgendwo so viel einfacher, unbeschwerter. Wenn es dann auch noch Adventszeit wurde, brach für mich der allerschlimmste Monat des Jahres an, denn Weihnachten war das Fest der Liebe, das Fest der glücklichen Familien, das Fest der Zusammengehörigkeit. Nur ich hatte niemanden. Weihnachten war grässlich. Aber zum Glück war es ja noch über zwei Monate hin. Noch würde ich mir meine Laune davon nicht verderben lassen. Dafür waren im Moment andere Themen zuständig.
Ich war noch sehr müde, zwang mich aber aufzustehen, mir wahllos irgendwelche Klamotten überzuwerfen und schleifte durch mein Zimmer und in die Küche. Kira und Vanessa saßen am Tisch, es lief leise Popmusik und die Stimmung wirkte irgendwie verkrampft.
„Morgen”, murmelte ich und bekam ein genuscheltes „Moin”, von Kira zurück, die sich mal wieder ihre Fingernägel polierte, wobei sie Stunden zubringen konnte, ohne auch nur aufzusehen.
Vanessa hatte ihre schwarzen Haare zu einem unordentlichen Dutt gebunden und starrte abwesend aus dem Fenster.
Ich holte mir ein Glas aus dem Schrank und kippte Milch hinein, die das durchsichtige Glas weiß anzumalen schien.
„Kira… haben die echt… geheiratet?!”, fragte ich dann vorsichtig, als ich die Milch zurück in den Kühlschrank stellte.
„Mhm…”, erwiderte das blonde Mädchen scheinbar unbeeindruckt ohne hochzuschauen, wie es ihre Art war. Ich lehnte mich an die Küchentheke und sah die beiden Mädchen am Tisch an.
„Aber… ich mein… einfach so?” Ich konnte es überhaupt nicht fassen, es wollte nicht in meinen Kopf. „Ohne jemandem davon zu sagen? Die kennen sich doch ka…”
Kira sah hoch und unterbrach mich, und erst jetzt sah ich, dass sie heute ungeschminkt war, was in den zwei Jahren noch nie vorgekommen war.
„Ja”, meinte sie dann mit überraschend fester Stimme. „Ja. Einfach so. Diesen dreckigen Typen. Ohne was zu sagen. Ohne nachzudenken.” Sie wurde lauter, stand auf und schien auf einmal ziemlich aufgebracht zu sein. „Kann man sich das vorstellen?! Nein. Ich glaube es nicht. Das ist… krank. Die Frau ist krank.”
Kira schrie nun fast, stand auf und schmiss ihre Polierfeile auf den Küchenboden.
„Diesen beschissenen Dealer. Was der wohl in sie reingepumpt hat, dass sie ja gesagt hat. Es ist alles vorbei, jetzt kann sie’s voll vergessen, da kommt sie nich’ wieder raus. Hallo?… Heiraten, ja. Heiraten. Wie kommt man auf so was? Warum? Weil er nen Sportwagen fährt?” Kira lief durch die Küche und schien zu überlegen, ob sie sich wieder hinsetzen sollte, doch sie regte sich immer mehr auf und dann trat sie mit voller Wucht gegen den Kühlschrank.
„Ich fass es einfach nicht. Wie lange kennen die sich? Ein paar Wochen?!”
„Kira, beruhig dich”, versuchte ich, ihre Wut zu dämpfen. „Es ist nicht unsere Sache. Vielleicht… lieben sie sich?” Kira fing an, gezwungen zu lachen.
„Ja. Lieben. Klar. Die. Grade die beiden. Sicher. Ich glaub ich dreh hier durch!!” Den letzten Satz schrie sie so laut, dass ich zusammenzuckte, dann nahm sie einen Kochtopf, der auf der Küchentheke stand und schmiss ihn mit voller Wucht auf den Boden.
„Ich hasse sie.” Mit diesen Worten rannte sie aus dem Raum und knallte die Tür.
Ich sah zu Vanessa, die die ganze Zeit über noch nichts gesagt hatte und völlig unbeteiligt schien, und sah, dass ihr eine Träne die Wange hinunter lief.
War dieses das Ende? Auf einmal durchfuhr mich eine ungeheuer große Angst. Was war, wenn jetzt alles zerbrechen würde? Alles, was mein Leben noch ausmachte.
„Ich weiß, dass sie Drogen nimmt”, gab Vanessa leise von sich, während sie weiterhin das Fenster fixierte. „Schon länger.”
„Was?!” Ich setzte mich zu dem Mädchen an den Tisch.
„Solche Pillen. Neuerdings besorgt er ihr Kokain. Sie ist total kaputt, Lia.”
Ich schluckte und griff nach Vanessas Hand, doch sie zog sie weg.