Auf keinen Fall, entschied Vicki, aber woher sollte sie das wissen? Sie hätte auch Kirstens erste Periode nicht mitbekommen, wenn die Haushälterin sich nicht über die Binden beschwert hätte, die die Toilette verstopften.
Kirsten war diesbezüglich eher zurückhaltend und vertraute sich ihrer Mutter nur selten an, womit Vicki keine Probleme hatte. Wenn sie etwas wissen will, weiß sie, wie sie mich erreichen kann, sagte sie sich. Zumindest weiß sie, wo ihre Mutter ist, was mehr ist, als ich von meiner Mutter behaupten könnte.
„Sie spielt die Hauptrolle in der Theateraufführung ihrer Schule“, sagte Vicki laut, als sie ihres inneren Monologs überdrüssig wurde. „Die Nancy in Oliver! Erinnerst du dich an das Musical Oliver!?“ „Oliver, Oliver“, sang sie leise, und ihr Vater wippte zu dem langsamen Rhythmus mit dem Kopf. „Nun, sie hat zum Glück eine bessere Stimme als ich, obwohl ich gestehen muss, dass ich die Vorstellung eines dreizehnjährigen Mädchens, das singt: ‚So lange Bill mich will’, irgendwie erschreckend finde. Ich schaue es mir jedenfalls heute Abend an. Es ist die letzte Vorstellung. Zur Premiere habe ich es nicht geschafft. Sie war am Mittwoch, und ich musste lange arbeiten, deshalb…“ Vicki brach ab, als sie sah, dass die Augen ihres Vaters langsam zufielen. „Daddy? Daddy, schläfst du?“
„Du bist sehr beschäftigt“, sagte er fast so, als hätte er zugehört.
„Wie dem auch sei“, fuhr Vicki fort, „wir gehen alle zusammen. Jeremy und Josh. Der ist in der Schule bis jetzt noch keine große Leuchte, aber das kann ja noch werden, wer weiß. Es sind schon seltsamere Dinge geschehen. Meine Freundin Susan mit ihrem Mann und Barbara und die Kinder kommen auch mit. Nur Chris nicht“, sagte Vicki mit sinkender Stimme. „Seit sie aus der Grand Avenue weggezogen sind, hat niemand je wieder etwas von Chris gesehen oder gehört. Als ob sie sich in Luft aufgelöst hätte.“
Wie eine andere Person, die wir kennen, dachte Vicki.
„Ich werde sie besuchen“, sagte sie plötzlich.
„Was? Du musst lauter sprechen“, verlangte ihr Vater, während Vickis Tränen, die ihr schon eine Weile in den Augen standen, überzufließen drohten. Hast du mich gehört? Ich sagte, du sollst lauter sprechen. Meinst du, ich lasse dich mit diesen Noten auf den Ball gehen?
Vicki wartete, bis sie ihre Tränen wieder unter Kontrolle hatte, bevor sie sprach. „Ich sagte, ich werde sie besuchen.“
„Oh“, meinte ihr Vater, ohne weitere Ausführungen zu erwarten. Kein Interesse an Erklärungen.
„Mutter“, sagte Vicki und spürte das Gewicht des Wortes auf ihrer Zunge.
„Du bist sehr beschäftigt.“
„In Louisville.“ Vicki sprach jetzt nur noch für sich selber weiter. „Ich glaube zumindest, dass sie es ist. Sicher kann ich mir natürlich erst sein, wenn ich sie sehe und mit ihr spreche. Ich habe sie schon seit einiger Zeit von Detektiven suchen lassen. Immer mal wieder. Vor ein paar Jahren glaubte man, sie auf einer Insel vor der Küste von Spanien entdeckt zu haben, aber sie war es nicht. Sie war zwar eine Amerikanerin, auf die die allgemeine Beschreibung und alles passte, aber sobald ich die Bilder gesehen habe, wusste ich, dass sie es nicht war.“
„Die Frau in Spanien war viel zu groß. Aber diese Frau aus Louisville klingt so, als könnte sie es sein. Sie hat die richtige Größe und das richtige Alter und nennt sich Rita Piper, was ja Mutters Mädchenname ist. Hört sich an, als könne sie es tatsächlich sein. Und auf den Fotos, die der Detektiv mir geschickt hat, sieht sie so aus, wie sie heute aussehen könnte. Es fällt mir natürlich schwer, mich zu erinnern, weil ich noch so klein war, als sie uns verlassen hat, aber –„ Vicki hielt abrupt inne. „Das ist dir doch eigentlich gleichgültig, oder?“, fragte sie. „Es ist dir vollkommen gleichgültig. Deswegen hat sie dich verlassen, stimmt’s?“
Noch ein Teil...