Veronaville, zehn Uhr morgens. Es ist die Stunde des Jägers.
Als ich mich vorsichtig und langsam heranschleiche, hört man keinen Laut. Kein Vogel flattert erschreckt davon, kein verräterischer Zweig zerbricht knackend unter meinem Schritt.
Wie ein Raubtier lauere ich im Schutz des dichten Gebüsches auf meine erwählte Beute, die kostbare Kamera fest an mich gepreßt. Meine Haut kribbelt wie elektrisiert. Meine Sinne sind geschärft. Nichts entgeht mir.Jetzt gibt es nur noch sie und mich.
Sie.
Bianca Monti.
Gerade eben lehnt sie sich über den Zaun und unterhält sich mit einer Nachbarin. Ich bin zu weit entfernt, um zu verstehen, was sie sagt, aber meine treue Kamera fängt die ganze Szene zuverlässig ein.
Von außen wirke ich ruhig und gelassen, aber mein Herz klopft vor Aufregung schneller. Hinter der Kamera schleicht sich ein triumphierendes Lächeln auf mein Gesicht. Denn wieder einmal habe ich erfolgreich bewiesen, daß mir nichts verborgen bleibt von dem was sie tut.
Ich bin ihr unsichtbarer Begleiter, ihr Schatten. Bin ihr Schutzengel.
Aber sie weiß es nicht.
Ein lautes Motorengeräusch reißt mich aus meinen Gedanken. Instinktiv drehe ich mich in die Richtung, aus der ich es vernommen habe. Das Geräusch stammt von einem klapprigen alten Lieferwagen mit der Aufschrift "Möbel Maxe". Und der Wagen hält ausgerechnet vor dem Haus, in dem die arme Sybil Arraval vor einigen Jahren auf so grausame Art aus dem Leben geschieden ist.
Während ich noch überlege, ob ich die Möbelpacker auf ihren offensichtlichen Irrtum aufmerksam machen soll - immerhin steht das Haus trotz seiner guten Lage nun schon seit einer Ewigkeit leer - steigt doch tatsächlich so eine mollige Brünette aus, betrachtet das Haus zufrieden und gibt den Möbelpackern Anweisungen. Geistesgegenwärtig reiße ich meine Kamera hoch.
Wer ist diese Frau? Will sie hier allen Ernstes einziehen? Schreckt der grausame Mord sie nicht ab?
Weiß sie überhaupt davon?
Bianca Monti ist vergessen. Mich beschäftigen jetzt ganz andere Fragen. Hat das Arraval-Haus tatsächlich einen Käufer gefunden?
Und noch viel wichtiger:
Wie kommt es, daß ich davon nichts weiß?
Mein Atem geht schneller. Mehr, ich muß mehr über sie erfahren!
Dank dem neuen Teleobjektiv kann ich die Papiere heranzoomen, die ihr einer der Möbelpacker zur Unterzeichnung vorlegt, und so finde ich heraus, daß ihr Name Linda Müller lautet. Aber das genügt mir nicht.
Als sie daher am nächsten Tag mit dem Taxi davonfährt, erachte ich die Gelegenheit für günstig.
Schon praktisch, so ein Nachschlüssel. Von außen wird man keine Spuren meines Eindringens nachweisen können. Ich muß nur darauf achten, keine Unordnung im Haus zu hinterlassen. Denn ein Schutzengel wie ich wacht im Verborgenen.
Man sieht ihn nicht.
Er sieht alles.
Vom Flur aus komme ich in ein kleines Arbeitszimmer. Anerkennend mustere ich das moderne Gemälde an der Wand. Sieht teuer aus.
Der Computer auf dem Tisch hingegen ist recht billig, eines dieser Komplettpakete für Einsteiger. Computer gehören also nicht zu Lindas herausragenden Interessen. Sie wird ihn für die Arbeit brauchen. Wahrscheinlich kennt sie sich nicht besonders gut damit aus. Ich ziehe einen Moment lang in Erwägung, den Computer einzuschalten und auf der Festplatte nach interessanten Dateien zu suchen. Aber ich weiß nicht, wie viel Zeit ich habe. Linda kann schon bald zurückkommen, und da will ich lieber zuerst noch die übrigen Zimmer begutachten.
Nur das Telefon hebe ich kurz hoch und lausche in den Hörer. Noch nicht freigeschalten. Typisch. Bei mir hat das damals auch fast zwei Wochen gedauert, obwohl ich das Formular pünktlich eingeschickt hatte. Ich gestatte mir ein kurzes Lächeln, bevor ich das Zimmer für meine Akten ablichte.
Weiter geht es ins Wohnzimmer. Modern eingerichtet, so wie auch schon das Arbeitszimmer davor. Hier will wohl jemand einen jugendlichen, positiven Eindruck vermitteln. Hätte ich Linda gar nicht zugetraut.
Ich sehe mich weiter im Wohnzimmer um und nehme besonders das Bücherregal unter die Lupe. Darin finden sich unzählige Ratgeber. Für mehr Selbstbewußtsein, für schöneres Wohnen, für glückliche Partnerschaft...
Mir drängt sich der Gedanke auf: hier will jemand sein Leben umkrempeln, und zwar radikal.
Zwei Sachen fallen mir besonders auf, da sie im Wohnzimmer ein bißchen deplatziert wirken. Das eine ist ein großer Plüschbär. Ein Glücksbringer aus Lindas Kindheit? Aber dafür sieht er zu neu aus.
Einer der Ratgeber bringt mich schließlich auf die richtige Spur. Darin heißt es, eine Frau die sich Kinder wünscht, wird leichter schwanger wenn sie bereits ein Kuscheltier für das Wunschkind besitzt. Angeblich fühlen sich dann die Seelen der zukünftigen Kinder in der Wohnung willkommen. Klingt ziemlich esoterisch. Aber Linda scheint daran zu glauben, oder aber sie wünscht sich so sehr Kinder daß sie bereit ist alles auszuprobieren, egal wie seltsam es sich anhört.
Und dann ist da noch das Klavier. Es ist alt, aber als ich probeweise eine Taste anschlage, stelle ich fest, daß es perfekt gestimmt ist. Die auf dem Klavier liegenden Noten sehen alle recht kompliziert aus. Offenbar lernt Linda also mindestens seit fünf Jahren Klavier. Die Noten sind abgegriffen, sie spielt daher vermutlich oft und gerne.
Die Küche, in hellen und freundlichen Farben gestrichen, ist von der gleichen mustergültigen Ordnung, die mir schon in den übrigen Zimmern aufgefallen ist. Schlampig kann man Linda also wahrlich nicht nennen. Selbst der Geschirrspüler ist ausgeräumt und die Herdplatten sind geputzt.
Keiner von den sonst in der Siedlung üblichen Gasherden, sondern ein elektrischer. Wenn Linda sich extra Mühe gemacht hat, den Herd auszutauschen, dann spielt sie wohl nicht so gern mit dem Feuer. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie ist schüchtern, auf Sicherheit bedacht, will ihr Leben umkrempeln, aber so ganz traut sie sich noch nicht drüber.
Der Verdacht erhärtet sich, als ich ihr Allerheiligstes betrete. Das Schlafzimmer wirkt romantisch und fast schon kitschig, ein ziemlicher Gegensatz zu der übrigen Wohnung. Linda ist sich wohl selbst noch nicht so ganz über ihre Zukunft im Klaren. Hin- und hergerissen auf der Suche nach ihrem wahren Selbst, zitiere ich gedanklich mit süffisantem Grinsen aus einem der Ratgeber.
Wie sich Linda wohl in den nächsten Wochen und Monaten entwickeln wird? Ich nehme mir vor, sie im Auge zu behalten, und ihre Schritte zu überwachen, so wie ich es mit Bianca tue. Nichts von ihr soll mir mehr verborgen bleiben, gar nichts.
Schon bald werde ich sie besser kennen als sie selbst sich kennt.
Ein kurzer Blick ins Badezimmer beendet meinen Rundgang. Es war das letzte Zimmer in der Wohnung, und nun muß ich noch achtgeben daß mich niemand beim Verlassen des Hauses sieht. Einen Moment lang spiele ich mit dem Gedanken, das flauschigweiße Badetuch mitzunehmen. Eine Art Trophäe sozusagen.
Ich mache es dann doch nicht.
Linda Müller soll schließlich nicht wissen, daß jemand ihr Haus betreten hat.
...noch nicht.