"Später wird übrigens noch ein weiterer Gast zu uns stoßen", sagte Martha. "Ein Geschäftspartner von Conrad. Er konnte sich leider nicht schon früher frei machen. Er ist Rechtsanwalt, genau wie mein Sohn und immer fürchterlich beschäftigt."
"Oh je", dachte Marietta, "nicht noch mehr Grabgemüse! Die Alten sind ja ganz nett, aber allem Anschein nach gibt es hier in diesem Kaff kaum junge Leute."
"Nach dem Essen müssen wir unbedingt in den Wintergarten gehen", schlug Martha vor. "Wie ich höre, ist unsere Marietta hier eine richtige Künstlerin. Sie liebt Gedichte und schreibt sogar selbst welche, auch Lieder schreibt sie. Und sie kann ganz ausgezeichnet Klavier spielen. Sie müssen unbedingt für uns spielen, Kleines!"
Marietta wollte schon beschämt ablehnen, aber nach einem strengen Blick ihrer Mutter sagte sie: "Ja, gerne, aber so gut bin ich wirklich nicht."
"Eine Dichterin?" Raj lachte und wandte sich zu Elaine. "Naja, um ehrlich zu sein. Gedichte habe ich nie richtig verstanden. Die sind immer so wirr. Ich habe mich immer gefragt, warum die Dichter absichtlich so schreiben, dass sie niemand versteht!"
"Gedichte liegen mir auch nicht so besonders", antwortete Elaine.
"Ich bin halt einfach durch und durch Naturwissenschaftler", sagte Raj. "Mathematik, Physik und Informatik, alles kein Problem. Aber hohe Literatur? Das ist für mich ein Buch mit sieben Siegeln."
"Ach ja", sagte Elaine. "Martha erwähnte bereits, dass Sie mit Computern arbeiten. Was genau machen Sie denn da?"
"Ich bin Software-Entwickler und Programmierer. Das heißt, ich sorge dafür, dass Sie immer neue und aktuelle Programme bekommen und dass die dann auch mehr oder weniger gut laufen", erklärte Raj.
"Das hört sich interessant an", entgegnete Elaine, "ich arbeite zwar auch viel mit dem Computer, aber ich bin froh, wenn das Ding funktioniert. Ich arbeite als Rechtsanwalts- und Notarsgehilfin."
"Was für ein Idiot!" dachte Marietta. Darauf brauchte sie erst einmal einen Schluck Wein. Trocken wie ein Stück Knäckebrot dieser Typ, hatte nur seine Zahlen und seine Computer im Kopf. Ein richtiger Nerd.
Es war ja klar, dass Elaine dieser Langeweiler auch noch zu gefallen schien. Ein Mann, der keine Gedichte mochte, war nicht romantisch. So einer brachte es fertig und schenkte einem zum Hochzeitstag ein neues Bügeleisen. Brrr! Marietta schauderte. Und sein Bruder hielt sich für unheimlich hip und trendy. Musikredakteur! Der hatte bestimmt jede Woche eine andere. Na ja, den Abend würde sie überleben, aber eins stand fest. Hier in diesem Nest würde sie ihrem Traumprinz en ganz bestimmt nicht begegnen!!
Nach dem Essen blieben alle noch eine Weile im Esszimmer oder "Salon", wie Martha zu sagen pflegte und unterhielten sich.
Elaine schien sich mit Raj wirklich gut zu verstehen.
"Wenigstens weiß ich jetzt, an wen ich mich wenden kann, wenn der Computer wieder einmal nicht so will, wie ich", lachte sie.
"Jederzeit", antwortete Raj.
"Mir graut schon davor, diesen verfluchten DSL-Zugang einzurichten. Das ist alles so schrecklich kompliziert", stöhnte Elaine.
Raj lachte und schaute ihr in die Augen. "Also, ich traue Ihnen zwar durchaus zu, dass Sie das auch selber schaffen würden, aber ich helfe Ihnen natürlich gerne."
"Das wäre nett", lächelte Elaine und merkte, wie sie langsam rot wurde. Diese treuen, braunen Augen hatten irgendetwas. Raj schien so offen und ehrlich und geradlinig. Er versuchte einem nicht, etwas vorzumachen. Das fand Elaine sehr sympathisch. Außerdem war er klug und einen dummen Mann hätte Elaine ganz unerträglich gefunden.
Dieser Abend würde ganz sicher sehr nett werden, dachte sie.
"Pfui Spinne", dachte Marietta und verzog das Gesicht. "Jetzt unterhält sich Elaine stundenlang mit diesem drögen Computerfuzzi. Das sieht ihr wieder ähnlich. Und bevor mich dieser eingebildete 'ich bin ja so wichtig und voll im Trend'-Musikredakteur anquatscht, unterhalte ich mich lieber mit dieser Martha. Sie scheint hier ja alles und jeden zu kennen. Vielleicht gibt es hier ja doch noch andere junge Leute." Damit drehte sie sich zu Martha um.