"Das Liebesgeheimnis!" nach einem Roman von Sally Beauman

  • cassio: Ja, Maisie war auch meine Liebste Person in dieser FS, aber naja, ändern kann man es nicht, leider! Ja ob Mord, Selbstmord, oder Unfall (?) das Rätsels Lösung wird wohl noch ein wenig auf sich warten. Und natürlich wird sich der Titel noch erklären! *g*




    Kapitel 10
    Trinity Daniel!





    Es ist Freitag - oder Schreitag, wie Julia immer sagte. Und damit nicht genug: Es ist auch noch Freitag, der Dreizehnte. Großmutter hätte mir gesagt, dass man an solchen Unglückstagen lieber zu Hause bleiben sollte. Aber ich bin wieder in London, und ich, Daniel Nunn, habe ein neues Kapitel begonnen, ja, ich schreibe Tagebuch, und diese Woche sieht es bislang so aus:
    Montag: Nichts tat sich
    Dienstag: hat sich wohl nichts getan; habe den größten Teil verschlafen
    Mittwoch: Hektische Geschäftigkeit, 15 Leute angerufen
    Donnerstag: 14 Leute haben nicht zurückgerufen, aber die Bank.





    Das kann man aber ändern. Mit Zuhilfenahme von etwas Chemie (sorry, Nick, aber ich bin rückfällig, konnte doch nicht alles in den Mülleimer schmeißen) zog ich also los. Und wo lande ich an diesem Schreitag? Ausgerechnet am schlimmsten Ort, in einem Eckbüro im 25. Stockwerk eines gläsernen Hochhauses. Im Büro, eines Mannes, den ich verabscheue, wie mir gerade wieder einfiel - und jetzt ist es zu spät zum Fliehen.





    Dieses Büro bietet einen beeindruckenden Blick über ganz London. Ich sehe Kirchtürme, Kuppeln, Stau und einen sonderbaren Dunst. Der kommt vielleicht von den Sehproblemen, die ich in letzter Zeit habe, oder der Chemie; kann aber auch einfach Smog sein.





    Ich befinde mich schon eine ganze Weile in diesem Büro, und mir wird gerade klar, dass ich bereits ziemlich lange die Aussicht studiert habe, weshalb ich jetzt den Kopf herumreiße und auf den flugzeugträgergroßen Schreibtisch des Widerlings blicke. Da sticht mir auf seinem Terminkalender das Datum ins Auge. Ich kann sehr gut auf den Kopf Stehendes lesen und sehe, dass unter dem Namen "D. Nunn" und der Uhrzeit, 16:15, "15 Minuten" eingetragen wurde, unterstrichen. Das verheißt nichts Gutes. Ich sollte mich wohl lieber ranhalten.





    Nicht gerade üppig Zeit, um mein Anliegen vorzutragen, denke ich, vor allem, da fünf Minuten bereits mit launigen Höflichkeiten und ekelerregenden Äußerungen á la "Wo hast du nur gesteckt, Dan?" und "Echt super, dich wiederzusehen" vergangen sind. Zwei weitere Minuten - die Zeit verrinnt irgendwie - verschwende ich selbst auf die verblüffende Feststellung, dass der Mann eine seiner für ihn typische Fliegen trägt, und die ist limonengrün. Meiner ungenauen Schätzung nach bleiben mir also noch acht Minuten für meinen Spruch. Kein Problem. No hay problemo. Sprüche sind meine Spezialität. Das mach ich mit links.





    Ich trete näher zum Schreibtisch, stelle meinen Aktenkoffer ab und setze mich. Ich denke: Jetzt aber mit vollem Speed. Ich will gerade durchstarten, als mir auffällt, dass der Widerling etwas in der Hand hält, eine Zeitschrift, eine dieser Zeitungsbeilagen, und er möchte, dass ich sie mir ansehe. Das folgere ich messerscharf, weil er mir damit vor der Nase herumwedelt und mit dem Finger aufs Titelblatt weist. Er sagt:"Du bist abgetaucht, aber das hast du wohl schon gesehen, oder?"





    Es handelt sich um das Bild Die Schwestern Mortland. Ein Beitrag über Lucas´Retrospektive. Und nein, den hab ich noch nicht gesehen. Was eine echte Leistung ist, die sich nur mit viel Geschick und Sorgfalt erreichen ließ, denn es hat einen Haufen Publicity gegeben. Jetzt komme ich nicht mehr drum herum. Da ist es, das berühmteste Bild des berühmten Lucas. Es ist die Abtei, der letzte Sommer in der Abtei. Es sind Julia und Finn und die arme Maisie. Es ist mein Gestern, vor 23 Jahren. Es ist das, was ich im Dunkeln sehe, wenn ich nachts nicht schlafen kann.





    Und damit nicht genug; eine Hand blättert die Seite um, eine Stimme sagt:"Warte mal, ich weiß, dass ich´s irgendwo gesehen habe ... ah, hier. Na, Danny-Boy, bist du das, bist du das, oder bist du das? Sorry, nur ein kleiner Scherz."


  • Tolle Oscar-Wilde-Nummer; und er erinnert sich überdies daran, wie sehr mir dieser Spitzname zuwider ist. Ich starre auf das, was er mir mit seinem fetten Finger zeigt, und sehe mich, verdreifacht. Trinity Daniel. Aus Kohle und Bleistift. In meinem Zimmer im Whewell´s Court am Trinity College, am Tag nach dem Examen. Die Sonne scheint, kein Wölkchen steht am Himmel, die Welt ist in Ordnung. Ich bin 22, ehrgeizig, leichtsinnig, unsicher und begabt. Manchmal bin ich zuversichtlich und manchmal unausstehlich, aber falls das schon jemanden aufgefallen sein sollte - ich weiß nichts davon. Noch nicht jedenfalls. Lasst mir Zeit.





    Ja, ich bin im Whelwell´s, neben den einstigen Zimmern von Wittgenstein, und in ein paar Monaten, nach den langen Sommerferien, werde ich die Filmwelt erschüttern - seht euch vor, Truffaut und Godard. Ich will über die Werbung ins Filmbusiness einsteigen: In der einen Woche führe ich Regie bei einem Werbespot, in der nächsten liegt Hollywood mir zu Füßen ... so in etwa denke ich mir das, und da ich 22 bin, sehe ich da keinerlei Hürden. Vorläufig liege ich noch auf meinem Teppich, umgeben von meinen Seminaraufzeichnungen, und wenn Lucas mit seinem Gekratze auf dem Skizzenblock fertig ist, treffen wir uns mit Finn. Wir drei sind unzertrennlich - die "Unheilige Dreifaltigkeit" hat die Unizeitung uns genannt - und wollen mit einem Kahn den Fluß hinaufstaken. Wir werden uns nach Strich und Faden betrinken, wie es sich nach einem Examen gehört. Und wenn Lucas mit seinem Skizzenbuch loswandert, werde ich Finn in den Armen halten. Wir liegen da am Cam im kühlen grünen Schatten der Weiden, und ...





    Und die Seite wird ungeblättert. Ich schaue schnell beiseite, doch es ist zu spät, ich habe die Zeichnung schon gesehen, die dort abgebildet ist: Sommer-Maisie 1967. Diese Zeichnung sollte zu einem Vierer-Zyklus gehören. Eine Herbst- und eine Winter-Maisie wird es nun nie mehr geben. Und ich werde niemals Regie bei einem Film führen. Die Zeit vergeht.





    "Traurig", sagt der Mann und legt das Heft achtlos beiseite. Er kennt die Geschichte natürlich. Jeder kennt die Geschichte bis in alle Einzelheiten, denn Lucas ist inzwischen weltberühmt, und die Leute sind immer fasziniert von dem Bild Die Schwestern Mortland. Auf dieses Bild stößt man überall, Studenten kaufen sich Drucke davon und hängen sie in ihre Bude. "Die Weiche-Knie-Schwestern", sagt der Mann und lacht. "War das nicht ihr Spitzname in Cambridge? Man kann schon verstehen, weshalb. Julia hat diese Ausstrahlung immer noch. Aber ich finde besonders die mittlere Schwester faszinierend. Irgendwas an ihrem Gesicht - ich bin ihr nie begegnet, ein Jammer, da hätte ich mich rangehalten. Die mit dem schrillen Namen, wie hieß sie noch gleich?"
    "Finisterre", antworte ich.





    Und ich will weitersprechen, all die Einzelheiten sind plötzlich wieder da. Dass sie so genannt wurde, weil sich Stella, als sie ihr zweites Kind erwartete, in Schottland aufhielt, in der Nähe eines der vielen Sanatorien, in denen ihr Mann geheilt werden sollte. Die Fruchtblase platzte eines Abends, als sie allein war und sich den Seewetterbericht anhöre. Das Stella diesen Namen gar nicht ausgefallen fand, denn Finisterre war ein wilder wunderschöner Ort, und sie dachte sich nichts weiter dabei, ihrer Tochter diesen Namen zu geben. Dass die Abkürzung von keinem je richtig geschrieben wurde und keiner je Finn mit ihrem vollen Namen ansprach - bis auf mich.





    Ich nannte sie so, als ich ihr durchs Haar strich, auf jenen Wiesen der Vergangenheit. Oú sonst les neiges d´antan, Danny-Boy? Schon lange geschmolzen. Schon lange verschwunden. Der Mann mir gegenüber faselt immer noch; er benutzt das Wort "Retrospektive". Als er sagt, dass sie nur noch 2 Tage geöffnet ist und er sie sich unbedingt ansehen muß, kehre ich ins Diesseits zurück und kapiere.





    Er wirft einen Blick auf seine Armbanduhr, runzelt die Stirn - und sieht mich an, zum ersten Mal, seit ich sein Büro betreten habe. Und was passiert hinter diesem glatten Gesicht mit der modischen Brille? Tja, da wird wohl eine Art Handgemenge stattfinden. Einerseits bin ich aufgewertet - mit Lucas befreundet zu sein, gibt Pluspunkte, vor allem, wenn man von ihm gezeichnet wurde und jetzt auch noch in einer enorm angesagten Retrospektive ausgestellt wird. Andererseits wird er die Gerüchte auch gehört haben; es sind genug im Umlauf.





    Ich frage mich beiläufig, ob ihm wohl die Versionen meiner Feinde zu Ohren gekommen sind oder die meiner Freunde? Nicht, dass sie sich allzu sehr unterscheiden, und viele Freunde habe ich auch nicht mehr in der Werbebranche. Welche ist es also - die Begabt-aber-Instabil+Trauer+Burnout+Zusammenbruch+alles-sehr-traurig
    -Version?
    Oder die Arrogantes-*********+Drogensucht+Kollaps+selbst-dran-Schuld
    -Variante?
    Höchstwarscheinlich die zweite - die ich sowieso besser finde.


  • Ich frage mich, ob er die Vergangenheit in Betracht zieht - in einem Anfall von Kurzsichtigkeit habe ich diesem Typen seinen ersten Job gegeben ... man soll immer nett sein zu den Leuten auf dem Weg nach oben, weil man sie beim Abstieg bestimmt wiedertrifft.





    War ich nett zu ihm? Ich weiß es nicht mehr genau, wäre aber möglich, dass ich ihn gefeuert habe, und dann wären meine Chancen, die Wunderbar-Kampagne zu kriegen, wohl eher mies. Die ist so wieso nur zu habne, weil dem Kreativdirektor, der sie machen sollte, irgendwas Unglückseliges widerfahren ist: Grippe oder Gürtelrose oder Terroristenanschlag oder Exekution oder ... ich bremse mich. Ich habe mir die Hälfte von meinem rapide verschwindenden Koksvorrat genehmigt plus zwei Amphetamin-Tabletten, vier Anadin, eine Hand voll Rennies, eine halbe Flasche Hustensaft, einen Schluck Wodka und vier Tassen Espresso, um in diesem Büro anzutreten, und die Wirkung ist garnicht so, wie ich es mir erhofft hatte. Statt meinen Verstand zu schärfen, scheint die Mischung ihn weich und matschig zu machen. Ich bin nicht recht bei mir.





    Als ich Widmerpool mir gegenüber anschaue, bin ich mir plötzlich nicht sicher, ob ich wirklich wegen der Wunderbar-Kampagne hier bin. Vielleicht geht es auch um was ganz anderes. Ich starre auf das glatte Gesicht und hoffe auf Anhaltspunkte. Skoda? Lebensversicherungen? Die Labour Party? Tampax? Eine neue Orangenlimo?





    Nein, ich lag schon richtig, es geht um Wunderbar. Scheiß-Schokolade, Scheißwerbung. Aber Widmerpool scheint nicht dieser Ansicht zu sein. Er meint, das Produkt müsse neu positioniert werden ... und die Person, die das bewerkstelligen soll, erklärt er mir nun, werde nicht ich sein, trotz meiner Erfolge, trotz des Respekts und der großen Bewunderung, die dieser Mann für mich empfindet ... Übersetzung: Der Dreckkerl hat mich hierher bestellt, um mir einen Arschtritt zu geben. Wird er das zugeben? Bestimmt nicht.





    Er hat sich, wie es scheint, ins Zeug gelegt. Er hat es intern besprochen. Er hat Druck gemacht, Gefallen eingefordert, sich überschlagen und sein Bestes gegeben, um die Wunderbar-Typen zu überreden, aber die wollen sich nicht darauf einlassen. Ich weiß, wie sie sind, sagt er mir: stockkonservativ, engstirnig, spießig und allergisch gegen Risiken.





    Und, Dan, sagt er mit tieferer Stimme, seien wir doch mal ehrlich: Du bist zurzeit ein Risiko. Würdest du es innerhalb des Budget schaffen? Würdest du für Aufsehen sorgen? Würdest du überhaupt erscheinen? Hand aufs Herz, Dan, und es schmerzt mich wirklich, dir das sagen zu müssen - ich kann mich nicht darauf verlassen. Ganz ehrlich, du warst immer schon ein bisschen eine Primadonna, und als du Erfolge eingefahren hast, war das ja auch okay. Aber jetzt? Es könnte passieren, dass du dir eine Woche lang die Dröhnung gibst. Dass du ein Kilo Koks durch die Nase bläst. Dass du komplett ausrastest, wie es wohl in Tokio gewesen ist. Dass du nach zwei Drehtagen ins nächste Flugzeug nach Honolulu steigst. Wie ich höre, scheinst du zurzeit zu allem imstande zu sein, und ...





    Ein Kilo Koks? Schön wär´s. Soll ich ihm sagen, dass diese Visionen nicht realistisch sind, weil ich seit einem Jahr nicht gearbeitet habe und total pleite bin? Soll ich ihm sagen, dass ich gar nicht hier wäre und mit ihm reden würde, und schon gar nicht über den Scheiß-Wunderbar-Auftrag, wenn ich nicht pleite, ausgebrannt und total fertig wäre?





    Soll ich ihm sagen, okay, ich bin lahm im Kopf, aber jetzt hab ich´s kapiert: Du hast mich nie in Betracht gezogen für den Auftrag und mich nur hergelockt, um mich auflaufen zu lassen? Soll ich ihm offenbaren, wie verzweifelt ich bin? Zusammenklappen oder zu Kreuze kriechen? Ich merke, dass er darauf wartet und dass es die größte Genugtuung für ihn wäre.


  • Kommt garnicht in Frage, ehrlich. Er war schon immer ein widerwertiger aufgeblasener machtgeiler Idiot. Machen wir uns nichts vor: Er ist total dämlich. Er ist ein fauler illiteraler Rotzlappen, ein Reaktionär und Arschlecker, eine nachtragende, untalentierte großkotzige Nervensäge. Er ist ein Thatcherist, ein Schleimer und Quertreiber, er ist ein hirnloser Volltrottel. Er ist ein Quadratarschloch. Er ist ein Schmarotzer, ein Geschwür. Er ist das menschliche Gegenstück zu einem Furunkel am Hintern: Er ist ein Gehirnamputierter, ein Drückeberger, ein unerträglicher Wechselbalg und ein Weichei. Er ist so überflüssig wie ein Kropf. Und er kann einen guten Spot nicht von einem Furz ins Gesicht unterscheiden.





    Genau deshalb habe ich ihn gefeuert, fällt mir da wieder ein. Deshalb und wegen der Fliegen. Ich stehe auf. Einen Augenblick lang gebe ich mich der beseligenden ekstatischen Vorstellung hin, dass ich ihm das alles ins Gesicht sage. Die köstlichen Worte liegen mir schon auf der Zunge, aber ich spreche sie nicht aus.





    Denn ich schaue auf diesen gigantischen Schreibtisch, und mein Blick fällt auf das Cover der Zeitschrift. Ich sehe Die Schwestern Mortland, sie schauen mich an, und plötzlich begreife ich: Ich muss gar nicht hier sein. Nein, dort muß ich sein, in der Abtei, in den endlosen Sommern der Abtei, und zwar auf der Stelle.





    In null Komma nichts bin ich weg. Schnappe mir meinen Aktenkoffer und laufe raus. In den Aufzug. Auf die Straße, ins Taxi. Zum Piccadilly, sage ich dem Fahrer. Wenn ich erst in der Ausstellung bin, wenn ich erst vor dem Bild stehe, wird mir der Sinn meines Lebens bewusst werden. Ich schließe die Augen. Das Taxi steckt im Stau. Winter in London. Es ist schon dunkel draußen.






    Diese Amphetamine stellen sonderbare Sachen mit dem Puls an. Erst schlägt mein Herz schnell, dann langsam wie ein Schlagzeug. Finisterre, Finisterre, Finisterre. Ein gutes Mantra. Ich sage es den ganzen Weg zur Academy leise vor mich hin.


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    Soo, die nächste FS könnte ein wenig dauern, weil ich noch nicht so genau weiß, wie ich Kapitel 11 und 12 umsetzen soll. Ist ziemlich schwer, das alles in Bilder zu fassen, weil so ziemlich alles durcheinander kommt und dann auch so viel auf einmal...

  • Eine Überraschung folgt der Nächsten, wobei nicht unbedingt positiv:( Maise tod, das ist die negative Überraschung, mein liebster Character bis jetzt. Jetzt warte ich mal auf die Aufklärung was sich 1967 ereignet hat, wie es zu der Tragödie kam.

    Dan, bei dem dürfte viel schiefgelaufen sein, wobei sicherlich die Ereiginsse damals in der Abtei dazu beigetragen haben.

    In Wartestellung gehe und mich mal überraschen lasse:D

  • Ich bin ja wirklich geschockt !! Maise war ein so interessanter und netter Charakter .. Hoffentlich klärst du bald auf, was damals passiert ist.


    Und was mit Dan passiert ist, ist auch total verrückt. Der ist ja total abgerutscht .. Hat das etwas mit den Ereignissen, bei denen Maise den Tod fand zu tun ? Spukt Maise jetzt etwa auch mit den Schwestern im alten Kloster ?


    Wird der schleimige und absolut widerwärtige Verwandten (ja, ich schreibe über den Schei*kerl Edmund) zur Rechenschaft gezogen ?

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    ~~ Das LESEN ist die Möglichkeit, die Realität verblassen, und seinen Geist im Universum und der Zeit wandern zu lassen ... ~~[/CENTER]

  • So, heute nur ne ganz kleine FS, da ich immer noch nicht wirklich weiß, wie ich die Kapitel bearbeiten soll. Ich hoffe, ihr freut euch trotzdem!
    @Gotti: Es wird noch viele überraschende Wendungen geben, aber die Auflösung wird noch auf sich warten müssen. Wie heisst es so schön? Geduld ist eine Tugend *fg*
    Nikita: Danke!
    Cyber19: Nein, soviel ich weiß ist Maisie nicht bei den Nonnen im Kloster, obwohl das mal was wäre oder? Naja. Ja Dan, mhh dafür habe ich kein Wort übrig.



    Kapitel 11
    Das Hagioskop





    Vor der Galerie passierte etwas Sonderbares. Ich stehe gegenüber auf der Strasse, voll auf Tempo - und plötzlich, ohne Vorwarnung, bin ich unentschieden. Ein Hamlet´scher Augenblick. Ein bipolarer Augenblick. Das muß wohl an dem Hustenmittel liegen; weiß Gott, was da alles drin ist.





    Schaffe ich den Fußgängerüberweg, oder soll ich mich vor den nächsten Bus werfen? Soll ich nach Hause fahren, wo ich mir ein weniger unappetittliches Ende bereiten könnte? In letzter Zeit finde ich die Vorstellung, Schluß zu machen, immer wieder sehr verlockend. Ich habe altmodische Rasierklingen gesammelt - die sind heutzutage gar nicht mehr so leicht zu kriegen, bin durch zahllose Läden getrabt.





    Aber ich kann mich nicht entscheiden: Kehle - schnell und tödlich, erfordert aber eine gewissen Geschicklichkeit; oder Pulsadern - langsam und gemächlich, die Edler-Zigeuner-Nummer? Ich besitze einige Meter robustes Seil, das mein Gewicht aushalten würde. Einen erkläcklichen Vorrat an Schlaftabletten und Schmerzmitteln habe ich angeschafft, für den Fall, dass ich mich nicht recht traue und den feigen Weg wählen muß. Zugegebenermaßen konnte ich mich bislang überhaupt nicht entschließen, zur Tat zu schreiten, obwohl die Versuchung spätnachts manchmal groß ist. Konzentrier dich also, Daniel: Rübergehen oder nicht rübergehen, das ist hier die Frage.

  • Natürlich freuen wir uns !! Gar keine Frage !!


    Aber Dan ist wirklich total am Ende .. Seine Gedanken sind so erschreckend, dass ich den kurzen Teil gleich 2 mal lesen musste .. Dabei war er ja so voller Ziele .. Echt traurig ..


    Aber gut von dir erzählt :-)

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  • Hallo Baby,

    lieber nur eine kurze Fortsetzung als keine:D

    Aber es ist erschütternd zu sehen in welcher schlechten Verfassung Dan ist. Da kommt bei ihm eine riesen Angst vor den Bildern in der Galerie auf, bzw. scheint ihn die Vergangheit einzuholen. Wobei wir natürlich noch immer nicht wissen was damals in der Abtei passiert ist ( vorallem mit Maise) und was Dan direkt damit zu tun hatte. Vielleicht lässt sich dann seine Gefühlslage besser verstehen. Ich hoffe er nimmt all seinen Mut zusammen und überquert schnellsten die Strasse.

    Wie immer tolle Bilder:applaus

  • Cyber19 und Gotti: Ich danke Euch für eure KOmmis.
    Ich werde Euch heute mal wieder mit ner längeren FS beglücken, ich haben fertig *gg*.. also viel Spaß!






    Auf der anderen Straßenseite flattern die großen Banner, die für die Retro werben, als ein Bus vorüberfährt. Lucas´hageres Gesicht wirft Falten, glättet sich dann wieder. Es fängt an zu regnen; die Leute spannen ihre Regenschirme auf; um mich das typische Rushhour-Chaos.





    Auf der anderen Straßenseite marschieren, drängeln, eilen Tausende von Fremden vorbei. Ich betrachte sie mit diesem distanzierten Gefühl, das mich jetzt oft heimsucht und das vielleicht ein Resultat meiner Isoliertheit ist oder vielleicht auch von den Rennies herrührt oder auch einfach das Leben ist, als sich plötzlich eine der Gestalten aus der Menge löst.





    Es ist Nickolas Marlow. Mein ältester Freund, der Mann, dem ich vor sechs Wochen versprochen hatte, dass ich mich bei ihm melde, den ich in Gedanken wohl hundertmal angerufen habe, aber nicht einmal in der Wirklichkeit.





    Er trägt einen dunklen Mantel und geht schnell. Den Regen, den Verkehr, das Gedränge scheint er nicht zu bemerken. Wird er in die Galerie gehen? Das ist doch nicht möglich. Doch, tatsächlich. Ich beobachte, wie er durch den Bogen tritt, die Treppe hinaufsteigt. Er zögert nicht, schaut nicht auf die Plakate, steuert direkt auf den Eingang zu. Das war´s: Der schwarze Prinz ist schlagartig von seiner Unentschiedenheit erlöst.





    Das rote Ampelmännchen erscheint, ein Taxi hält mit quietschenden Reifen; ich klemme mir den Aktenkoffer unter den Arm, winde mich zwischen den Autos hindurch, laufe die Treppe hinauf, Marmor unter den Füßen, dann Parkett.





    Ich weiß, in welcher Galerie ich Nick finden werde - und da ist er auch, nachdem ich durch tausend Flure und Räume gehastet bin. Er sitzt auf einer Bank vor dem Bild Die Schwestern Mortland, mit dem Rücken zu mir. Er dreht sich nicht um, er starrt auf das Bild - und sogar in meinem desolanten Zustand frage ich mich: Was sieht er? Dasselbe wie ich - oder etwas ganz anderes? Was bedeuten diese Gestalten, Farben, Zeichen, diese Frauen für ihn?





    Langsam, widerstrebend blicke ich auf das Bild. Ich kenne es so gut, und doch, jedes Mal, wenn ich es ansehe, verwandelt es sich. Es bleibt einfach nicht gleich; es hat die unangenehme Eigenschaft, einen zu beunruhigen, zu verwirren, zu verstören, zu erfreuen, zu erregen, einen zugleich zu blenden und einem Erleuchtung zu bringen. Es ist riesig; die Figuren haben fast Lebensgröße. Drei Schwestern; zwei, die noch am Leben sind, eine, die schon lange verloren ist. Der Blick der drei jungen Mädchen, leuchtend blau wie eine Gasflamme, ruht auf mir - und macht mir Angst.





    Ich schließe die Augen, doch ich spüre ihren Blick noch unter den Lidern. Finisterre, flüstere ich vor mich hin, und als ich mich wieder im Griff habe, gehe ich zu meinem Freund hinüber und berühre ihn am Arm. "Nick", sage ich. "Ich bin´s. Ich bin wieder hier."



  • Er fährt herum, und ich sehe auf seinem Gesicht einen Ausdruck, der mir fremd ist. Ich weiß nicht, wo Nick in Gedanken gewesen ist - in einem weit entfernten Ort namens Timbuktu vielleicht -, doch es war jedenfalls ein Ort der Einsamkeit und Trauer. Er muß sich anstrengen, um der Stimmung dort zu entkommen, doch als er aufsteht, entspannt sich sein Gesicht, sein Blick ist warm und herzlich, und er nimmt meine Hand. Es ist so lange her, dass sich jemand auch nur annähernd gefreut hat, mich zu sehen - Freundlichkeit und Güte setzen mir mehr zu als Feindseligkeit. Die Luft verschwimmt vor meinen Augen, und der Raum gerät ins Schwanken.





    Nick legt mir den Arm um die Schultern und führt mich zu der Bank. "Setzen wir uns ein Weilchen", sagt er. Er hat zweifellos eine rasche ärztliche Diagnose gestellt - es dürfte ziemlich offensichtlich sein, dass ich nicht in einem guten Zustand bin. Aber dem Gesichtsausdruck nach zu schließen, den ich eben bei ihm gesehen habe, kann man das von ihm auch nicht behaupten. Was eigenartig ist, denn Nick hat ja alles: einen angesehenen Beruf, Anerkennung, ein Zuhause, Frau, Kinder, kein seelisches Gleichgewicht, einen ruinierten Ruf - und so gut wie nichts, um das auszugleichen. Zurzeit ist nicht einmal Sex ... ach, lassen wir das lieber.





    Doch diese Unterschiede spielen keine Rolle mehr, als ich neben Nick sitze. Nick hatte schon immer diese Ausstrahlung: Aufregung legt sich in seiner Nähe. Unsere Freundschaft ist so bedingslos, dass ich wieder zu mir selbst finde und diese innere Rastlosigkeit aufhört. Wir sitzen schweigend nebeneinander, entspannt und freundschaftlich.





    Ich erblicke erneut auf das Gemälde, auf die drei Schwestern: Eine konnte ich nicht leiden, eine mochte ich gern, eine liebte ich. Lucas hat sie so lebendig abgebildet, als könnten sie jeden Moment aus der Leinwand treten und zu sprechen beginnen. Ich schaue die Walküre Julia an, Finn und Maisie. Sie wirkt winzig neben ihren Schwestern - und sie war ja auch tatsächlich klein für ihr Alter, ein dünnes, ernstes, verwirrendes Mädchen. Meine Großmutter hat ihr einmal die Zukunft vorhergesagt. "Was hast du in der Kristallkugel gesehen, Maisie?", habe ich sie damals gefragt. Ich war sicher, dass sie etwas gesehen hatte, denn die Kristallkugel war danach zerbrochen.





    "Dieses Geheimnis werde ich niemals preisgeben", antwortete sie - sie sprach so gestelzt wie ein kleiner Roboter mit eingebauter Zeitbombe. Und sie hielt Wort. Sie erzählte es niemandem, nicht einmal Finn - ich weiß es, weil ich Finn nach dem Unfall gefragt habe.





    Was war dein Geheimnis, Maisie?, frage ich sie stumm. Sie hält eine kleine Schere in der Hand auf dem Gemälde - dieses Detail habe ich noch nie bemerkt. Eine winzige Schere, und hinter ihr strömt Licht aus einer nicht sichtbaren Quelle; ich sehe eine verschwommene Gestalt in diesem unheimlichen Licht. Lucas malt immer zweideutige fließende Figuren. Dieser Schemen hier scheint mir ein Vogel zu sein, eine Schwalbe. Eine Schere und eine Schwalbe, vielleicht vor einem Himmel, an dem ein Unwetter naht.





    Wann habe ich zuletzt eine Schwalbe gesehen, denke ich. Und - es mag an der Stille in dem Raum liegen oder an der Nähe von Nick oder diesen grässlichen Pillen oder diesem verstörenden gasblauen Blick aus drei Augenpaaren - jedenfalls bin ich plötzlich erlöst. Es geht so schnell, dass ich es nicht einmal merke. Im einen Moment sitze ich noch auf der Bank, im nächsten bin ich in den endlosen Weiten meiner Kindheit.





    Ich sitze mit Nick am Black Ditch; ich baue im Nun Wood eine Hütte mit ihm; ich sehe meinem Vater zu, der ein Feld pflügt, und Bella sagt: Das ist Kunst, wahrhaftig.


  • Dann nimmt Bella mich bei der Hand und führt mich durch die Abtei, durch zahllose Gänge bis zu einer Tür, die wie eine Schranktür aussieht, doch als Bella sie öffnet, befindet sich eine Trittleiter dahinter. Hoch mit dir, flüstert Bella, ich hatte dir doch versprochen, dass ich es dir zeigen würde, nicht? Sie hilft mir die Stufen hinauf, und dann sehe ich direkt vor meinen Augen eine kleine rechteckige Öffnung. Es ist ein Wunderding, sagt Bella.





    Ich blicke skeptisch auf dieses Wunderding. Es ist uralt, Stein und Mörtel zerfallen, und in den Ritzen lauern Spinnen, vermute ich - und ich fürchte mich schrecklich vor Spinnen. Pelzige Spinnen, schwarze Spinnen, kleine gemeine Spinnen mit Giftsäckchen an ihren acht Beinen. Sie können sich schnell bewegen und springen. Wenn nun ein ganzes Nest von denen da drin ist, die nur darauf warten, dass ich näher komme? Beiß, beiß, haben Spinnen Zähne? Ich spüre schon diese kleinen hungrigen Mäuler, die meinen Augapfel aussaugen wollen. Ich stelle mir vor, dass ich dann blind bin, ohne Augen ...





    Nun mach schon. Wir haben nicht ewig Zeit, sagt Bella. "Du siehst nur ein Zimmer", sagt sie, und ich merke, dass sie ärgerlich wird. "In diesem Zimmer bist du geboren - gleich unter dem mittleren Fenster. Ich hab dir die Geschichte ja schon oft erzählt. Damals dachte ich, es sei ein Junge, der da auf die Welt gekommen ist. Aber es muß ein Mädchen gewesen sein, ein kleines Angsthasen-Mädchen ..." Damit nicht genug der Beleidigung, zwickt sie mich auch noch.





    Das reicht. Ich nähere mein sechsjähriges Auge Bellas Wunderding. Das auch noch einen anderen Namen hat. Es ist ein Hagioskop. Ich habe Angst, dass ich Nonnen sehen werde. Knochige Geister-Nonnen womöglich, schaurig lebendig, obwohl sie seit Jahrhunderten tot sind. Letztes Jahr fand sich an meinem fünften Geburtstag ein Trupp Archäologen in der Abtei ein, mitsamt einer schriftlichen Grabungsgenehmigung von den Mortlands, die sich in New Mexico aufhielten. Die Archäologen gruben im Kreuzgang und fanden so gut wie nichts. Im Graben förderten sie nur Schlamm zutage, wie Bella ihnen prophezeit hatte.





    Darauf nahmen sie sich den Nun Wood vor, wo sie auf das Fundament eines kleinen runden Gebäudes stießen und eine Feuerstelle, Tontöpfe und Haushaltsgeräte entdeckten, aber keinen Altar oder andere Spuren religiöser Nutzung des Orts. Der Leiter der Gruppe fand das merkwürdig, denn es gab wohl Unterlagen, denen zufolge dieses Gebäude aus dem 15. Jahrhundert außerhalb der Klostermauern zum Rückzug und Gebet genutzt worden war.





    Nick und ich verloren bereits das Interesse; wir hatten ein Abenteuer erwartet, denn Archäologen waren zumindest etwas Neues für uns, und in Wykenfield war sonst wenig los. Doch es dauerte alles furchtbar lange - Grabungen, Erdesieben, trockenen Lehm von Tonscheiben bürsten. Wir hatten auf etwas richtig Gruseliges gehofft, und Scherben, die nach alten Blumentöpfen aussahen, waren langweilig. Doch dann, in ihrer letzten Woche im Nun Wood, legten die Archäologen einen letzten Graben an, im rechten Winkel zum Fundament des Gebäudes. Nach einem halben Meter Grabung stießen sie auf Stein. Es handelte sich um drei kleine rautenförmige Steinplatten mit abgerundeten Kanten, und darunter fanden sie ...





    Das, wovor ich mich nun fürchte, als ich in das Hagioskop blicke. Drei Säuglingsskelette. Mit Rosenkränzen in den winzigen Händen und gut erhaltenen Lederriemen am Hals. Nick und ich waren dabei, neugierig und entsetzt, als die Archäologen mit ihren weichen Pinseln die Erde aus den hohlen Augenlöchern der Skelette entfernten. Bei einem Skelett fanden sie Würmer zwischen den Rippen. Der Chef der Truppe fluchte, und seine Stellvertreterin sagte: Das ist doch nicht möglich, die Nonnen können doch nicht - großer Gott, schauen sie doch nur, wie klein die sind, das waren Neugeborene, sie können sie doch nicht erwürgt haben? Dann redeten alle durcheinander, und Nick und ich wurden verbannt.





    Das war vor einem Jahr, und ich begreife es immer noch nicht, denn ich weiß zwar nicht viel über Nonnen, aber ich weiß immerhin, dass sie nicht wie andere Frauen sind und dass sie keine Kinder bekommen.



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    Bitte entschuldigt die fast immer gleichen Bilder, aber ich wußte echt nicht, wie ich es sonst machen sollte und was bitte ist ein Hagioskop, ich hab echt keine Planung, also musste ich irgendwie improvisieren?! Ich hoffe, ihr seid nicht enttäuscht deswegen. Es geht noch weiter...


  • Wessen Kinder waren das dann? Wer hat sie getötet und warum? Ich habe alle gefragt - und ein Jahr später weiß ich immer noch nicht mehr. Ich denke, Nick, der drei Jahre älter ist als ich (und einen Arzt zum Vater hat), könnte es vielleicht wissen. Bella jedenfalls sicherlich und auch mein Vater - aber sie sagen mir nichts. Ich wünschte, sie würden es tun, denn dann würde diese drei Nonnen-Babys endlich aus meinen Träumen verschwinden, statt dort zu baumeln wie Anhänger an einem Armband des Bösen, sobald ich im Dunkeln die Augen schließe.





    Ich weiß genau, dass ich sie jetzt in diesem Schlund sehen werde. Diese kleinen weißen Schädel mit den wackligen Kieferknochen und leeren Augenhöhlen, diesen Rippen, so dünn wie Fischgräten, und diesen winzigen Knöchelchen, in denen die Rosenkränze lagen - das werde ich sehen am Ende dieses dunklen Schachts. Für mich sind sie wie Brüder und Schwestern, und ich kann sie riechen, ihren sauren modrigen Geruch. Ich habe die Augen fest zugekniffen, und ich habe nicht vor, sie ohne irgendeine Schutzvorkehrung zu öffnen. Man könnte es mit einem Gebet versuchen, aber ich habe nicht allzu viel Vertrauen in Gebete - sie haben mir meine Mutter Dorrie nicht zurückgebracht, und darum habe ich wahrhaftig oft gebetet.





    Deshalb versuche ich es mit einem magischen Spruch, einem Zigeunerspruch, den ich von Ocean gelernt habe; er ist sybilinisch, zischend wie Schlangenzungen, Wörter, die ich nur zur Hälfte begriffen habe: dreimal sage ich ihn stumm auf, einen für jedes ermordete Baby, dann öffne ich die Augen.





    Es funktioniert. Keine Nonnen. Keine toten Babys. Ich blicke verwundert in einen Schacht, der eine Art umgekehrtes Fernrohr zu sein scheint, und sehe etwas ganz Normales, nämlich die Bibliothek der Mortlands. Ich kenne mich da gut aus, was nicht erstaunlich ist, denn ich habe erst zehn Minuten vorher Großmutter dabei geholfen, dort die Tische abzustauben, die weißen Laken auf den breiten Sesseln auszuschütteln und den Papierschirm vor dem rußigen Kamin zurechtzurücken. Bella hat auf die silbernen Bilderrahmen gespuckt und sie dann mit den Ärmeln poliert, was schlampig ist, das merke sogar ich, aber wem soll es auffallen außer mir?





    Die Mortlands sind nicht da; sie haben Suffolk gegen Kriegsende verlassen, als Guy Mortland wegen Krankheit aus der Air Force entlassen wurde, und seither sind sie unterwegs, der Großvater, der Sohn, die Frau und, wie Bella mir berichtet hat, nun auch zwei Töchter namens Finn und Julia. Sie waren auf der Isle of Wight, in Schottland, der Schweiz und zuletzt in Kanada und Amerika. An keinem dieser Orte wurde Guy Mortland gesund, der irgendeine Lungenkrankheit hat - und auch noch anderes, wie Großmutter andeutete. Wer weiß, wann oder ob diese Familie jemals zurückkehren wird?





    Was sehe ich jetzt gerade von den Mortlands? Einen Teppich aus dem Fell einer Löwin mit aufgerissenem Maul, in dem Zähne abgebrochen sind. Eine ausgestopfte Kobra als Fuß eines kleinen Messingtischs, auf dem Großvater Mortland abends gerne seinen Whisky abstellte. Diverse schwere Möbelstücke aus Elde, dem Haus, in dem der Großvater aufwuchs; das sind die sogenannten "guten Stücke", die Bella mit Politur behandeln soll. Sonst sehe ich noch die Wandtäfelung und ganze Armeen von Büchern mit Ledereinbänden, die muffig riechen - ich darf sie gelegentlich mit dem Staubwedel säubern, aber noch nicht hineinschauen. Das Hagioskop ist gekrümmt, sodass mir der beste Teil des Raums entgeht: der Marmorkamin, der in die Ostwand eingelassen ist, an der Stelle, an der sich früher der Altar der Nonnen befand, sagt Bella. Und meine drei Lieblingsgegenstände, in die ich ganz vernarrt bin, kann ich auch nicht sehen, denn sie stehen auf dem Kaminssims.


  • Es sind drei Elfenbeinkugeln, die ein chinesischer Schnitzer und Magier angefertigt haben muß. In jeder Kugel befinden sich neun weitere, eine ist kleiner als die andere, und in allen sind Kulis, Drachen und Dschunken zu sehen. Sogar in der innersten Kugel, die nur noch die Größe einer Erbse hat, sind diese winzigen rätselhaften Zeichen eingeschnitzt, und alle Kugeln können sich drehen. Wie hat ihr Schöpfer das bewerkstelligt, wenn er sie aus einem einzigen Stoßzahn angefertigt hat und sie niemals öffnen konnte?





    Ich versuche, aus anderen Winkeln in den Schacht zu spähen, aber diesen Teil des Zimmers bekomme ich nicht zu sehen. Deshalb befasse ich mich stattdessen mit den Spuren der Mortland-Familie, weil ich so vertraut bin mit ihrer Geschichte. Ich habe so viele Episoden daraus gehört, und es macht mir Spaß, die Gegenstände und die Geschichten zusammenzufügen.





    Bei mir zu Hause gibt es Dinge aus ganz England, die Großmutter mitgebracht hat, als sie noch jung war und Reisen unternahm; Erinnerungen an Ocean und Dads Pflügeurkunden, die sehr wertvoll für mich sind, weil sie mich daran erinnern, dass diese Kunst erheblich ist - schon Joes Großvater bestellte diese Felder und sein Großvater ebenso. Mit etwas Glück habe ich diese Gabe auch geerbt; vorläufig kann ich mich mit diesen stummen Männern auf dem Friedhof unterhalten.





    Aber in diesem Raum hier befindet sich die ganze Welt, so wie wenn ich in der Dorfschule auf die große Karte an der Wand schaue und das rosafarbene Empire sehe, ein rosa Indien, ein rosa Afrika. Ein Mortland-Onkel hat diese Löwin, deren Fell dort liegt, in Botswana erlegt, und ein anderer Onkel entdeckte den Kobra-Tisch in Kalkutta, und ein Großgroß-Irgendwas brachte die magischen Kugeln aus den Opiumkriegen mit - was auch immer das gewesen sein mag.





    Und dann diese gewaltigen "guten Stücke", die seit Jahrzehnten, Jahrhunderten sogar, von Frauen wie meiner Großmutter poliert werden ... Ich merke schon, dass unser Cottage trotz Tarot-Karten und Pflügeurkunden etwas beschränkter wirkt.





    Aus diesem Blickwinkel in diesen Raum zu schauen, bringt mich auf neue Ideen. Von hier aus wirkt er wie ein Puppenhaus, und ich kann meine Mortland-Puppen überall verteilen, wie es mir beliebt. Der Großvater - von dem Angus McIver behauptet, er verstehe rein gar nichts von der Landwirtschaft - passt aufs Sofa, wo er bis in alle Ewigkeit ein Glas Whisky trinken kann. Den Vater, Guy, der jetzt krank ist, früher aber ein brillanter Cricketspieler war, ordne ich der Sammlung signierter Miniatur-Cricketschläger zu.





    Das ältere Mädchen, das laut Bella bildschön und eine richtige kleine Dame sein muß, stelle ich zu dem Spiegel an der Wand gegenüber: Sie hat goldenes Haar und träumt von einem Prinzen - von mir vielleicht -, der sie retten soll. Die jüngere Tochter ist ein Bücherwurm, mehr weiß ich nicht über sie. Sie ist bei den Bücherregalen am besten aufgehoben. Für die Mutter, Stella, finde ich keinen guten Platz in diesem Zimmer, aber Bella sagt, sie sei eine gute Köchin; ich stecke sie in die Küche. Bleibt noch - der Sohn. Es gibt ihn noch nicht, aber sie würden wohl gerne einen haben.





    Ich denke über den Sohn nach, den sie vielleicht noch bekommen werden, frage mich, wie er wohl aussehen wird und ob die Familie wieder zurückkommt, damit ich mich mit ihm anfreunden kann, und schaue zu den Fenstern hinüber.



  • Durch die Zwischendecke, die Großvater Mortland eingezogen hat, sind sie halbiert, aber sie sind immer noch riesig, mindestens viermal so hoch wie ich, oben spitz und mit mütterlichen Engeln verziert. Die Fenster haben einen Bleirahmen und sind so umgebaut worden, dass man sie öffnen kann. Auf dem glatten Steinsims und den beiden Ecksteinen daneben kann ich die berühmten Löcher der Geschosse erkennen.





    Und mit diesen Löchern, die ich gerne berühre, an denen ich abergläubisch reibe und in die ich meine Finger lege, halte ich Einzug in diesem Raum. Mit großer Geste, mittels einer Tragödie. Mit meinen sechs Jahren habe ich schon einen guten Titel ersonnen für dieses Drama. Es heißt: Danny in der Höhle des Löwen.





    Diese Einschusslöcher, von denen es vier auf den Sims und fünf auf den Ecksteinen gibt, stammen von den Gewehren einer Messerschmitt. Das Ganze spielte sich im Frühling ab, während des Krieges. Im einen Augenblick herrschte noch friedliche ländliche Stille, und Großmutter und ihre Tochter Dorrie waren in der Bibliothek der Mortlands mit Abstauben beschäftigt.





    Im nächsten Augenblick hörte man das Dröhnen eines Kampffliegers. Wie ein silbrig glitzerndes Insekt tauchte er auf der anderen Seite des Tals auf - und mein Vater, der sich im Kreuzgang aufhielt, stützte sich auf seinen Spaten. Er blinzelte und versuchte, das Flugzeug zu erkennen. Keine Spitfire, dachte er und bückte sich, um das Samenpäckchen mit Cotter´s Frühkarotten aufzuheben, die er als Nächstes in der Furche aussäen wollte, die er gerade angelegt hatte. Keiner von unseren, dachte er, richtete sich wieder auf, beobachtete, wie das Flugzeug die Größe eines Vogels annahm, höher stieg und näher kam.





    Dann sah er die wespengelbe Spitze und die stumpfen Flügel im Profil. Messerschmitt, dachte er, oder schrie er, als der Flieger über den Obstgärten in den Tiefflug ging; doch falls Vater tatsächlich schrie, hörte ihn niemand wegen des Dröhnens der Motoren, und er konnte nichts tun, außer fassungslos dazustehen und zuzusehen, wie der Flieger das Feuer eröffnete, auf die Südseite der Abtei mit den vielen Fenstern schoss, wo meine hochschwangere Mutter genau in diesem unglückselig gewählten Moment ihren Staubwedel beiseite legte und sich aus dem offenen Fenster lehnte, vielleicht um meinen Vater etwas zuzurufen.





    Mit meinen sechs Jahren stehe ich jetzt am Hagioskop und blicke auf den schicksalhaften Ort des Desasters. Ich weiß, was dann geschah. Ein Wunder nämlich. Dorrie wurde nicht getroffen. Ich wurde nicht getroffen, der ich behaglich im Fruchtwasser vor mich hin dämmerte und die letzten Tage einer ansonsten ruhigen und mühelosen Zeit genoss. Dem deutschen Piloten des Flugzeugs, das Großmutter immer hartnäckig falsch als "Mister Schmitt" bezeichnete, erging es weniger gut. Das Flugzeug legte sich in die Kurve, wendete, versuchte, wieder hoch zu kommen, schaffte es nicht, und weil der Pilot offenbar das Tempo und den Winkel falsch berechnet hatte oder vielleicht auch wegen der Fliehkraft bewusstlos wurde, raste er auf dem Acre Field in eine Herde Kühe. Das Flugzeug, der Pilot und vier Kühe gingen in Flammen auf, und das Feuer brannte zwei Tage lang. Das gesamte Dorf betrachtete das Spektakel, mit Ausnahme von Dr. Marlow, dessen Frau und ihrem kleinen Jungen, die, Großmutter zufolge, ein derartiges Benehmen missbilligten - aber das war nicht anders zu erwarten, sie kamen schliesslich aus Cambridge und waren hochnäsige Zugezogene.





    Ich finde dieses Urteil etwas hart. Man muß schliesslich die Folgen des Angriffs bedenken. Denn was geschah als Nächstes? Dorrie bekam Wehen - zwei Wochen zu früh, durch den Schock ausgelöst, und die Fruchtblase platzte genau dort, zwischen dem Löwenfell und dem mittleren Fenster. Ich sehe die vertraute Szene vor mir: Da ist meine Mutter, die ich nie kennengelernt habe; sie bricht zusammen; Schreie, und mein Vater läuft los, um Hilfe zu holen. Bella, die wild entschlossen zwischen den gespreitzten Beinen ihrer Tochter hockt - und eigentlich müsste alles gut gehen, denn Bella ist eines von vierzehn Kindern gewesen, sie hat bei sechs Niederkünften ihrer Mutter Ocean geholfen, sie ist vertraut mit Geburten. Doch diese Geburt verläuft nicht erwartungsgemäß. Es ist Dorrie´s erste Geburt, und sie ist eine zierliche Person, noch fast ein Mädchen, weshalb Bella mit langen Wehen rechnet, doch dieses Kind will nicht warten, und binnen knapp fünfzehn Minuten ist mein Kopf zu sehen, Blut überall, und dann, wusch, bin ich da: Ausstieg eines kleinen Ausserirdischen durch die Notluke.





    Ein kleiner spitzköpfiger Marsianer, der in Bellas Hände gleitet. Der Marsianer ist glitschig, ich bin glitschig, und inzwischen hat Bella Angst bekommen wegen des vielen Bluts. Sie lässt mich fallen, und ich lande auf dem Löwenfell. Offenbar muß Daniel, der Neugeborene, einen erschreckenden Anblick geboten haben: schwarze Zigeunerhaare, muskulöse Arme, wildes Gesicht, von Schmerz und Wut verzerrt, und mit meinen blutigen Händen klammere ich mich an die dicke violette Nabelschnur.

  • Hallo,


    und wieder mal eine super interessante FS .. Ziemlich viele Informationen, so dass ich das ganze 2 mal lesen musste. Aber die Fotos dazu .. Und die Erzählung .. Einfach klasse.


    Nur bin ich total neugierig, was es mit dem Tod von Maise auf sich hat .. Doch du meintest schon, dass wir da wohl noch etwas warten müssten ..


    Daher: Wieder mal ein riesen Lob (schon langsam wird es langweilig, oder ? ;-)) und ich warte geduldig auf die Antworten meiner vielen Fragen.

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    ~~ Das LESEN ist die Möglichkeit, die Realität verblassen, und seinen Geist im Universum und der Zeit wandern zu lassen ... ~~[/CENTER]

  • Cyber19: Vielen Dank! Ich will ja nicht die Spannung nehmen, aber noch in diesem Kapitel erfahrt ihr was mit Maisie gewesen ist. Obwohl ich selbst denke, das es damit noch viel viel viel mehr aufsich hat, aber das weiss ich selbst noch nicht so genau! Und nein, es wird ganz und gar nicht langweilig. Kapitel 12 wird wieder ein wenig anders und darauf freue ich mich schon, dann erfahrt ihr sogar, wie es einer der Schwestern geht, welche verrat ich aber nicht! *gg*


    Und bitte seid mir nicht böse, aber ich wusste nicht was ich für Bilder machen sollte, deshalb kommt gleich ein richtig langer Text... *sorryyy*



    Ich versuche mich am indischen Seiltrick. Ich klettere an der Nabelschnur hoch, um in den Bauch zurückzukommen - und als mir das nicht gelingt, mache ich meiner Empörung darüber auf eine Weise Luft, die Bella mir immer wieder vorgehalten hat. Zuerst klappe ich die Augen auf, klick, wie die Blende einer Kamera. Dann reiße ich dramatisch den Mund auf und lasse mein rosa Zahnfleisch sehen. Mich muß man nicht schütteln oder auf den Rücken schlagen: Ich gebe von selbst einen angstvollen lauten Schrei von mir - nur einen einzigen, was Bella noch nie erlebt hat. Er hallt in dem riesigen Raum dieses riesigen frommen Hauses wider und lässt Bella das Blut in den Adern gefrieren. Übernatürliche Kräfte, sie spürt es augenblicklich. Die Gabe, von Ocean über Bella an mich weitergegeben: Dieses Roma-Baby weiß, dass seine Mutter, die da auf dem Boden liegt, mit Sterben beschäftigt ist. Der Schrei ist Hellseherei. Dieser Kleine weiß, dass er seine Mutter gerade umgebracht hat.





    An diesem Punkt kommt der Auftritt des neuen Dorfeinwohners, der so schnell als möglich, aber zu spät geholt wurde: Dr. Marlow. Er naht in seinem Ford, mit meinem bleichen Vater auf dem Beifahrersitz. Er rast die Treppe zur einstigen Marienkapelle - jetzt Bibliothek - hinauf. Er schneidet die Nabelschnur durch, wickelt mich in Bellas Petticoat und versucht die Blutung zu stoppen. Doch es gelingt ihm nicht. Meine Mutter stirbt schnell und leise - und ich weiß immer noch nicht, wo genau. Ich wußte es nicht, als ich mit sechs Jahren in das Hagioskop blickte, und etliche Jahrhunderte später - mir scheinen es Jahrtausende zu sein -, als ich neben Dr. Marlows Sohn in einer Galerie in London sitze, weiß ich es immer noch nicht.
    Ist Dorrie auf dem Parkett in der Bibliothek verblutet, auf dem Weg ins Krankenhaus in Deepden oder, Stunden später, dort in der Klinik? Ich weiß, dass ich sie getötet habe, aber ich will wissen, wo. Irgendwie würde mir das helfen. Bella sagte mir immer:
    Im Krankenhaus, du Dummerchen. Sie hielt das kleine weiße Gebetbuch in Händen, das ich ihr geschenkt hatte, das mit dem Ledereinband. Und als sie gegangen war, haben Joe und ich ihr das Hochzeitskleid angezogen, das war schlimm für ihn, es ist mir ein Gräuel, einen erwachsenen Mann weinen zu sehen, waren schon als Kinder ein Herz und eine Seele, die beiden, und das Kleid war noch kein Jahr alt, zehn Meter glatter Satin, wir hatten unsere ganzen Bezugsscheine dafür aufgebraucht. Wir haben sie im vorderen Zimmer aufbewahrt, und das ganze Dorf hat ihr die letzte Ehre erwiesen, und als die Mortlands davon hörten - Joe hat ihnen geschrieben -, schickten sie ein Telegramm, das hängt da im Rahmen an der Wand - die arme Dorrie, sie hielt so große Stücke auf die Mortlands, hat sie immer verehrt, ich dachte, es würde ihr gefallen.
    Aber habe ich das geglaubt? Glaubte ich diese Version der Geschichte? Ich habe sie gesucht, Dorrie in ihrem weißen Satinkleid. Ich glaubte, wenn ich alles ausspionierte und in allen Winkeln nach ihr suchte, würde ich sie finden, und sie würde mir berichten, was wirklich geschehen war. Sie würde mir sagen, dass sie mir verziehen hätte. Sie würde mir erklären, warum sie mich verließ. Doch ich fand sie nie - und Bellas Berichte nützten mir nichts. Ich wurde an dem Tag geboren, an dem der zweite Weltkrieg zuende ging - das steht auf meiner Geburtsurkunde. Und meine Mutter Dorrie starb an diesem Tag - das wurde vom Vater meines besten Freundes attestiert, der den Totenschein ausfüllte. Meine Geburt fiel also auf einen historisch bedeutsamen Tag - Geburtstag des Friedens, sagte Großmutter immer, wenn sie mich trösten wollte. Die Messerschmitt war Schuld an ihrem Tod, nicht ich, das dürfe ich nie vergessen. Wenn das Flugzeug nicht gewesen wäre, dann wäre die Geburt normal verlaufen, und Dorrie wäre noch bei mir. Hör auf zu schniefen, sagte Großmutter und kniff mich. Denk doch, Danny, denk doch - wie viele Babys kommen schon auf einem Löwenfell zur Welt?
    Eine nette Mär. Haarspalterische Fragen sollte man sich lieber verkneifen, wie zum Beispiel: Was hatte dieser wildgewordene deutsche Jagdbomber in jedem Mai auf den Feldern von Suffolk zu suchen? Was für ein Interesse sollte Großmutters behelmter Hunne daran gehabt haben, ein neunzehnjähriges hochschwangeres englisches Mädchen, das ihrem Gatten beim Karottensäen zusah, vom Leben zum Tode zu befördern? Was hatte es mit dieser verspäteten Kamikaze-Aktion auf sich? Der Krieg in Europa war vorbei. Und dann gab es auch noch Variationen, wie immer in Bellas Geschichten. Wenn sie mal wieder zu viel Mackeson´s intus hatte, wurde aus der Mister Schmitt unversehens eine Dornier.





    "Ich habe es nachgeprüft", sage ich jetzt, in der stillen Galerie. Zumindest glaube ich, dass ich die Worte ausgesprochen habe, aber vielleicht auch nicht, denn Nick zeigt keinerlei Reaktion, und auch der ältere Aufseher nicht, der am Eingang sitzt. Sonst hält sich niemand hier auf, die Galerie schließt bald.





    Als ich fünfzehn war und aufs Gymnasium ging, habe ich recherchiert. Ich ging ins Archiv der Lokalzeitung und schaute im Schweiße meines Angesichts die Wälzer mit vergilbten Zeitungsartikeln durch. Ergebnis: Meine Vermutungen wurden voll bestätigt. Es gab tatsächlich einen solchen Zwischenfall mit einer Messerschmitt, die auf die Abtei schoss. Es konnte nie geklärt werden, was es damit auf sich hatte; man vermutete, dass der Bomber unterwegs war zum Stützpunkt in Deepden und aus schierer Vernichtungswut auf die Abtei feuerte. Kommt mir nicht sehr warscheinlich vor, diese Theorie. Vielleicht lag dieser Deutsche, der von seiner Staffel getrennt war, in den letzten Zügen; dann kann ich ihn nur bemitleiden. Er starb jedenfalls einen furchtbaren Tod, als sich das Flugzeug ins Acre Field bohrte - aber all das ereignete sich vier Jahre vor Kriegsende, zwei Jahre vor der Hochzeit meiner Eltern, 48 Monate, bevor ich auf das Löwenfell fiel.





    "Ich will endlich die Wahrheit hören", sagte ich zu Bella, als ich aus dem Archiv nach Hause kam. Bella sah mich mit einem ihrer Ocean Blicke an - uralte Weißheit der Roma, Augen, die in die Ferne blicken etc. Ich ließ mich nicht ablenken. "Also los, Großmutter, was ist damals passiert?", frage ich.
    Und sie berichtete haarklein: Doch, es stimmte alles, der Ort, die plötzliche Wehen, das Fenster, Cotter´s Frühkarotten, Löwenfell. Der einzige Zusatz war die Messerschmitt gewesen: Großmutter hatte sie hinzugefügt, als ich noch klein war, weil ich sie ständig mit Fragen belästigte, und in gewisser Weise könnte diese Version auch stimmen, denn als meine Mutter am Fenster der Marienkapelle stand, sah sie etwas.
    Doch was sie sah, wußte auch Großmutter nicht genau. Es mochte der todbrigende Jagdbomber gewesen sein, der vier Jahre später einen Geisterflug startete. Es mochte auch etwas anderes gewesen sein; jedenfalls hatte Dorrie, bei der sich die Gabe noch nie gezeigt hatte, etwas Unheimliches gesehen, etwas, das auch die hellsichtige Bella nicht entdecken konnte und das grauenvoll war. So grauenvoll, das die Wehen verfrüht einsetzten.





    Ich stehe auf. Es ist totenstill in der Galerie. Nick atmet nicht. Ich atme nicht. Ich denke über meine Vergangenheit nach, über meine Schuld. Als Kind tat ich mich schwer mit der Geschichte meiner Geburt; später legte ich mir ein dickeres Fell zu. Ich merkte, dass die Scham und der Schmerz, die ich mit meiner Herkunft verband, verschwanden, wenn ich eine Show daraus machte. In Cambridge kam ich gut an mit meiner Roma-Herkunft, meinen Berichten von Ocean und Bella und dem pflügendem Vater. Sicher, ich war ein Zigeuner, aber ich war nicht blöd: Mir war klar, dass ich niemals dazugehören würde, aber in den Sechzigern hatte man ganz gute Karten, wenn man sein Unterschicht-Image geschickt einsetzte.



  • Als ich einmal los gelegt hatte damit, gab es kein Halten mehr. Ich schmückte die Geschichten aus ohne Ende, und in dem Sommer in der Abtei, als Lucas das Porträt malte, hatte ich eine perfekte Version meiner Geburt auf Lager. Ich gab sie gerne zum Besten - und eines Abends im Zwielicht erzählte ich sie auch Maisie. Das war ein paar Tage vor dem alljährlichen Treffen in Elde; wir hielten uns alle in der Bibliothek auf. Ich ging mit Maisie zum Fenster und zeigte ihr die Blutflecken von Dorrie auf dem Parkett.





    "Sie hat etwas Furchtbares gesehen?", fragte Maisie stirnrunzelnd. "Die Nonnen? Oder diese drei toten Babys?". Denn ja, man sei mir gnädig, davon hatte ich ihr auch erzählt. "Etwas Grauenhaftes", bestätigte ich. Ich hatte zuviel Wein getrunken. "Es muß etwas ganz Grauenhaftes gewesen sein."
    "Und du bist sicher, dass sie am mittleren Fenster stand?"
    "Ganz sicher. Am mittleren Fenster."





    "An diesem Fenster habe ich dich auch gesehen", erwiderte sie auf ihre sonderbare ernsthafte Art. "Ich war die erste in der Familie, die dich gesehen hat. Am Tag von Daddys Begräbnis, obwohl es natürlich kein richtiges Begräbnis war. "Deshalb sind wir Freunde."
    "Ja", sagte ich. "Genau". Und ich gesellte mich wieder zu Nick, Finn und Julia.





    Drei Wochen später ging Maisie in die Bibliothek, als niemand sich dort aufhielt, öffnete dieses mittlere Fenster, stieg auf das Sims und sprang in die Tiefe. Zehn Meter tief, und sie landete auf dem Steinboden des Kreuzgangs. Einer Theorie zufolge (an die Stella glaubt) sprang sie nicht hinunter, sondern stand auf dem Fenstersims und rutschte aus. Ich sehe das anders. Ich habe sie gefunden. Ich kann den Gedanken daran nicht ertragen.





    "Bin gleich wieder da", sage ich zu Nick und laufe los. "Ich muss nur ... dauert nicht ... " Schnell. Ich bin schon ewig weit entfernt, bevor er was sagen kann.





    "Helfen Sie mir", sage ich zu dem ersten Uniformierten, den ich sehe. Es würde mich nicht wundern, wenn er mich verhaften ließe, aber er ist ein gutherziger Mensch, dieser Bewacher der Galerie. Er nimmt mich am Arm, weist auf eine Treppe, und wahrhaftig finde ich die richtige Tür, nachdem ich noch eine Weile durch die Hölle gegangen bin. Da bin ich endlich allein, Daniel und sein Spiegelbild, dreifach auf der Herrentoilette.

  • Kapitel 12


    Schau genau hin





    Eines möchte ich klarstellen: Alles, was danach geschah, führe ich auf die zwei Minuten und zwanzig Sekunden zurück, die ich in diesem kühlen, stillen, weiß gekachelten Raum zugebracht habe.





    Als ich die Tür öffne und sie hinter mir schließe und sich mir der entsetzliche Anblick meiner Selbst im Spiegel bietet, wird mir sonnenklar, was ich zu tun habe.





    Ich muss ausnüchtern, die Drogen absetzen und dann drogenfrei bleiben. Ich muss das restliche Zeug in den Müll werfen, wie ich es Nick schon vor sechs Wochen versprochen hatte. Ich muss mich wieder in den Griff kriegen. Ich muss mich erneuern. Und ich muss jetzt damit anfangen. Sofort!





    Wenn ich in der Vergangenheit Fehler begangen habe, werde ich mich absofort nicht mehr mit ihnen beschäftigen. Nichts lässt sich mehr rückgängig machen, weshalb es völlig sinnlos ist, wenn ich mich geißele oder durchdrehe oder von einem Chemiebedarf- und Eisenwarenladen zum nächsten renne und mir Stanley-Messer und Paracetamol-Plus und uralte Gilette-Rasierklingen anschaffe. Wem soll das nützen?





    Niemandem, und mir erst Recht nicht. Ich werde also nicht mehr an Finn oder Maisie, an alte Liebe oder alte Schuld, an verflossene Berufsträume, vergeudetes Talent oder den verlassenen Vater denken. Das ist alles so verdammt melodramatisch, und ich will nichts mehr zu tun haben mit diesem Pathos. Ich werde mit neuer Kraft voranschreiten. Ich werde tun, was jeder vernünftige Mensch tut: mich zufrieden geben, mit dem, was ich kriegen kann - anständige Arbeit und Bedeutungslosigkeit.





    Wie sehe ich mich in, sagen wir, fünf Jahren? Das Wort Bürger kommt mir in den Sinn. Ja, ein guter Bürger von Islington, ein Familienvater vielleicht, sofern es sowas noch gibt. Ich sehe es jetzt ganz deutlich vor mir: ein bescheidenes Häuschen in London, ein bescheidenes Cottage auf dem Land, beim Frühstück den Guardian, das umweltschonende Auto, den Komposter. Die Spenden an Oxfam, die zwei Komma vier Kinder, die patente Frau, den Rentenplan; die kurzen Wanderwochenenden, die Drei-Wochen-im-bezaubernden-Ferienhaus-in-Frankreich-Urlaube; der Geruch der Unantastbarkeit, die tröstenden Prinzipien, die Hoffnung auf einen Neuanfang ... oh, das untadelige Leben: Ich kann es kaum erwarten.






    Ich trete ans Waschbecken. Alles is klar, ich habe mich entschieden. Ich bin so entschlossen, ich bin geradezu göttlich.
    Und dann ...



    -------------------------------------


    Und dann ....???
    Was wird wohl passieren??
    Wird Dan sich wirklich ändern und einen Neuanfang wagen?
    Oder wird er wieder dem alten Leiden verfallen?
    Das alles erfahrt ihr im nächsten Teil...