„Jetzt sag doch mal ‚Jamie’!“ Doch statt ihrem Onkel mal diesen kleinen Gefallen zu tun, sah mich Rebecca nur groß an und steckte sich dann die Finger in den Mund. „Ist doch nicht so schwer. Jaaa-miiiie!“ Sie plapperte irgendetwas vor sich hin, das nicht im Entferntesten nach meinem Namen klang und entschied, dass das Aquarium eher ihre Aufmerksamkeit verdiente als ich. Ich seufzte. Das Wochenende hatten wir überstanden, auch wenn es ein paar kleinere Krisen gab, von denen wir aber irgendwie vergaßen Melissa und Tyra zu berichten, als die beiden nach ihren Kurztrips wieder nach Hause kamen… Im Übrigen hatte Melissa sich beruhigt und sowohl mit mir als auch mit Tyra – zwischen den beiden hatte es laut Nick auch irgendwelche Differenzen gegeben – wieder Frieden geschlossen.
Die Türklingel schrillte und ich hörte Melissa aus dem Flur rufen: „Ich geh’ schon!“ Einen letzten verzweifelten Versuch unternehmend, flehte ich Rebecca von weitem an: „Versuch’s doch wenigstens einmal. Ja-mie…“ Ich war total überrascht, als ich plötzlich tatsächlich meinen Namen hörte. Das kam allerdings nicht von Rebecca, sondern von der Person, die eben geklingelt hatte und offenbar zu mir wollte. Und ehe ich richtig mitbekam, was vor sich ging, stürmte eine junge Frau ins Wohnzimmer und fuhr mich lautstark an: „Wo ist meine Tochter?!?“ Melissa folgte ihr mit hilflosem Gesichtsausdruck und sagte vorsichtig: „Ähm, Jamie… Besuch für dich.“ „Ich seh’ schon“, meinte ich ironisch. Inzwischen hatte die Fremde, die ich aus nahe liegenden Gründen für Rebeccas Mutter hielt, die Kleine entdeckt und nahm sie auf den Arm.
„Da bist du ja, mein Schatz“, sagte sie zärtlich und ich fragte mich, ob das die gleiche Frau war, die mich eben noch mit einer ganz anderen Stimme angeschrieen hatte. Rebecca schien sich auf jeden Fall zu freuen und schmiegte sich an ihre Mutter. „Dann bist du also Charlene?“ erinnerte ich unseren Gast elegant daran, dass manche Leute sich vorstellen, wenn sie in ein fremdes Haus hereinplatzen. Sie warf mir einen feindseligen Blick zu und nickte. „Und du bist demzufolge der Bruder von Wayne… diesem nichtsnutzigen Mistkerl.“ So durfte sie in meiner Gegenwart nicht über meinen Bruder sprechen. „Hey, er hat Rebecca nur hier gelassen, weil er keine andere Möglichkeit…“, versuchte ich ihn zu verteidigen, aber sie hörte mir gar nicht zu, sondern fauchte: „Wo ist der Rest der Sachen?“
Ich war sonst nicht auf den Mund gefallen, aber dieses Verhalten verschlug sogar mir die Sprache, ganz zu schweigen von Melissa, die Charlene ungläubig anstarrte. Kein „Hi, ich bin Charlene, ich möchte Rebecca abholen“ und schon gar kein „Danke, dass ihr euch um mein Kind gekümmert habt“. „Oben“, brachte ich irgendwann heraus. „Okay, mein Wagen steht direkt gegenüber, wenn du also alles in den Kofferraum…“ „Moment mal. Findest du das nicht ein bisschen unhöflich?“ mischte sich Melissa plötzlich ein, und ich musste mich zusammenreißen, damit mir nicht der Mund offen stehen blieb. Charlene betrachtete sie mit einem „wer bist du eigentlich und warum sprichst du mich an“-Blick von oben bis unten, ehe sie sich zu einer Antwort, besser gesagt zu einer Gegenfrage, hinreißen ließ.
„Wie bitte?“ Für einen Augenblick sah es so aus, als hätte Melissa Angst vor der eigenen Courage bekommen, aber dann fuhr sie fort. „Ich meine, Jamie hat Rebecca schließlich für mehrere Tage aufgenommen, ein Kind, das ihm vorher ganz fremd war. Er kann doch nichts dafür, dass du und Wayne nicht miteinander klarkommt. Also wenn du irgendwelche Probleme mit seinem Bruder hast oder damit, dass der auf Geschäftsreise geht, statt sich um seine Tochter zu kümmern, dann lass das nicht an Jamie aus!“ So langsam kannte ich mich mit Melissa wirklich nicht mehr aus. Sie wäre die Letzte gewesen, der ich so eine Rede zugetraut hätte, und was das Erstaunlichste war: es schien zu wirken. Charlenes Gesichtsausdruck verlor ein wenig an Härte und sie dachte offensichtlich ernsthaft über die Predigt nach, die ihr eine völlig Unbekannte soeben gehalten hatte.
„Dann will ich dir mal was sagen, …“ Sie sprach jetzt ganz ruhig und sah Melissa fragend an. „Melissa“; stellte diese sich vor. „Melissa. Du hast keine Ahnung von meinem Leben. Ich habe einen sehr stressigen Job, bin allein erziehende Mutter von einem Kleinkind und komme gerade von der Beerdigung meines Großvaters, der mir wirklich viel bedeutet hat. Ich habe Rebecca sicher nicht leichten Gewissens bei ihrem Vater abgegeben, aber ich hatte keine Wahl. Und anstatt diese einmalige Chance zu nutzen, seinen Pflichten nachzukommen, hinterlässt er mir eine Nachricht, dass er seine Tochter bei einem gewissen Jamie gelassen hat… Hast du Kinder, Melissa?“ Diese schüttelte den Kopf. „Also kannst du dir vermutlich nicht vorstellen, wie ich mich in dem Moment gefühlt habe. Ich hab keine besonders gute Meinung von Wayne als Partner in einer Beziehung, aber ihn ich kenne wenigstens.“
Charlene sah mich ernst, aber nicht mehr unfreundlich an. „Ich habe mir das Schlimmste ausgemalt. Du hättest Drogendealer, Zuhälter oder sonst was sein können.“ Sie atmete tief durch. „Scheint ja nicht der Fall zu sein. Aber Melissa hat Recht, ich hab meine Wut auf Wayne an dir ausgelassen. Tut mir Leid. Wenn ihr irgendwelche zusätzlichen Kosten oder sonstigen Unannehmlichkeiten hattet, komme ich natürlich dafür auf.“ Einen kurzen Augenblick später hielt sie mir ihre Visitenkarte hin. „Und jetzt würde ich gern…“ Ich unterbrach sie, nachdem ich mir den Namen und die anderen Angaben auf der Visitenkarte dreimal durchgelesen hatte. „Williams? DU bist Charlene Williams?“ „Ja. Gibt es ein Problem mit meinem Namen?“ Kein Problem, eher eine Chance…