• *




    Nur langsam verzog sich der dichte Nebel und gab den Blick auf ein Mädchen frei, das still und verträumt auf der Erde saß. In den langen, das Gesicht umrahmenden Haaren glänzte ein Diadem, das weiße, von einem braunen, goldbestickten Mieder gehaltene Kleid verlieh ihr einen Hauch von Verletzlichkeit. Ihre blaugrünen Augen blickten abwesend, fast ein wenig traurig auf einen Punkt vor sich, den wohl nur sie sehen konnte.
    Friedvolle Stille herrschte ringsum, bis sie von einer kristallklaren Stimme unterbrochen wurde.




    [B]
    [/B]„Dachte ich es mir doch, dass ich dich hier finde!“ Leicht belustigt, doch mit liebevollem Blick betrachtete die Frau das am Boden sitzende Mädchen. „Alyssa und Semira haben dich im ganzen Tempel gesucht. Was machst du denn nur?“
    „Ich seh mir die Sterne an!“ antwortete das Mädchen, der abwesende Blick verschwand, sie lehnte sich nach hinten, vergrub die Hände im weichen Gras und sah demonstrativ nach oben in den Himmel.
    „Soso, die Sterne!“
    „Ja! Findest du nicht auch, dass sie wunderschön sind? Schön und .... so geheimnisvoll! Sie scheinen hier ganz nahe zu sein, als müsste ich nur die Hand ausstrecken, um sie zu berühren!“




    [B][B]
    [/B][/B]„Und? Hast du es versucht?“
    „Was?“
    „Nach den Sternen zu greifen!“
    „Aber das geht doch gar nicht!“
    „Woher willst du das wissen?“ Die Frau kam zu ihr herüber und blieb direkt neben ihr stehen. „Was du kannst oder nicht kannst, weißt du erst, wenn du es versucht hast.“
    Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Aber das ist vollkommen unmöglich, selbst für uns! Oder hast du schon einmal einen Stern berührt?“
    Die Frau wollte gerade verneinen, aber dann hielt sie inne. „Ja, ich glaube, das habe ich schon.“ Sie lächelte still in sich hinein, als das Mädchen sie verständnislos und ungläubig ansah. Oh ja, sie hatte einen Stern berührt!
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    [/B][/B][/B]Sie zögerte nur einen Augenblick, dann setzte sie sich zu ihr auf den Boden. „Ich habe sogar einen Teil davon mitgenommen.“ meinte sie schließlich.
    „Du nimmst mich auf den Arm!“ Das Mädchen gluckste leise lachend vor sich hin, sah aber dann voller Staunen, wie sich ein verträumter, wehmütiger Zug über das Gesicht der Frau legte.
    „Aber nein, ganz und gar nicht!“ versicherte sie.
    „Und wo hast du dann diesen „Sternenteil“ versteckt?“ fragte ihr jüngeres Gegenüber, noch immer ungläubig in eher neckendem Ton. Doch die Frau ging nicht darauf ein.
    „Er sitzt direkt vor mir!“ antwortete sie voller Ernst.
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    [B][B]
    [/B][/B][/B][/B]Das Mädchen begann zu strahlen, als sie den Sinn ihrer Worte verstand. „Bin ich das wirklich, dein Stern?“ fragte sie, ohne den Blick vom Himmel abzuwenden.
    „Ja, das bist du! Nichts ist mir wichtiger.“
    „Willst du mich deshalb nicht zu den Menschen lassen? Weil du fürchtest, mir könnte etwas geschehen?“ Ganz leise hatte sie es gesagt, aber die Frau verstand sie trotzdem und nickte.
    „Genau deshalb. Du bist noch zu jung, und die Welt der Menschen birgt viele Gefahren, denen du noch nicht gewachsen bist.“
    „Aber woher weißt du das, wo ich doch noch nie die Gelegenheit hatte, es zu versuchen. Und das sollte ich doch wohl, oder habe ich dich da eben mißverstanden?“
    „Nein, das hast du nicht. Du sollst es versuchen, aber nicht jetzt!“
    Wie um zu demonstrieren, wie wenig ihr die Wendung des Gesprächs gefiel, erhob sich die Frau und das Mädchen tat es ihr gleich.
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    [/B][/B][/B][/B][/B]„Aber wann?“ verlangte sie zu wissen. „Wann wirst du mir endlich erlauben, den Tempel zu verlassen und all die Wunder zu sehen, die wir erschaffen?“
    „Wenn du dafür bereit bist. Warum nur hast du es so eilig damit?“
    „Weil ich mich nutzlos fühle. Alyssa, Semira, du, jeder hier hat seine Aufgabe. Nur ich nicht.“
    „Natürlich hast du eine Aufgabe!“ widersprach die Frau heftig, aber das Mädchen wehrte ab.
    „Lernen, lernen, lernen? Nennst du das eine Aufgabe?“
    „Aber ja! Alle Kinder müssen lernen. Wie willst du deine Fähigkeiten richtig einsetzen, wenn du sie nicht beherrschst?! Wie willst du die Welt und ihre Geschöpfe lenken, wenn du nicht über das nötige Wissen verfügst?!“
    „All das habe ich gelernt und noch vieles andere. Ich bin längst kein Kind mehr.“
    „Nein, das bist du nicht! Sobald deine Initiation geschehen ist, wirst du deine Aufgabe bekommen. Falls man nichts anderes über dich bestimmt, könntest du mir helfen und die Seelen ins Licht geleiten. Nun? Wie wäre das?“
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    [/B][/B][/B][/B][/B][/B]Hoffnungsvoll sah sie das Mädchen an, doch sie schien ihren Enthusiasmus nicht wirklich zu teilen. „Was ist?“ fragte sie unsicher. „Gefällt dir diese Aufgabe nicht?“
    „Nein, das ist es nicht.“
    „Was ist es dann?“
    „Ich... ich dachte an etwas anderes. An ..... ein Versprechen von dir!“
    „Ich weiß nicht, was du meinst!“ sagte die Frau, obwohl sie durchaus ahnte, wovon das Mädchen sprach. Und ihr Verdacht wurde auch sogleich bestätigt.
    „Ich dachte an meinen Vater!“
    „An deinen Vater? Wieso? Wieso jetzt?“ Die Stimme der Frau wurde für einen Moment ungewöhnlich schrill, bevor sie sich wieder beruhigte. „Du hast hier doch alles, was du brauchst, oder nicht?“ Sie versuchte, das Mädchen in ihre Arme zu schließen, doch sie wich ihr aus.
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    +

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  • *




    Das Mädchen lief an ihr vorbei ins Innere des Pavillons und blieb dort, mit dem Rücken zu ihr, am Geländer stehen.
    „Sag mir, wieso?“ bat die Frau erneut, während sie ihr nachging.
    „Du hast es versprochen.“ antwortete das Mädchen leise, fast tonlos, wissend, dass die andere sie dennoch hörte. “Wenn ich alt genug wäre, hast du gesagt, wenn ich die Initiation erreiche, dann wolltest du mir alles über meine Herkunft erzählen und über meinen Vater. Warum ich ihn nie kennengelernt habe. Und warum niemals jemand über ihn gesprochen hat, als hätte er nie existiert. Du hast verlangt, dass ich keine Fragen stelle, bis es soweit ist, und das habe ich getan. Aber jetzt bin ich kein Kind mehr. Ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren, alles, oder meinst du nicht?“
    Die Frau seufzte leise vor sich hin. Sie hatte diesen Moment gefürchtet, gehofft, er würde niemals kommen. Alles hatte sie getan, um das Mädchen diesen törichten, aber auch verständlichen Wunsch vergessen zu lassen. Ohne Erfolg, wie sie nun sehen musste.



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    [/B]„Du hast recht!“ gab sie zu und das Mädchen drehte sich zu ihr herum.
    „Ich will dir damit bestimmt nicht wehtun.“ sagte sie. „Aber er ist doch ein Teil von mir, oder ich von ihm. Wie kann ich mich selbst erkennen, wenn ein Teil noch immer fehlt. Verstehst du das?“
    Die Frau nickte. „Wenn deine Initiation vorüber ist, werden wir uns unterhalten!“
    „Wirklich?“
    „Ja, ich werde mein Wort halten. Aber du musst mir auch etwas versprechen.“
    „Was du willst!“ willigte sie ohne Zögern ein, wurde aber sofort in ihrem Eifer gebremst.
    „Du solltest es dir erst anhören, bevor du es tust. Ich möchte nämlich, dass du mir versprichst, nicht ohne meine Einwilligung in die Menschenwelt zu gehen. Laß dir noch etwas Zeit damit, bis du besser mit deinen Kräften umgehen kannst.“



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    [/B][/B]Sie dachte nur kurz darüber nach und es schien ihr nicht zuviel verlangt. Also nickte sie erst zaghaft, doch dann sehr bestimmt. Die Frau lächelte sie erleichtert an, nahm sie in den Arm und drückte sie lang und innig an sich, bis sie von einem vorsichtigen Räuspern unterbrochen wurden.
    Als sie sich nach der Ursache des Geräuschs umdrehten, sahen sie eine weiteres Mädchen auf sich zu kommen.
    „Was gibt es, Semira?“ fragte die Frau.
    „Vergib, Herrin, aber soeben ist ein Bote aus dem Rat eingetroffen. Es ist soweit.“ Mit einem glücklichen Kopfnicken deutete Semira auf das Mädchen und die beiden verstanden.
    „Und? Bist du bereit, den Schritt zu gehen?“ fragte die Frau und das Mädchen holte tief Luft.
    „Ja!“ sagte sie entschlossen. „Jetzt bin ich es!“
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    [/B][/B][/B]Celia schrak nach oben. Einen Moment wusste sie nicht, ob das Erlebte Realität war oder nicht. Ja sie wusste nicht einmal, wo sie sich befand. Durch die Fenster drang bereits das Licht des nächsten Morgens ins Zimmer.
    „Du liebe Güte! Was für ein Traum!“ stöhnte sie, während sie sich vollends aufrichtete. Sie versuchte, sich zu strecken und stöhnte erneut. Obwohl sie mit Sicherheit tief und fest geschlafen haben musst, fühlte sie sich keineswegs erholt, eher, als hätte sie die ganze Nacht auf blanken Steinen zugebracht. Jeder einzelne Knochen tat ihr weh. Sie fühlte sich unangenehm an den Morgen nach dem Unfall erinnert. Selbst der brennende Durst war wieder da.
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    [B][B]
    [/B][/B][/B][/B]Sie kletterte aus dem Bett, griff sich den Becher auf dem Waschbeckenrand und füllte ihn randvoll mit Wasser. Das kühle Naß wirkte wahre Wunder, als es ihre Kehle hinunter rann.
    Celias Gedanken aber waren noch immer bei dem Traum. Seit sie in diesem Krankenhaus ohne Erinnerung aufwachte, war dies der erste Traum überhaupt gewesen, doch er ergab einfach keinen Sinn. Und wieso gerade jetzt? Nachdem sie ihren Namen erfahren hatte! Was war das für ein merkwürdiger Ort, wer waren diese Frauen, warum hatte sie davon geträumt? Und wieso wusste sie selbst jetzt, wo sie wieder wach war, noch immer jede Einzelheit davon?
    Sie wollte gerade den Becher wieder abstellen, als sie nur zufällig nach oben sah und der Becher aus ihren Händen glitt.
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    [/B][/B][/B][/B][/B]Dort im Spiegel an der Wand gewahrte sie niemand anderen, als die beiden Frauen aus ihrem Traum. Das Mädchen sah ihr direkt in die Augen, als wolle es ihr etwas sagen, doch es blieb stumm. Stattdessen sprach die Andere, Ältere der beiden, die, das erkannte Celia jetzt, auch die Frau gewesen sein musste, die gestern abend so plötzlich in ihrem Zimmer erschienen war.
    „Sieh hin!“ verlangte die Frau von dem Mädchen, doch Celia konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie eigentlich mit ihr sprach. „Sieh genau hin. Erkenne, was du sein kannst. Du musst es nur wollen!“
    Celias Herz schlug bis zum Hals, sie vermochte den Blick nicht von dem Spiegel zu lösen.
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    [/B][/B][/B][/B][/B][/B]Bis sie plötzlich eine andere, dunklere, gebieterische Stimme hörte, die laut und deutlich „Nein!“ sagte. Das Bild im Spiegel verschwand und Celia fuhr herum. Doch hinter ihr war absolut niemand. Sie befand sich allein in ihrem Zimmer.
    Sie taumelte leicht nach hinten, griff sich an die Schläfen, als könne sie der rasenden Kopfschmerzen, die sie ohne Vorwarnung überfielen, damit Herr werden.
    „Das hat mir gerade noch gefehlt!“ flüsterte sie vor sich hin. „Ich werde verrückt!“
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    +++
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  • Nachdem die Schwester sich nach ihrem üblichen Rundgang mit einem freundlichen Morgengruß verabschiedet hatte, ohne zu bemerken, dass die Patientin ihre Anwesenheit kaum zur Kenntnis nahm, hatte Celia sich aufs Bett fallen lassen und dachte über ihr merkwürdiges Erlebnis in der letzten Nacht nach. Es war nicht so sehr der Traum selbst, der sie erschreckte, als vielmehr das Bild im Spiegel. So real, dass sie beinahe hinter sich gegriffen hätte, um die Frauen zu berühren. Konnten Träume einem bis in die Wirklichkeit, ins Licht des Tages folgen?




    „Was haben Sie denn, Miss Moreau?“ hörte sie auf einmal eine Stimme und blickte nach oben, direkt in die aufmerksamen Augen dieses jungen Arztes, der sie leicht besorgt musterte. Er hatte sich nicht gerade ins Zimmer geschlichen, dennoch bemerkte sie ihn erst, als er direkt vor ihr stand und sie ansprach. Ihr Gesicht war bleich, der Ausdruck traurig oder doch mehr verunsichert. Für einen Menschen, der endlich seine eigene Identität wiedergefunden hatte, sah sie viel zu unglücklich aus. „Sie gefallen mir heute morgen gar nicht.“ sagte er schließlich, als sie weder antwortete noch in irgendeiner anderen Art reagierte. „Haben Sie schlecht geschlafen? Sie sind so blass, dass Sie den Krankenhauswänden damit Konkurrenz machen!“
    Es gelang ihm, ihr wenigstens ein kleines Lächeln zu entlocken, bevor sie nickte. „Ich hatte einen absolut verrückten Traum und ....“ Sie sah zu ihm nach oben. „Kann man durch so einen Unfall, ich meine, wenn man sein Gedächtnis verliert, kann man dadurch verrückt werden?“
    „Verrückt? Ja, wenn man zu sehr grübelt, statt den Dingen seinen Lauf zu lassen.“
    „Ich meine es ernst, Doktor.“
    „Ich auch. Kommen Sie! Ich weiß ein gutes Mittel gegen solche Gedanken. Sie müssen mal etwas anderes sehen, als dieses Zimmer.“ Er ließ ihr keine Zeit, erst über seinen Vorschlag nachzudenken, sondern zog sie einfach am Arm nach oben und führte sie hinaus.




    So früh am Morgen waren sie die einzigen, die es in die Cafeteria zog. Dr. Blandfort hatte ihnen aus der Saftbar einen, wie er es nannte, wirklich ausgezeichneten Orangensaft geholt, aus der Musicbox eine langsame Melodie ausgewählt und jetzt saßen sie beide gemeinsam am Tisch direkt daneben und unterhielten sich zunächst über Belanglosigkeiten. Nicolas erzählte ihr etwas über Ravensville, den Ort, in dem sie beide lebten, seine Geschichte, seine Bewohner, die neuesten Nachrichten. Sie musste feststellen, dass er über einen bisweilen doch recht bissigen Humor verfügte, was ihr ungemein gefiel, denn er brachte sie damit immer wieder zum Lachen. Bis der Arzt plötzlich wieder diesen forschenden Gesichtsausdruck bekam und sie völlig unvermittelt fragte.
    „Erzählen Sie mir jetzt etwas über ihren Traum?“
    „Ist das denn unbedingt notwendig?“ verlangte sie zu wissen.
    „Wenn Sie mehr über Ihr früheres Leben herausfinden wollen, als nur Ihren Namen, dann ja!“
    „Sicher, aber alle Menschen träumen doch und es hat meist nichts zu bedeuten!“




    „Stimmt! Meist! Aber in Ihrem Fall liegen die Dinge anders. Sehen Sie, in unseren Träumen verarbeiten wir den Alltag, unser Erlebtes, Schönes und .... weniger Schönes. Und so wäre es gar nicht undenkbar, dass Sie, wenn Sie träumen eine Reise unternehmen in ihr altes Leben. Ihre Erinnerungen sind ja nicht verloren, Sie haben einfach nur vergessen, wie man sie bewusst abruft. Nur Ihr Unterbewusstsein kann im Augenblick darauf zugreifen und lässt Sie davon träumen.“
    „Das glaube ich weniger, Doktor. Mein Traum kann nichts mit meinem früheren Leben zu tun haben, es wirkte alles mehr wie eine Fantasiewelt, nicht real. Da war nichts, was mir auch nur annähernd bekannt vorkam. Es ist also wirklich vollkommen belanglos.“
    „Nicht so schnell!“ wehrte er ab. „Nichts ist belanglos, nur weil wir es nicht verstehen. Im Traum kann sich vieles verändern, anders aussehen, als im normalen Leben. Die Traumwelt IST eine Fantasiewelt, in der nichts und alles real ist. Sie müssen nur Geduld haben, und nicht gleich aufgeben. Ich bin fest davon überzeugt, dass Ihr Verstand versucht, sich auf diese Weise selbst zu helfen, sich zu erinnern.“
    „Dann verliere ich also nicht den Verstand?“
    „Weil Sie träumen? Nein, ganz bestimmt nicht!“ Verwundert sah er sie aufspringen.




    „Da ist noch etwas anderes, nicht wahr?“ fragte er und hielt sie auf diese Weise zurück. „Was beunruhigt Sie so, Celia?“ Er wartete geduldig, bis sie sich wieder zu ihm herum gedreht hatte. Und er hörte ihr ebenso geduldig zu, als sie ihm stockend von dem Bild im Spiegel erzählte.
    „Glauben Sie deshalb, dass Sie den Verstand verlieren?“
    „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass so etwas normal ist. Ich meine, ich höre und sehe Dinge, Personen, die gar nicht da sind. Welcher normale Mensch tut das sonst noch?“
    Ich zum Beispiel, fuhr es Nick durch den Kopf, während er an Lady Cressida dachte. Laut aber versuchte er sie zu beruhigen. „Das muss gar nichts zu bedeuten haben. Sie befinden sich in einer Ausnahmesituation. Amnesie ist nicht einfach nur ein Problem ihres Kopfes, ihrer ganzer Körper steht unter starkem Streß. Was Sie gesehen haben, war vermutlich nur eine Erinnerung an den Traum, weil Sie wie wir alle versucht haben, hinter dessen Sinn zu kommen.“
    Ein Blick in ihr zweifelndes Gesicht veranlasste ihn schließlich, ihr das Angebot zu unterbreiten, die Psychologin des Krankenhauses zu ihr zu schicken. „Nur wenn es Sie beruhigt, ich glaube nicht, dass es wirklich nötig wäre.“
    „Denken Sie das wirklich?“
    „Sicher!“




    Sie lächelte und dieses Lächeln schien ihn regelrecht zu verzaubern. Er stand einfach nur da und sah sie an. Ihre Augen nahmen ihn gefangen, zwei strahlende Sterne, so klar, geheimnisvoll und tief wie der Ozean. Die Welt um sie herum versank in einem Schleier, die Zeit schien stillzustehen. Es existierte kein Gedanke mehr, nichts, nur noch dieses unglaubliche Hochgefühl, diese Wärme, die sich in ihm ausbreitete, die Sehnsucht, die alles zu beherrschen schien, schmerzhaft und süß zugleich. Sie war ihm so nah, ... wie nie ein Mensch zuvor. Ganz von allein hob sich seine Hand empor und streichelte voller Zärtlichkeit ihre Wange. Und sie schmiegte sich hinein, als wäre dies die Erfüllung ihrer eigenen Wünsche. Ihre Lippen schienen ihn zu rufen. Unendlich langsam neigte er den Kopf.





    Und kam wieder zu sich. Sie hatte sich abgewandt und bereits einige Schritte von ihm entfernt. War das eben ein Tagtraum gewesen? Aber er spürte es noch immer, dieses Gefühl, das ihn so sehr zu ihr hinzog. Er konnte das Lächeln nicht von seinen Lippen bekommen, so sehr er sich auch dagegen wehrte. Er war sich sicher, sie nicht wirklich berührt zu haben, er hatte es sich nur gewünscht. Und er wünschte es sich noch. Verdammt Nicolas! Was tust du hier? Nicht zum erstenmal rief er sich selbst zur Ordnung, aber zum erstenmal begann er an seinen eigenen Grundsätzen zu zweifeln. Faszinierte ihn diese Frau tatsächlich so sehr, dass er seine Pflichten als Arzt vergaß? Dabei bildete er sich soviel auf seine Selbstbeherrschung ein!





    Ein leises Stöhnen riß ihn aus seinen Selbstvorwürfen. Sie war stehengeblieben und krümmte sich zusammen.
    „Was haben Sie?“ rief er und eilte zu ihr.
    „Ich ... weiß ... nicht.“stöhnte sie erneut. „Es kam ganz plötzlich, dieser Kopfschmerz.“
    „Wieder der gleiche Schmerz wie an den andern Tagen?“ erkundigte sich Nicolas, nun wieder ausschließlich Mediziner. Der romantische Augenblick war vorüber.
    „Ja ... nein!“ presste sie noch immer unter Schmerzen hervor. „Es scheint schlimmer zu werden. Es fühlt sich an, als würde mir jemand ein glühendes Eisen in den Kopf stoßen.“ Sie erschauerte und Nicolas bemerkte besorgt, wie kalt sich ihre Haut auf einmal anfühlte.




    „Kommen Sie!“ sagte er. „Ich bringe Sie in ihr Zimmer zurück. Dann können Sie sich hinlegen und ich hole Ihnen etwas gegen die Schmerzen.“ Und das wird diesmal hoffentlich helfen, dachte er bei sich. Weder er noch Dr. Winters hatten bisher eine Erklärung dafür gefunden, warum die gängigen Schmerzmittel bei ihr einfach keine Wirkung zeigten. Geschweige denn, dass sie die Ursache dieser merkwürdigen Kopfschmerzen gefunden hätten. Jede Untersuchung war ohne Befund geblieben. Aber noch gedachte er nicht aufzugeben.
    Sie vorsichtig stützend führte er sie das kurze Stück den Gang entlang.


    +++

  • ***




    Etliche Stunden später kam Nicolas müde in sein Büro zurück. Die zwei komplizierten Operationen, die er heute hatte durchführen müssen, waren komplikationslos verlaufen. Wie aus dem Lehrbuch, hatte die Chefärztin gemeint und ihm freundschaftlich auf die Schulter geklopft, als er sich seinen wohlverdienten Espresso holte. Er hätte also durchaus mit sich zufrieden sein können, wäre da nicht das Rätsel um Celia Moreau gewesen. Dr. Winters, die Neurologin erwartete ihn schon vor dem OP. Auch diesmal hatte das Medikament nicht gewirkt, aber die Schmerzen waren genauso plötzlich verschwunden, wie sie gekommen waren. Und es gab einfach keine Erklärung für ihre Anfälle. Nichts im Blut, nichts auf den CT-Bildern. Nach ihren Befunden zu urteilen, war sie so gesund wie man nur sein konnte. War der Anfall vorüber, ging es ihr wieder gut, davon vermochte er sich gerade selbst zu überzeugen.




    Von seinem Büro aus konnte er sie im Garten die Nachmittagssonne genießen sehen. Er hatte eigentlich nur einen kurzen Blick nach draußen werfen wollen, aber dann blieb er wie gebannt am Fenster stehen und starrte auf sie hinunter. Es war ihm gelungen, die Erinnerung an seinen Tagtraum während der letzten Stunden weitgehend zu verdrängen, aber nun kam sie wieder zum Vorschein. Alles Leugnen nützte nichts, er musste es sich wohl eingestehen. Nicht das medizinische Rätsel fesselte seine Aufmerksamkeit, beherrschte seine Gedanken, sondern sie selbst. Hatte Cressida recht? War er dabei, sich in dieses Mädchen zu verlieben? Aber warum? Was hatte sie an sich, das ihn derart faszinierte? An ihrem Aussehen lag es nicht. Es mangelte nicht an schönen Frauen in seiner Umgebung, auch nicht an geistreichen, gebildeten wie Caroline Vandermere. Dennoch hatte sein Herz bei ihr niemals so heftig geschlagen wie an diesem Morgen, als er Celia in die Augen gesehen hatte. Noch jetzt vermeinte er die Wärme bis in jede einzelne Fingerspitze zu fühlen.





    Ein unangenehmes Knarren drängte sich in seine Erinnerungen. Und dann, noch bevor er recht begreifen konnte, woher das Geräusch gekommen war, sagte jemand mit deutlicher Belustigung: „Und ich dachte immer, du wärst hier als Chirurg angestellt und würdest operieren, dabei sehe ich dich jetzt schon eine ganze Weile an diesem Fenster stehen und träumen. Wovon träumst du Nicolas?“
    Vollkommen überrascht drehte er sich in Richtung Tür.
    „Mutter!“




    „Nun sieh mich nicht so entgeistert an, Nicolas!“ Kopfschüttelnd schloß sie die Tür und ging, da er keine Anstalten machte, ihr entgegenzukommen, auf ihn zu.

    „Was machst du hier?“
    „Also ich bitte dich, mein Lieber! Du hast mich doch schließlich selbst gebeten, dich in der Klinik zu besuchen. Oder etwa nicht?“
    „Ja, schon, nur...“ Er räusperte sich verlegen.
    „Nur was?“
    „Ehrlich gesagt hatte ich nicht damit gerechnet, dass du es je tun würdest. Und gerade jetzt nicht.“




    „Warum denn nicht?“ fragte seine Mutter mit einem absolut unschuldigen Lächeln, zog ihn sanft in ihre Arme und küsste ihn sacht auf die Stirn.

    „Wegen Arabella.“ antwortete er, während er den Kuss automatisch zurückgab.
    „Ich glaube, ich verstehe dich gerade nicht. Was hat Arabella damit zu tun, ob ich dich besuche oder nicht?“
    „Mamà!“ Nick löste sich aus ihren Armen. „Bitte lass doch diese Spielchen. Du weißt genau, wovon ich rede. Arabella möchte zu mir ziehen, und wenn ich mich recht erinnere, warst du damit nicht einfach nur nicht einverstanden, sondern sogar vehement dagegen!“
    „Ach diese kleine Meinungsverschiedenheit meinst du!“
    „Meinungsverschiedenheit?“ Nick vermochte es kaum zu glauben. Hatte sie wirklich gerade Meinungsverschiedenheit gesagt?




    „Aber ja, was sonst?! Das kommt doch, wie es so schön heißt, in den besten Familien vor!“

    Lachend ließ sie sich auf einem der Sessel nieder und winkte ihm, es ihr gleichzutun.
    Doch Nick tat nichts dergleichen und blieb misstrauisch neben seinem Schreibtisch stehen. Es passte sogar nicht zu seiner Mutter, angesichts der Heftigkeit ihrer letzten Auseinandersetzung derart leicht darüber hinwegzugehen. Sie hatte etwas vor, und es war mit Sicherheit etwas, dass ihm ganz und gar nicht passen würde.
    „Also Nicolas, was ist denn nur los mit dir? Jetzt setz dich schon, oder muss ich die ganze Zeit zu dir aufsehen?“
    Er gab sich geschlagen, vorerst. Alles andere wäre auch sinnlos. Selbst wenn er einen OP-Termin vortäuschen würde, sie ließe ihn mit Sicherheit nicht gehen, bevor sie nicht gesagt hatte, weswegen sie gekommen war.




    Also setzte er sich ihr gegenüber und wartete darauf, dass sie nach diesem Anfangsgeplänkel endlich zum Punkt kam. Und er musste eine ganze Weile warten. Denn fürs erste beschränkte sich Catherine Blandfort darauf, Konversation zu machen, etwas, worauf sie sich meisterlich verstand. Immerhin war sie auf den besten internationalen Schulen gewesen und hielt sich selbst für den Inbegriff einer Dame der Gesellschaft. Sie erkundigte sich freundlich und mit genau der richtigen Nuance an Interesse nach seiner Arbeit, seinen Kollegen, speziell natürlich seiner Chefin, ohne dass er dabei zu sehr hätte ins Detail gehen müssen. Und er konnte nicht umhin, seine Mutter dafür zu bewundern, wie es ihr gelang, das Gespräch ganz allmählich auf ihr eigentliches Anliegen zu lenken.
    „Weißt du!“ meinte sie schließlich, nachdem sie es wieder einmal bedauert hatte, dass er nur noch so selten zu Besuch nach Hause kam (selten hieß bei ihr nicht täglich!). „In einem hast du vermutlich recht.“ Nick horchte auf. Das waren ja ganz neue Töne.



    +

  • *




    „Arabella fehlt ihr Vater!“ fuhr seine Mutter fort, als habe sie sein Erstaunen nicht bemerkt. „Seit deinem Auszug wird sie ja praktisch nur von mir allein erzogen. Und ich verstehe sie einfach nicht mehr. Sie ist so stur und ungebärdig. Dein Vater wüsste sicher, wie man mit ihr umgehen muss. Aber ...“ Sie machte eine kleine Pause und setzte dann, mehr zu sich selbst hinzu. „Frances ist einfach zu früh gestorben.“ Nur für einen winzigen Moment schlossen sich ihre Augen, verzogen sich ihre Mundwinkel schmerzlich bei der Erinnerung an ihren Mann, aber genau deshalb liebte Nicolas seine Mutter. Sie würde es natürlich niemals zugeben, denn ihre Gefühle waren ihre Privatsache, die nicht einmal ihre Kinder etwas anging. Dennoch wusste Nick, dass die Ehe seiner Eltern entgegen allen Gerüchten in der sogenannten guten Gesellschaft eine Liebesheirat gewesen war und dass ihre Gefühle füreinander niemals erloschen waren. Auch dies konnte man guten Gewissens eine Blandfortsche Familientradition nennen. Seit Lord Henry mit seiner Gemahlin Cressida von England nach Amerika ausgewandert war, hatte es in dieser Familie keine Scheidung und, glaubte man der Familienchronik, auch keine unglückliche Ehe gegeben. Um so unbegreiflicher schien ihm die Eile, die seine Mutter bei ihren Bemühungen an den Tag legte, ihn mit Caroline zu verkuppeln.





    „Worauf genau willst du eigentlich hinaus, Mamà.“ fragte er sie mitten in ihre Überlegungen hinein und erntete zunächst ein unwilliges Heben der Augenbrauen, bevor sie ihm antwortete.

    „Das sagte ich doch bereits. Du hattest recht in Bezug auf Arabella. Es wäre vermutlich wirklich das Beste für sie, wenn sie eine Zeitlang in einer anderen Umgebung leben würde, .... in deinem Haus!“
    „Ähm ... Moment mal .... Nur dass ich das richtig verstehe! Hast du gerade gesagt, du lässt Arabella zu mir ziehen?“ Nick war fassungslos. Mit allem hätte gerechnet, aber damit?
    „Nun schau doch nicht so verwundert drein! Das wolltest du doch!“
    „Sicher, nur ist mir nicht ganz klar, woher der plötzliche Sinneswandel stammt. Immerhin sagtest du, und das recht deutlich, wie ich hinzufügen darf, dass deine Tochter auch bei dir leben soll. Oder habe ich dich da mißverstanden?“





    „Ganz und gar nicht, mein Lieber. Was ich gesagt habe, meinte ich auch so. Und das tue ich noch.“

    „Dann versteh ich deine Meinungsänderung erst recht nicht.“
    „Wer hat irgendetwas davon gesagt, ich hätte meine Meinung geändert?“ Sie musterte seine irritierte Miene mit dem interessierten Blick eines Raubtieres, das vor seiner Beute saß und wusste, dass diese ihm nicht mehr entkommen würde. Nick fühlte förmlich, wie sich die Schlinge um seinen Hals immer enger zog. Nur noch ein kleiner Ruck, und er war gefangen.
    Und Catherine Blandfort wartete nicht länger.
    „Ich habe nur gesagt, Arabella bräuchte eine andere Umgebung.“ fuhr sie honigsüß fort, ohne ihn auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.
    „Und da du, wie du selbst immer sagst, in der Klinik sehr viel zu tun und damit nur wenig Zeit hast, dich um deine Schwester zu kümmern, werde ich sie natürlich nicht alleine lassen.“





    Nicolas gefror das verbindliche Lächeln ein, das er zu seinem eigenen Schutz aufgesetzt hatte, um seine Gedanken dahinter zu verbergen. Das konnte doch unmöglich ihr Ernst sein, das musste er einfach mißverstanden haben. Aber wenn er sich das zufriedene Gesicht seiner Mutter ansah, bestand kaum noch der Hauch eines Zweifels daran.

    „Du willst mit Arabella zu mir ziehen? In mein Haus?“ preßte er nach einer ganzen Weile des Schweigens hervor, bemüht, sich sein Entsetzen nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Das wäre allerdings gar nicht nötig gewesen, denn seine Mutter schien entschlossen, eventuelle Einwände nicht zur Kenntnis zu nehmen.
    „Ja sicher!“ bestätigte sie ohne zu zögern seine schlimmsten Befürchtungen. „Du hast doch gewiss nicht angenommen, ich würde deine Schwester OHNE Aufsicht, ALLEIN in deinem Haus lassen? Aber Nicolas!“




    Allein ihr Tonfall zeigte, wie undenkbar dies in ihren Augen wäre. Denn in ihrem Gesicht zeigte sich nicht das geringste Zeichen von Unwillen. Sie saß immer noch freundlich lächelnd vor ihm, als hätte sie gerade über das schöne Wetter gesprochen, statt über den Versuch, sein ganzes Leben umzuwerfen.

    Es hielt ihn nicht länger auf dem Sessel. Er sprang auf und wanderte mit hektischen Schritten im Zimmer auf und ab. In eine schöne Situation hatte sie ihn da gebracht! Was zur Hölle sollte er jetzt tun?
    Im ersten Moment hatte er den Vorschlag rundweg ablehnen wollen, aber dann war ihm wieder das Gespräch mit Arabella in den Sinn gekommen. Er konnte sie regelrecht vor sich sehen, wie die Freude aus ihren Augen verschwand und sie mit hängenden Schultern in ihr Zimmer trotten würde, wenn er jetzt einen Rückzieher machte.
    „Und Nicolas?“ Catherine Blandfort hatte ihn eine Weile laufen lassen, sie wusste genau, sie hatte Zeit, und sie würde in jedem Fall gewinnen, egal wie seine Entscheidung ausfiel. Und als er sich jetzt zu ihr umdrehte, nickte sie erfreut, noch bevor er etwas sagen konnte und stand auf.





    „Ich freue mich wirklich, dass wir uns so gut verstehen, mein Junge.“ sagte sie, drückte dem immer noch reglos dastehenden Mann einen weiteren Kuss auf die Wange und verabschiedete sich. „Ich lasse dann unsere Sachen packen und zu dir bringen. Du holst uns doch heute Abend mit dem Wagen ab, oder schaffst du es zeitlich nicht?“

    „Doch, natürlich!“ war alles, was er auf die Schnelle herausbringen konnte.
    „Dann ist ja alles geklärt. Oh, bevor ich es vergesse,“ sie drehte sich noch einmal zu ihm herum und schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln. „Wir werden die Gartenparty nächsten Samstag dann natürlich bei dir abhalten müssen. Aber das macht ja nichts. Schließlich ist der Garten ja groß genug! Bis heute Abend, Nicolas!“
    Noch bevor er sich von dem neuerlichen Schock erholen konnte, war sie bereits verschwunden.




    +++

  • ***


    Er brauchte einen Kaffee! Dringend! Nein, eigentlich bräuchte er einen Brandy, und selbst der würde nicht reichen, um ihn wieder zur Ruhe zu bringen. Er hatte sich kaum gesetzt, als ein Kollege mit seiner Tasse und einem fröhlichen Lächeln direkt auf ihn zu steuerte, nur um sich dann nach einem Blick auf seine grimmige Miene schleunigst nach einem anderen Tisch umzusehen. Es kümmerte ihn nicht.
    Denn er war wütend, nicht auf seine Mutter, nein auf sich selbst. Er könnte sich ohrfeigen, dass er sich von ihr derart hatte überfahren lassen. Na gut, es war tatsächlich eine ihrer Galavorstellungen gewesen. Keine Sekunde glaubte er, sie machte das einzig wegen Arabella. Nein, sie versuchte tatsächlich, auch weiterhin über sein Leben zu bestimmen. Dabei war er genau deshalb in das andere Haus gezogen. Aber sie sollte sich verrechnet haben, ganz gleich, warum ihr an der Verbindung mit Caroline so gelegen war, er würde ihr den Gefallen nicht tun. Diesmal nicht!



    Er hatte sich in der Vergangenheit nie wirklich Gedanken darüber gemacht, in welche Richtung sich seine Beziehung zu Caroline entwickeln würde. Essen, Theater, hier und da eine Party, für ihn war sie einfach eine angenehme Gesellschafterin, selbst wenn ihre spitze Zunge vor niemandem Halt machte. Ihre gelegentlichen Andeutungen, die in letzter Zeit allerdings immer häufiger und auch immer deutlicher wurden, übersah er geflissentlich.
    Eine feste Beziehung und schon recht eine Ehe, wie sie Caroline und seine Mutter anstrebten, stand derzeit einfach nicht auf seinem Plan.
    Nur ist dieser Plan gerade mächtig durcheinander geraten! Konstatierte er sarkastisch. Und das nicht nur durch die Ideen seiner Mutter. Denn da gab es ja auch noch Celia. Dieses rätselhafte Mädchen, das den ganzen Tag in seinem Kopf herum spukte und ihn einfach nicht mehr los ließ.
    „Dr. Blandfort! Dr. Blandfort! Bitte kommen Sie in Zimmer 205!“ Das war sie! Er sprang auf, kaum dass er die Lautsprecheransage vernommen hatte und eilte davon.



    „He, was ist denn mit dir los?“ fragte Mara beim Hereinkommen. „Du liegst ja immer noch im Bett! Ist was passiert?“
    Celia schüttelte den Kopf. „Nein, nein, ich hatte nur heute morgen wieder so entsetzliche Kopfschmerzen.“
    „Na ja, bei der Umgebung hier ist das nicht weiter verwunderlich.“ Mara musterte die spärliche Einrichtung mit einem verächtlichen Blick. „Wie sieht es aus?“ erkundigte sie sich dann mit einem merkwürdig gespannten Unterton. „Hast du es dir anders überlegt?“
    „Nein!“ Entschlossen schwang Celia die Beine über die Bettkante und stand auf.



    „Du hast vollkommen recht! Ich muss hier raus.“
    „Gut! Dann zieh dich mal um! Soll ich dir beim Einpacken helfen? Ich möchte so schnell wie möglich hier wieder weg.“
    Celia schüttelte den Kopf. „Das schaff ich schon. Mach’s dir gemütlich!“
    „Gemütlich?!“ Das klang schon beinahe schrill. „Ich hatte eigentlich nicht vor, mich hier häuslich einzurichten.“
    „Keine Angst, ich beeile mich!“ lachte Celia, auch wenn sie Maras Abneigung gegenüber Krankenhäusern für etwas übertrieben hielt. „Aber tu mir einen Gefallen, setz dich inzwischen irgendwo hin.“ Nur äußerst widerwillig, so schien es ihr, kam Mara dieser Bitte nach.
    „Siehst du, schon bin ich soweit.“ Verkündete sie nur wenig später, als sie fertig angezogen vor ihr stand. „Zufrieden?“



    Mara nickte. Die Erleichterung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie wollte gerade aufstehen, als ihr Blick an Celias Hals hängen blieb. Nur für den Bruchteil einer Sekunde meinte Celia zu sehen, wie ihre Augen plötzlich ihre Farbe veränderten, blutrot wurden. Aber das war natürlich ganz unmöglich, das konnte sie sich nur eingebildet haben. Mara räusperte sich, während ihr Blick unverwandt auf den selben Punkt gerichtet war. Celias Hand fuhr hinauf zu ihrem Hals.
    „Ist was nicht in Ordnung, Mara? Ist das deine Kette?“
    „Was, ... wie?“ Sie schien ganz verwirrt, mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein.
    „Die Kette!“ Celia tippte auf das Schmuckstück an ihrem Hals. „Ich hab sie in meinem Nachtschrank gefunden. Schwester Carol sagte, dass man sie mir während der Untersuchung abgenommen hatte. Ich dachte, sie würde mir gehören. Es tut mir leid, wenn ....“ Verunsichert brach sie ab. Und da, endlich, verschwand der angespannte Ausdruck aus Maras Gesicht.
    „Nein, nein!“ sagte sie. „Es ist wirklich deine. Ich dachte nur, du hättest sie verloren.“




    +++++++++

    Moment


  • Nur zu gerne hätte sie erfahren, was es mit ihrer Kette nun wirklich auf sich hatte. Dass sie ihr viel bedeutete, das hatte sie schon in dem Moment gewusst, als sie die Schublade aufgezogen und das Schmuckstück darin hatte liegen sehen. Eine beinahe magische Anziehungskraft war von ihr ausgegangen.
    Aber sie bekam vorerst keine Gelegenheit mehr dazu, Mara zu fragen, denn die Tür wurde aufgerissen und Dr. Blandfort kam herein. Nicht ganz unerwartet. Schwester Carol hatte ihr gesagt, dass er die Entlassungspapiere unterschreiben müsse und sie ihn rufen würde. Und er schien ganz und gar nicht einverstanden zu sein mit ihrer Entscheidung.
    „Was soll das bedeuten?“ fragte er weitaus schärfer als beabsichtigt, als er sie fertig angezogen neben der auf einem Stuhl sitzenden Mara Banning sah. „Wo wollen Sie hin?“



    „Celia möchte das Krankenhaus verlassen!“ sagte Miss Banning.
    „Das hat die Schwester mir gesagt. Ich möchte wissen, warum!“ Er schenkte Miss Banning keinerlei Aufmerksamkeit, seine Augen waren einzig und allein auf Celia gerichtet.
    Die fühlte sich unter seinem forschenden Blick zunehmen unwohl.
    „Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, Doktor. Ich möchte endlich etwas tun, ich muss wissen, wer ich bin. Mein Name allein reicht mir einfach nicht. Aber hier im Krankenhaus komme ich nicht weiter. Gewohnte Umgebung! Das haben Sie selbst mir geraten. Und mir fehlt doch nichts.“
    „Und ihre Kopfschmerzen? Haben Sie die vergessen? Diese Anfälle haben eine Ursache und die müssen wir finden!“



    „Wie denn? Noch mehr Untersuchungen, die doch nur alle das gleiche Ergebnis haben, nämlich nichts? Vielleicht gibt es keinen Befund, weil es nichts zu finden gibt. Vielleicht kommt es noch von dem Unfall, vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht. Und ich will einfach nicht Wochen und Monate damit verbringen, den Grund für etwas zu suchen, das womöglich ganz von selbst verschwindet, wenn ich mein Gedächtnis wiedergefunden habe.“
    „Und wenn nicht? Wenn diese Anfälle schlimmer werden?“
    „Dann weiß ich doch, wo ich Sie finde, nicht wahr Doktor?“
    „Das ist unverantwortlich!“ wollte er sagen, doch stattdessen fühlte er wieder kurz diesen Schmerz in seinem Kopf und nickte stattdessen.



    Celia sah ihn überrascht an. Das ging aber schnell. Eben noch hatte er ihr scharf widersprechen wollen, das hatte sie mehr als deutlich sehen können, doch auf einmal glätteten sich seine Züge, sein Blick verklärte sich einen Moment lang und dann sagte er ganz ruhig:
    „Also gut! Ich kann sie ja nicht zwingen, hier zu bleiben. Und möglicherweise haben Sie sogar recht. Ihre Chancen, das Gedächtnis wiederzufinden, sind auf jeden Fall in ihrem eigenen Heim größer als hier.“
    „Danke Doktor!“ war alles, was sie in ihrer Verwunderung herausbrachte. Er reichte ihr das Formular, auf dem sie bestätigen musste, dass sie auf eigenen Wunsch und entgegen dem Rat der Ärzte entlassen wurde und setzte, nachdem sie selbst unterschrieben hatte, seine eigene Unterschrift darunter.



    Er begleitete die beiden Frauen nach draußen, wo ein Taxi bereits auf sie wartete. Bevor Sie ging, drehte sie sich noch einmal zu ihm um.
    „Ich danke Ihnen für alles, Doktor Blandfort.“
    „Ich wünsche Ihnen alles Gute, Miss Moreau. Und passen Sie gut auf sich auf.“
    „Das tue ich schon, keine Sorge.“ versicherte ihm Mara Banning mit einem Lächeln, doch es klang mehr wie eine Drohung. Irgendetwas stimmte nicht mit dieser Frau. Er musste etwas tun. Schon wieder dieser Schmerz! Grausamer als bisher. Intensiver!
    „Alles ist in bester Ordnung, Nicolas!“ hörte er Celia auf einmal sagen, ohne dass sie die Lippen bewegte. Ihre Stimme kam direkt aus seinem Kopf. Und der furchtbare Schmerz löste sich in nichts auf. „Machen Sie sich keine Sorgen!“ Sie lächelte ihn noch immer an, als wäre nichts geschehen. Und auch Miss Banning ließ nicht erkennen, dass sie irgendetwas bemerkt hatte. Er musste sich das eingebildet haben! Litt er etwa an Halluzinationen?

    +++

  • ***


    Celia stieg aus dem Taxi und blieb abwartend am Straßenrand stehen. Sie waren durch die halbe Stadt gefahren, und zu ihrem Leidwesen war ihr absolut gar nichts bekannt vorgekommen. Sie fühlte sich, als wäre sie noch niemals hier gewesen.
    „Das ist also dein Haus?“ fragte sie schließlich, nachdem sie es lange gemustert hatte. Vor allem die hohen Fenster, die viel Licht in die Räume bringen mussten, gefielen ihr. Schon im Krankenhaus hatte sie festgestellt, dass sie enge, dunkle Räume nicht mochte.



    „Unser Haus!“ erwiderte Mara. „Die Küche ist gleich unten rechts, darüber liegt mein Schlafzimmer. Deins ist links über dem Wohnzimmer. Und gleich daneben befindet sich dein Atelier.“
    „Mein Atelier? Ich habe ein eigenes Atelier?“
    „Natürlich hast du das! Ich sagte dir doch, dass du Malerin bist. Und die brauchen für gewöhnlich ein Atelier, oder etwa nicht?“
    Ihr leicht gereizter Ton strafte ihr freundliches Lächeln Lügen.
    Geduld scheint nicht gerade eine ihrer Stärken zu sein, dachte Celia, als sie ihr ins Haus folgte.



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    [/B]Sie ließ sich von Mara durchs ganze Haus führen und fand es durchaus gemütlich eingerichtet. Nur eines fiel Celia sofort auf. Nirgendwo entdeckte sie etwas persönliches, kein Foto, oder irgendwelche Andenken von Maras zahlreichen Reisen, nichts.
    An den Wänden hingen Bilder, die zwar schön waren, aber so verschieden in Stil und Ausführung, dass auch sie nichts über den Geschmack der Besitzerin ausgesagt hätten.
    Alles im Haus war peinlich sauber, nirgendwo lag auch nur das Geringste herum.
    Selbst hier im Atelier war alles sorgsam aufgeräumt.
    „Ich habe wohl gerade nicht gemalt, als der Unfall passierte.“ konstatierte sie angesichts der leeren Staffelei. „Hängen hier im Haus auch irgendwo Bilder von mir?“
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    [/B]Mara schüttelte den Kopf.
    „Du hast die Bilder ausgelagert. Du warst dabei, deine erste Ausstellung zu organisieren. Und?“ Sie deutete auf den Raum. „Du hast noch kein Wort darüber verloren, ob dir dein Atelier gefällt.“
    Was hatte denn diese Frage zu bedeuten? Ihr Tonfall ließ vermuten, dass sie die Antwort tatsächlich nicht kannte. Aber sie musste es doch wissen, wenn sie hier früher schon gemalt hatte. Celia warf der Frau neben ihr einen misstrauischen Blick zu. Manchmal fragte sie sich, was in dieser oft so unterkühlt wirkenden Frau eigentlich vorging.
    „Es ist wunderschön, Mara!“ sagte sie und das meinte sie auch ernst. So hell und freundlich, beinahe gemütlich, da musste man sich einfach wohl fühlen. Mara nickte zufrieden und meinte beim Hinausgehen nur noch:
    „Du musst Hunger haben. Ich mach uns jetzt erst mal etwas zu essen. Du kannst dich ja noch etwas umsehen.“
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    [/B]„Warte! Ich komme lieber mit. Ich habe doch noch so viele Fragen.“ Celia lief ihr hinterher.
    Die Frau blieb stehen, schluckte merklich und drehte sich um.
    „Muss das denn jetzt gleich sein? Warum lässt du dir nicht ein bisschen Zeit, dich wieder einzugewöhnen?“
    „Es tut mir wirklich leid, wenn ich dich nerve, Mara!“ entschuldigte Celia, als sie Maras mangelnde Begeisterung bemerkte. „Aber du bist nunmal die Einzige aus meinem früheren Leben, die meine Fragen beantworten könnte.“
    Mara nickte ergeben. „Schon gut. Dann komm mit und stell deine Fragen!“
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    +
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  • Sie holte sich ein Schneidbrett, verschiedenes Gemüse aus dem Kühlschrank und begann damit, es für einen Salat kleinzuschneiden. „Also los! Was willst du wissen?“
    „Du hast gesagt, ich habe keine Familie mehr. Gar keine mehr?“
    „Nein, keine.“ Sie hakte weiter auf das Gemüse ein.
    „Was ist mit Freunden? Oder den Nachbarn?“
    „Du bist, warst ein Einzelgänger. Ich weiß nicht, wen von den Nachbarn du kennst. Ich kenn sie ja selber kaum. Du hast jedenfalls nie was erzählt. Auch nicht von Freunden.“
    „Aber wieso denn nicht?



    Mara zuckte mit den Schultern und schnappte sich die fertigen Salatteller, um sie auf den Tisch zu stellen.
    „Keine Ahnung. Als du hier eingezogen bist, hast du gesagt, du würdest einfach nur malen wollen und bräuchtest keine Ablenkung. Viel Gelegenheit zum Reden hatten wir auch nicht. Ich war im letzten halben Jahr vielleicht drei- oder viermal zuhause und war nur froh, dass jemand das Haus hütete, sich um die Pflanzen kümmerte. Und das hast du ziemlich gut gemacht. Du hast ein grünes Händchen.“
    Celia folgte ihr zum Tisch und setzte sich.



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    [/B]„Und wie ist das mit den Kosten?“
    „Was meinst du damit?“ Mara versuchte Zeit zu gewinnen und seufzte. Dieses Mädchen fragte und fragte, hörte das denn nie auf? Und was für Fragen sie stellte! Jetzt musste sie sich schon wieder die nächste Geschichte ausdenken.
    „Na das ist dein Haus. Und ich wohne hier. Bezahle ich dir Miete? Und wenn ja, wo nehm ich das Geld dafür her? Wovon lebe ich? Hab ich einen Job oder so was ähnliches?“
    „So was ähnliches! Deine Eltern haben dir etwas Geld hinterlassen. Du bist nicht unbedingt reich, aber es genügt, dass du in Ruhe leben kannst. Und nein, du bezahlst keine Miete, nur deine eigenen Kosten. Reicht das für den Augenblick? Können wir jetzt essen, bevor du dir die nächste Frage einfällt?“
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    [/B]Celia nickte. Erst jetzt, als sie den Teller vor sich stehen hatte, merkte sie, dass sie tatsächlich Hunger hatte. Allerdings blieb ihr schon der erste Bissen fast im Halse stecken. Himmel, war das sauer! Verdeckt unter ihren langen Wimpern schielte sie vorsichtig zu Mara hinüber und stellte amüsiert fest, dass auch sie arge Mühe mit dem Essen hatte.
    „Ist was nicht in Ordnung?“ fragte sie scheinheilig und Mara verzog den Mund.
    „Ich vermute mal, du hast auch schon bemerkt, was für eine miserable Köchin ich bin.“ Beide lachten.
    „Vielleicht sollten wir uns doch lieber Pizza bestellen!“ schlug Celia fast schon unter Tränen vor. „Dr. Blandfort hat mir erzählt, es gäbe hier ganz in der Nähe einen sehr guten Italiener.“
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    [/B]„So so, Dr. Blandfort hat dir das erzählt. Der junge Arzt scheint es dir ja ganz schön angetan zu haben!“
    Diesmal war es Mara, die ihr Gegenüber sorgsam musterte und Celia stocherte in ihrem Essen herum und wurde zu Maras Zufriedenheit tatsächlich rot. „Hab ich was Falsches gesagt?“
    „Nein. Ich .... Na ja, er ist sehr nett.“ stotterte sie.
    „Und er sieht ganz nebenbei auch noch ganz gut aus, nicht wahr?“ hakte Mara nach.
    „Das ist mir gar nicht aufgefallen.“ behauptete Celia, allerdings ohne recht überzeugend zu wirken. „Außerdem ist das doch nun wirklich nicht wichtig.“
    „Wenn du das sagst!“ Mara beließ es dabei, sie wusste ohnehin schon, was sie hatte in Erfahrung bringen wollen. Reshannes Auftrag lautete, dafür zu sorgen, dass sie sich in der Menschenwelt wohl fühlte, damit sie nicht mehr zurückkehren wollte. Gab es einen besseren Weg als die Liebe zu einem Menschen? Dass der gute Doktor längst Feuer gefangen hatte, war ja nun nicht zu übersehen gewesen.
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    [/B]„Was ist denn nun mit der Pizza?“ fragte Celia, der das wissende Lächeln der Freundin ganz und gar nicht recht war.
    „Gute Idee! Ich rufe sie an. Die Nummer wird sich ja irgendwie rauskriegen lassen!“ Mara stand auf und ging nach draußen.
    „Versuchs mit dem Telefonbuch!“ rief sie Celia ihr nach. „Ich habe, glaube ich, vorhin eins unter dem Telefontisch gesehen.“ Sie hörte nur noch ein gemurmeltes: „Ach ja, wie dumm von mir!“ und schüttelte den Kopf.
    ‚Man könnte meinen, Mara hätte ihr Gedächtnis verloren und nicht ich!’ dachte sie bei sich, während sie die Reste des Salats in den Müll warf. Einerseits wirkte Mara jedem überlegen, selbstsicher und manchmal sogar regelrecht arrogant, nur um dann wieder mit den einfachsten Dingen des Alltags die größten Schwierigkeiten zu haben. Vielleicht waren sie ja deshalb Freundinnen geworden, weil sie sich gegenseitig brauchten.
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    [/B]Die Pizza war natürlich um Längen besser gewesen, als Maras verunglückter Salat. Ja, Mara schien sogar ausgesprochen überrascht zu sein, WIE gut es ihr schmeckte. Nach dem Essen schützte sie starke Müdigkeit vor und bat Celia ihr nicht böse zu sein, wenn sie sich jetzt zurück zog.
    Aber Celia dachte gar nicht daran. Sie fühlte sich selbst reichlich erschöpft, also ging sie mit Mara nach oben und zog sie mit einem Gute-Nacht-Gruß spontan in die Arme. Mara schien sich unbehaglich zu fühlen, erwiderte die Umarmung aber dennoch, bevor sie in ihrem Schlafzimmer verschwand. Und nach einer regelrechten Katzenwäsche kletterte Celia in ihr Bett, kuschelte sich in die Kissen, schloß die Augen und war innerhalb weniger Minuten eingeschlafen.
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  • Es musste beinahe Mitternacht sein, als Zaide vor dem Haus erschien. Sie konzentrierte ihre Gedanken auf das Innere des Hauses und stellte befriedigt fest, dass sie zum richtigen Zeitpunkt gekommen war. Celia befand sich allein in dem Gebäude. Marhala musste in der anderen Welt bei Reshanne sein, um ihr Bericht zu erstatten. Und natürlich erstreckte sich ein Bann um das gesamte Grundstück, der jeden Menschen davon abhalten sollte, es zu betreten. Nicht nur die Menschen. Auch den Mitgliedern ihres eigenen Volkes, vor allem aber ihr selbst sollte der Eintritt verwehrt werden. Das war als Schutz gedacht, für Celia und vor ihr.
    Zaide musste lächeln. Marhala und Reshanne hatten sich wirklich Mühe gegeben. Aber zumindest in ihrem Fall vergeblich. Denn Zaide hatte vorgesorgt und einen Weg gefunden, diesen Bann zu umgehen. Außer dem, der diesen Bannkreis erschaffen hatte, gab es nur noch ein einziges Wesen, das ihn durchbrechen konnte.




    „Wie stellst du dir das vor, Zaide? Du verlangst von mir, mich gegen Reshanne zu stellen, gegen die Gebieterin?“
    „Nein, natürlich nicht, Ranyia. Aber dies ist ein Notfall. Solange Celia sich nicht erinnert, kann sie nicht zurückkehren. Und in der Menschenwelt ist sie einfach nicht sicher. Das hat man doch gesehen!“
    Die Frau maß sie mit einem ernsten Blick. „Ich kenne die Wahrheit, Zaide!“ sagte sich nach einer langen Pause leise.
    „Woher?“
    „Du vergisst, wer ich bin. Menschen träumen. Und nicht alle Träume kommen von mir. Dennoch weiß ich davon.“
    „Was hat sie geträumt, vor dem Unfall?“ verlangte Zaide zu wissen.



    Aber die Frau schüttelte den Kopf. „Ihre Träume gehören ihr allein. Du wirst warten müssen, bis sie sich erinnert und dir selbst darüber berichtet. Aber ich weiß, wen du in Wahrheit fürchtest. Und du tust es mit Recht!“
    „Was weißt du über Varik?“ Zaide flüsterte nur noch, als habe sie Angst, auch nur seinen Namen laut auszusprechen.
    „Mehr als genug, und mehr als mir lieb ist. Nein...“ wehrte sie eine neuerliche Frage ab. „Es muss dir genügen, dass ich dir helfe. Denn auch ich glaube, dass Reshanne sich irrt. Celia muss sich erinnern, andernfalls hat sie gegen Varik keine Chance. Das wäre fatal für uns alle. Und er wird kommen, bald! Sehr bald!“




    „Ich bin soweit, Ranyia!“ Zaide hatte es kaum ausgesprochen, als sie sich auch schon in das Haus hineingezogen fühlte und sich direkt vor dem Bett des Mädchens wiederfand. „Danke!“ flüsterte sie leise, beugte sich hinunter über das schlafende Mädchen, streichelte ihr sanft über das Haar und hauchte ihr ein paar Worte ins Ohr, bevor sie das Licht wieder löschte und verschwand.
    „Wir sehen uns in deinem Traum, mein Kind! Dank Ranyias Hilfe wirst du deine Erinnerungen noch einmal selbst durchleben können!“ hatte sie gesagt und Celia hörte es, obwohl sie tief und fest schlief. Ohne sich in Wirklichkeit zu rühren, fühlte sie, wie sich erhob, über dem Bett schwebte und sich ganz plötzlich in atemberaubender Geschwindigkeit an einen anderen Ort begab, wo sie direkt in den Körper eines Mädchens fuhr.
    [B]


    [/B]Das Mädchen schien ihr seltsam vertraut, ebenso wie die Frau, die vor ihr stand und beruhigend auf sie einredete. Es dauerte aber dennoch eine Weile, bis ihr wieder einfiel, woher. Sie stammten aus ihrem letzten Traum. Und dann verschwanden ihre eigenen Gedanken und sie wurde eins mit dem Mädchen.
    „Entschuldige, was hast du gerade gesagt?“ fragte sie die Frau, die verständnisvoll nickte.
    „Ich sagte, es ist ganz normal, nervös zu sein vor einem so wichtigen Schritt. Wenn du dir nicht sicher bist, ob du ihn gehen willst, ob du bereit bist, dann ist noch immer Zeit zur Umkehr. Niemand würde dir Vorwürfe machen!“
    „Nein, ich habe keine Zweifel! Ich bin soweit, wirklich!“
    [B][B]



    [/B][/B]„Nun gut. Es ist deine Entscheidung!“ Die Frau lächelte sie an. Wieviel Liebe und Zuneigung in diesem einen Blick lagen! „Ich bin sehr stolz auf dich.“ fuhr sie fort. „Du wirst ein würdiges Mitglied der Elo-i sein. In diese Kaste aufgenommen zu werden, von der Herrscherin selbst, ist eine hohe Ehre, die aber auch eine große Verpflichtung mit sich bringt. Du weißt, die Elo-i sind die Führer unseres Volkes, nur die mächtigsten unter uns gehören zu ihnen. Und so wie die mittlere Kaste der Cha-yi und die untere der Benda ihre Kräfte auf ihre Kinder übertragen, so tun auch wir das. Damit sie, wenn der Tag kommt, an dem wir die letzte Reise antreten, unseren Platz einnehmen können. Vergiß das nicht, mein Kind, niemals, denn wenn unsere Energien gleich deine Kräfte aktivieren, wirst du allein die Verantwortung dafür tragen, wofür du sie einsetzt. Du wirst über Fähigkeiten verfügen, die bewahren aber auch zerstören können!“[B][B]



    [/B][/B]„Ja, ich weiß!“ antwortete das Mädchen mit dem gleichen Ernst. „Ihr habt mich alle gut unterrichtet. Und ich werde dich gewiss nicht enttäuschen!“
    „Davon bin ich überzeugt! Du warst eine gute Schülerin.“ In ihren Augen glänzten Tränen der Rührung, als sie dem Mädchen zärtlich über die Wange strich.
    „Soviel Freude hast du in mein Leben gebracht, in unser aller Leben. Und jetzt wirst du bald für immer eine von uns sein. Das war wirklich jedes Risiko wert.“ Das letzte sagte sie schon mehr zu sich selbst, denn sie nickte ihr noch einmal aufmunternd zu, ....
    [B][B][B]



    [/B][/B][/B].... bevor sie sich abwandte und durch das große Tor verschwand, um ihren Platz im Ratstempel einzunehmen.
    Das Mädchen blieb allein zurück. So war es Tradition. Allein musste sie den Tempel betreten, das Allerheiligste ihres Volkes, musste sich den Führern präsentieren und deren Wohlwollen erbitten, damit man sie aufnahm in ihre Kaste. Es soll, so hatte sie von Alyssa erfahren, schon Fälle gegeben haben, in denen ein Kandidat noch im letzten Moment abgelehnt worden war. Das stand in ihrem Fall eigentlich nicht zu befürchten, aber man konnte ja nie wissen. So war ihr Herzklopfen durchaus verständlich, als sie auf das Tor zuging.
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    +++

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  • ***



    Und dann war es soweit. Die Torflügel öffneten sich. Man befahl ihr einzutreten. Vor ihr lag die Große Halle des Ratstempels, dessen Decke der Sternenhimmel war. Es hieß, nichts würde die Säulen und Bögen in ihrer Position halten, als die Macht des Rates. Und wer immer diesen Raum betrat, tat das nur mit dessen Genehmigung. Andernfalls konnte man laufen und laufen, sein Leben lang und man würde doch niemals den Thron der Herrscherin erreichen. Aus diesem Grund blieb sie jetzt auch stehen. Sie musste warten. Warten auf das erlösende Wort in ihrem Kopf. Wie lange, das konnte niemand vorher sagen. Zeit hatte hier keine Bedeutung.



    Und so stand sie da, geduldig, fast ein wenig verloren. Schüchtern, den Blick fest auf den Boden gerichtet. Immer heftiger schlug ihr Herz, während sie in die atemlose Stille lauschte. Die Luft vibrierte, die kühle Brise des Nachtwindes lag mit der Wärme der unzähligen Kerzen der Wandelhalle im Wettstreit. Bis in die Tiefe ihrer Seele hinein spürte sie die Magie und die Macht dieses Ortes. Hier lag das Zentrum der Welt, seit den Tagen der Großen Mutter, als die Weltenordnung von ihr geschaffen worden war, regierte hier der Rat der Elo-i und sorgte dafür, dass beide Welten, die der Menschen und ihre eigene in Harmonie nebeneinander existierten. Und nun würden sie über ihr weiteres Schicksal entscheiden.



    Daria, die Herrin der Natur, eine Heilerin und Beschützerin der Pflanzen und Tiere! Jedes Lebewesen gehorchte ihrem Willen.



    Cyros, der Herr der Elemente. Feuer und Wasser, Erde und Luft, all dies war ihm untertan. Er vermochte ebenso einen verheerenden Sturm zu beschwören wie den Ausbruch eines Vulkans.



    Zaide, die Herrin der Seelen. Ihre Diener geleiten die Toten in ihr nächstes Leben. Sie besitzt die Macht, die Menschen zu verdammen oder zu erheben.



    Und Zardon. Der Herr des Lebens. Er schenkt und nimmt den Menschen ihr kostbarstes Gut. Aber er liebt sie nicht. Tief in seinem Herzen glaubt er, dass sie sein Geschenk nicht mehr verdienen.



    +


  • Nachdem sie nunmehr allen Ratsmitgliedern ihre Aufwartung gemacht und sie um deren Zustimmung gebeten hatte, ging sie gemessenen Schrittes auf den Thron zu und versank, als sie ihn erreichte, in einer tiefen Verneigung vor der Herrscherin.
    Reshanne sah freundlich auf das Mädchen herunter. War es wirklich schon über zweihundert Jahre her, dass Zaide mit diesem Kind auf dem Arm zu ihr gekommen war und ihre Zustimmung erbeten, nein verlangt hatte, sie bei sich zu behalten. Sie konnte es ihr nicht verweigern, denn das Mädchen gehörte ganz offensichtlich zu ihnen, selbst wenn ein solcher Fall nur äußerst selten vorkam. Aber sie bestand alle Tests und Zaide hatte das Urteil des Rates, den Reshanne vorsichtshalber hinzugezogen hatte, triumphierend zur Kenntnis genommen, ohne sich indes mit ihr zu versöhnen.
    Doch Reshanne hatte nicht die Absicht, das Mädchen für die Sturheit der Schwester büßen zu lassen. Das passte nicht zur Herrin der Welt. Zudem war sie dem Mädchen wirklich zugetan, selbst wenn Zaide das natürlich abstreiten würde.



    „Was ist dein Begehr?“ fragte sie nach der traditionellen Formel.
    „Die Aufnahme in die Kaste der Elo-i, oh Gebieterin.“
    „Glaubst du, dass du dessen würdig bist?“
    „Nein!“ antwortete sie, wie es der Brauch war. „Aber ich möchte es werden.“
    „Bist du bereit, den Eid zu schwören, der dich für immer mit uns verbindet? DU bist nicht verpflichtet dazu?“ Das Mädchen wunderte sich, warum die Herrscherin gerade dies so sehr betonte. Zweifelte sie doch an ihrer Eignung? Sie hob den Kopf und sah Reshanne entgegen der Vorschrift direkt in die Augen. Sie fand keine Ablehnung darin, nur zurückhaltendes Wohlwollen.
    „Ich bin bereit, Gebieterin!“
    "Haben die ehrwürdigen Mitglieder des Rates Einwände gegen die Aufnahme dieses Mädchens?" fragte Reshanne und blickte in die Runde.



    [B]

    [/B]Ein kurzer angespannter Augenblick des Wartens, in dem niemand sprach.
    Dann gab Reshanne ein Zeichen, worauf sich alle erhoben und eine Art Kreis um das Mädchen herum bildeten.
    „Celia, der Rat der Elo-i hat dich der vorgeschriebenen Prüfung unterzogen und dich für würdig befunden, in unsere Kaste aufgenommen zu werden.“ verkündete Reshanne feierlich und Celia atmete tief durch. Ein zentnerschwerer Stein fiel von ihren Schultern. Sie hatte es geschafft.
    „Nun schwöre, dass du den Gesetzen der Elo-i Folge leisten, deine Fähigkeiten ebenso in den Dienst unseres eigenen Volkes als auch in den der Menschen stellen wirst, so wie die Große Mutter es bestimmt hat. Schwöre, dass du die Macht, die uns gegeben ist, nur zum Wohle und nicht zum Schaden anderer einsetzen wirst.“
    „Ich schwöre.“ Reshanne nickte dem Zeremonienmeister Cyros zu, der daraufhin langsam seinen Stab senkte. Ein feines helles Licht breitete sich von seinen Füßen über den Boden aus, wurde verstärkt, wenn es auf ein anderes Ratsmitglied traf. Jeder von ihnen begann von innen heraus zu leuchten, jeder in einer anderen Farbe. Das Leuchten verstärkte sich, bis es sie gänzlich ausfüllte, und Celia fühlte ein eigenartiges Kribbeln in ihren Beinen aufsteigen.
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    [/B]
    [/B]Blitze schossen aus dem Stab und aus den Händen der anderen, verbanden sich miteinander. Sie schlossen sie in einen Ring aus reiner Energie ein. Das Kribbeln zog durch ihren ganzen Körper, es wurde heftiger und begann zu schmerzen, immer schlimmer, als würde ihre Haut verbrennen. Sie glaubte schreien zu müssen, und konnte es doch nicht. Warum hatte ihr niemand gesagt, wie qualvoll dieses Ritual sein würde. Aufhören, aufhören rief sie in Gedanken. Und hört mich denn keiner? Die Bilder der anderen verschwammen, der Raum versank in weißem entsetzlich kaltem Nebel. Sie sah kaum ihre Hand, hörte nur noch ihren eigenen Herzschlag. Und dann kaum aus dieser Leere eine Stimme, grausam und böse, die einer riesigen Faust gleich nach ihr zu greifen schien. „Jetzt gehörst du mir!“ Angst, lähmende Angst schnürte ihr die Kehle zu, doch sie kämpfte mit aller Macht dagegen an. „Nein, nein!“ rief sie schließlich in das Nichts und erhielt ... keine Antwort.[B]


    [B]

    [/B]
    [/B]Der Nebel lichtete sich, der Schmerz verging und ein tiefes Gefühl von Ruhe und innerem Frieden breitete sich in ihr aus. Als sie die Augen öffnete, hatte sich die Welt um sie herum verändert. Das Licht, die Farben, alles erschien ihr intensiver. Sie hörte das Flüstern des Windes ebenso deutlich wie das leise Rauschen der Blätter in den Wipfeln der sie umgebenden Bäume. Tausende Gedanken rasten in einer einzigen Sekunde durch ihren Kopf, füllten ihn mit dem Wissen aller Generationen vor ihr. Es war ein Rausch der Sinne, in dem sie am liebsten tanzen wollte. Sie müsste nur ihre Flügel ausbreiten und die Sterne wären zum Greifen nah. [B][B]

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    [/B]
    [/B]Ihre Flügel! Vorsichtig schielte sie über die Schulter nach hinten, um einen Blick auf die großen Schwingen zu erhaschen. Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, als sie zum erstenmal Zaides dunkle Flügel gesehen hatte. Sie sah damit so verändert, so furchteinflößend aus, dass sie, ein Kleinkind noch, anfing zu weinen. Zaide hatte sie in den Arm genommen und gesagt: „Eines Tages wirst auch du deine eigenen Flügel bekommen!“ „Wann?“ hatte sie gefragt. „Wenn du sie dir verdient hast.“ Und nun war es soweit!
    „Willkommen in unserem Kreis! Möge die Weisheit der Großen Mutter dich stets sicher geleiten!“ sagte Reshanne und Celia strahlte sie an, während sie die Glückwünsche der Ratsmitglieder entgegennahm.
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  • „Du hast, wie ich sehe, Darias Oase schon gefunden.“ meinte Zaide später, als sie auf der Suche nach ihr den Garten durchstreifte und sie am Ufer des kleinen Teichs stehen sah. Sie hatte sich eine Weile mit Daria unterhalten und dabei nicht bemerkt, wie das Mädchen verschwunden war. Lächelnd erkundigte sie sich nach ihrem Befinden nach dem Ritual. Doch sie erhielt keine Antwort. Geistesabwesend starrte Celia in die Tiefe und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. So viele neue Eindrücke galt es zu verarbeiten, dass es schon fast zuviele waren. Aber nicht das hatte sie regelrecht die Flucht in die Stille ergreifen lassen. Zum einen erinnerte sie sich plötzlich wieder an diese furchtbare Stimme, die ihr soviel Entsetzen eingeflößt hatte. Und zum andern war es Zardon.



    Wie die anderen Ratsmitglieder auch hatte er ihr gratulieren wollen, doch als sie sich zu ihm umdrehte, ergriff eine merkwürdige Unruhe von ihr Besitz. Seine grauen Augen musterten sie kühl und sie hatte das untrügliche Gefühl, dass er sie nicht mochte und fragte sich wieso. Ohne dass sie es beabsichtigte, drangen ihre Gedanken in die seinen ein, tiefer und tiefer, suchten nach dem warum und fanden eine klaffende Wunde, nicht neu, doch nie verheilt. Seltsamerweise sah sie sich selbst als einen Teil dieser Wunde. Aber das konnte unmöglich sein, denn sie war dem Herrn des Lebens vor diesem Tag noch nie begegnet! Dennoch bestand irgendeine Art von Beziehung zwischen ihnen. Und auch er schien das zu spüren, denn er murmelte flüchtig seinen Glückwunsch und wandte sich danach sofort von ihr ab, nicht ohne ihr noch einmal von der Seite einen finsteren Blick zuzuwerfen.



    „Celia?“ Zaides Stimme drang endlich zu ihr durch. „Wo bist du nur mit deinen Gedanken?“ fragte sie, setzte sich auf die Bank an der Mauer und klopfte einladend auf den Platz neben sich. „Komm, setz dich und erzähle mir, was dich so beschäftigt. Und falls du nicht vorhast, davon zu fliegen, solltest du deine Flügel ruhig verbergen. Es ist mit Sicherheit bequemer!“ Celia zögerte. Sollte sie Zaide von Zardon erzählen? Als Mitglied des Rates wusste sie doch sicher mehr über ihn. Oder war es womöglich besser es nicht zu tun? Wieso stellte sie sich überhaupt diese Fragen. Sie hatte keinen Grund, ihr nicht zu vertrauen. Dennoch ....
    Zaide schaute abwartend zu ihr auf. Und Celia beschloß aus einem unbestimmten Gefühl heraus, ihr die Vermutungen ebenso zu verschweigen wie die Stimme während des Rituals, wenigstens für’s erste.




    „Nun?“ fragte Zaide, nachdem Celia sich endlich verwandelt und neben sie gesetzt hatte. „Warum hast du dich hier verkrochen und machst ein Gesicht, als hätte man dir die Flügel weggenommen, statt sie dir zu schenken? Ich dachte, dies wäre der glücklichste Moment deines Lebens.“
    „Das ist er auch. Es war unglaublich und ich fühle mich, als könnte ich die Welt aus ihren Angeln heben.“
    „Das ist gar kein so schlechter Vergleich. Wenn du es wirklich wolltest, könntest du es vermutlich tun.“
    „Übertreibst du da nicht etwas?“ Celia lachte bei der Vorstellung, doch Zaide blieb ernst.
    „Ganz und gar nicht. Es ist genauso wie ich es sagte. Du wirst bald herausfinden, zu welchen Dingen du wirklich fähig bist. Und es wird deine kühnsten Träume übersteigen.“



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    [/B]„Du hast nach dem Grund gefragt, warum ich, hier, .... Weißt du, ich möchte dich nicht verärgern, aber ich ... ich ....“
    „Ja?“ Zaide kannte Celia zu gut, um durch ihr Stottern nicht alarmiert zu werden. Und sie ahnte auch schon, worauf sie hinauswollte.
    „Erinnerst du dich, was du mir vor ein paar Tagen, bevor wir hierhergekommen sind, versprochen hast?“ fragte sie denn auch.
    „Ja, ich erinnere mich daran.“ Es gab kein Zurück mehr, das wusste Zaide. Kein Argument, kein Vertrösten. Und hatte sie nicht ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren, jetzt, wo es nicht mehr von Bedeutung war, wo sie zu ihnen gehörte, wo es kein Makel mehr war? Sie nickte entschlossen.
    „Ja, ich werde dir sagen, wer dein Vater war.“ Sie beachtete Celias freudig überraschte Miene nicht, sondern holte tief Luft, denn sie gedachte, ihr einen großen Schock zu versetzen.
    „Dein Vater hieß Adrian. Er starb, noch bevor du geboren wurdest. Und er war ein Mensch!“
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    +++

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  • ***

    „Oh je!“ dachte Zaide, als Celia ihr nur einen entgeisterten Blick zuwarf, und dann einfach schweigend vor sich hinstarrte. „Das hättest du ihr ruhig etwas schonender beibringen können.“ Aber genau da lag das Problem, sie konnte es eben nicht. Diplomatische Fähigkeiten und besonderes Zartgefühl besaß sie nicht, und sowas lernte man auch nicht im Umgang mit den Toten.
    „Celia? Ich ..., es tut mir leid, ich weiß, das ist jetzt nicht leicht für dich, aber ....“ stotterte sie.

    “Ich bin also keine Elo-i” warf das Mädchen endlich dazwischen, als Zaide ihren Erklärungsversuch unterbrach. „Ich bin ein Mensch!“
    „Nein! Das bist du nicht!“ hielt Zaide sofort dagegen.
    „Aber...“
    „Hast du denn vergessen, was gerade passiert ist? Und es ginge doch auch gar nicht! Überleg mal, du bist fast zweihundertsechsunddreißig Jahre alt! Kein Mensch würde jemals so alt werden, und dein Leben hat gerade erst begonnen!“
    „Du könntest es künstlich verlängert haben so wie bei Semira und Alyssa.“
    „Die beiden sind tot, daran kann auch ich nichts ändern.“
    „Vielleicht bin ich es ja auch,“ flüsterte sie tonlos „und du lässt mich deshalb nicht hinüber, damit ich es nicht merke.“
    „Das ist doch Unsinn, und das weißt du!“


    „Aber wenn ich kein Mensch bin, was bin ich dann? Was?“ begehrte Celia auf.
    „Du bist etwas ganz Besonderes. Kinder wie du werden selten geboren, jedenfalls in unserer Kaste. Warhhaftig! Du kannst mir glauben, niemand ist mehr eine Elo-i als du.“
    „Weiß der Rat von, von meinem Vater?“ Zaide atmete auf. Sie hatte ihn Vater genannt, jetzt war das Schlimmste überstanden.
    „Natürlich weiß er davon. Gleich nach deiner Geburt haben sie dich überprüft, um zu entscheiden, wo du hingehörst. Diese Entscheidung ist heute bestätigt worden. Du hast all unsere Hoffnungen und Wünsche übertroffen!“
    Eine zarte Röte überzog Celias Wangen und endlich kehrte das Lächeln auch auf ihre Lippen zurück. „Wie war mein Vater denn so?“ fragte Celia, nachdem sie sich gefangen hatte.
    „Er war der Sohn eines englischen Aristorkraten und ein wunderbarer Mann. Groß, blond mit graublauen Augen, freundlich und liebenswert, mit einem großen gütigen Herzen und einem eisernen Willen.“



    „Das klingt nicht danach, als müsste man sich seiner schämen.“
    „Aber nein!“
    „Warum hast du ihn dann all die Jahre derart totgeschwiegen?“
    „Weil ich dir die Unsicherheit ersparen wollte. Du solltest wissen, wer du bist, und wohin du gehörst, und du solltest nicht von Zweifeln geplagt werden. Jetzt bist du alt genug und kannst damit umgehen.“ Sie nickte.
    „Wusste er von mir, ich meine, bevor er ....“
    „Ja, er wusste, dass du unterwegs bist. Und er hat sich sehr auf dich gefreut. Der Anhänger, den du trägst, stammt von ihm. Er gehörte einmal seiner Mutter und sollte nach ihrem Tod an seine Kinder gehen.“
    Celia strich gedankenverloren über die Steine des Anhängers. Eine merkwürdige Kraft schien von ihnen auszugehen.
    „Das sind die Energien, die bei dem Ritual durch sie hindurchgeflossen und nun zum Teil darin gespeichert sind.“ erklärte Zaide ungefragt. „Trage ihn stets, und wir alle sind immer bei dir. Ebenso wie dein Vater.“



    „Warum ist er so früh gestorben?“ Die Frage kam plötzlich, und aufgrund ihres Wissensdurstes nicht unerwartet. Und sie würde weitere, unangenehmere Fragen nach sich ziehen, das spürte Zaide sofort.
    „Es war eine furchtbare Epidemie. Auch deine Großeltern waren ihr bereits zum Opfer gefallen. Die Cholera, mein Kind, ist eine schreckliche Krankheit der Menschen, für die es damals kaum eine Chance zur Genesung gab. Aber dein Vater hat gekämpft, er wollte nicht aufgeben, deinetwegen.“
    „Aber... hätte Daria ihn nicht retten können? Ich meine, sie, sie ist eine Heilerin, die größte überhaupt, und wenn du sie gebeten hättest, dann ....“ Sie brach ab, als sie Zaide traurig den Kopf schütteln sah.
    „Unsere Gesetze sind eindeutig. Wir lenken und leiten die Geschicke der Welt, doch wir greifen nicht in das Schicksal einzelner Menschen ein. Denn was wir dem einen gewähren, könnten wir den anderen nicht verweigern. Und das würde geradewegs ins Chaos führen.“ Zaide verschwieg geflissentlich, dass sie Daria sehr wohl angefleht hatte, Adrians Leben zu retten, für das Kind, diese aber auf Befehl der neuen Herrscherin abgelehnt hatte.



    „Also hier hast du unsere neue Elo-i versteckt!“ sagte Reshanne, die gemeinsam mit Daria ganz plötzlich vor ihnen aufgetaucht war.
    Zaide blickte auf und presste die Lippen zusammen.
    „Ich nehme an, du bist jetzt sehr stolz, Schwester?“ fragte sie, wobei sie das letzte Wort eigenartig betonte. „Nun hast du ja endlich das Ziel deiner Wünsche erreicht, nicht wahr?“
    Celia musterte erstaunt erst Zaides zu einer eisigen Maske erstarrte Gesicht, dann das an Verbitterung erinnernde Lächeln der Herrscherin. Dass sie sich mit ihrer Schwester nicht so gut verstand, war ihr schon sehr früh klar geworden, und Zaides Vertraute Alyssa hatte ihr sogar einmal geraten, lieber keine Fragen über die Herrscherin zu stellen. Aber sie waren Schwestern, und das hier grenzte an offene Feindschaft, etwas, dass es in dieser Welt kaum gab. Und, wie ihr hier auf dieser Bank plötzlich klar wurde, diese Feindschaft hatte etwas mit ihr zu tun.
    Zaide erhob sich. „Gebieterin, Ihr wollt mit Celia sprechen. Ich lasse Euch allein!“ Sie gab der Schwester keine Gelegenheit, sie zurückzuhalten, sondern ging, ohne sich noch einmal nach dem Mädchen umzusehen, davon.


    „Und? Wie fühlst du dich, mein Kind?“ fragte Reshanne, als wäre nichts geschehen. Dabei konnte man Zaides Verhalten gar nicht anders bezeichnen als eine ausgesprochene Beleidigung ihrer Person. Aber weder Reshanne selbst noch Daria verzogen eine Miene.
    „Danke, Gebieterin, ich fühle mich sehr gut.“ erwiderte Celia unsicher.
    „Ich bin gekommen, weil ich mit dir über deine weitere Ausbildung sprechen möchte.“
    „Welche Ausbildung, Gebieterin? Ich dachte, die sei mit der Initiation beendet!“
    Reshanne lachte amüsiert auf. Und selbst die streng drein blickende Daria konnte ein sachtes Grinsen nicht unterdrücken.
    „Ganz im Gegenteil, mein Kind. Jetzt fängt sie erst richtig an. Es gibt noch viele Dinge, die du lernen kannst. Und ich halte es für eine gute Idee, wenn du eine Zeitlang bei Daria in die Lehre gehst.“


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    „Verzeiht, Gebieterin, aber ich dachte, ich würde eine Aufgabe im Tempel der Ewigkeit bekommen. Das ist doch so Brauch, oder nicht?“
    „So ist es, aber wie du inzwischen vielleicht erfahren hast, bist du nicht ganz wie die anderen Elo-i.“
    „Ja, ich weiß, mein Vater.“ Traurig senkte sie den Kopf. „Aber ich werde bestimmt alles tun, damit Ihr dennoch zufrieden mit mir seid.“
    Reshanne wehrte ihren Eifer in aller Güte ab. „Aber Kindchen, niemand macht dir deinen Vater zum Vorwurf. Was dich so besonders macht, ist doch gerade die Tatsache, dass du einen menschlichen Vater hast und dennoch Fähigkeiten besitzt, die einem normal geborenen Elo-i nicht nur ebenbürtig, sondern sogar überlegen sind. Sie gehen weit über das hinaus, was du für den Seelentempel benötigst. Darum sollst du lernen. Und wer weiß, eines Tages wirst auch du vielleicht einmal ein Mitglied dieses Rates sein.“
    Celia strahlte. Ein größeres Kompliment hätte die Herrscherin ihr gar nicht machen können. Dennoch tief in ihrem Innern keimte in ihr der Verdacht, Reshanne wolle sie auf diese Weise von Zaide trennen.

    Und dann auf einmal begann sich alles in ihrem Kopf zu drehen, Reshanne, Daria, der Ratstempel verschwanden in tiefschwarzer, eisiger Dunkelheit, aus der sie plötzlich eine Gestalt auftauchen sah.

    Sie stand mit dem Rücken zu ihr. Aber sie fühlte instinktiv, dass dieses Wesen von ihrer Anwesenheit wusste, ja, sie womöglich selbst hierher gebracht hatte, auch wenn sie nicht wusste, wo „Hier“ überhaupt war.
    „Hüte dich!“ hallte auf einmal eine Stimme durch den Raum. „Hüte dich vor Reshanne! Sie ist dein Feind, sie will dich zerstören!“
    Sie konnte keinerlei Fragen mehr stellen wegen dieser ungeheuren Behauptung, ein kräftiger Sog hatte bereits wieder ihren Körper erfasst und schleuderte sie hinaus in die Weiten des Universums ......


    .... zurück in ihr Bett.

    +

  • Celia war aus ihrem Traum hochgeschreckt, hatte auf die Uhr gesehen und gestöhnt. Es war noch nicht ganz zwei. Und sie verspürte nicht das geringste Bedürfnis wieder einzuschlafen und erneut in diesen Traum einzutauchen.



    Ihr fiel nichts besseres ein, als ein schönes heißes Bad zu nehmen, etwas, das sie sich schon gestern Abend vorgenommen hatte, aber sich dann doch zu müde dafür gefühlt hatte.
    Jetzt genoss sie das angenehm warme Wasser, die Schaumblasen, die lustig vor ihr auf und ab tanzten und die Stille, die im ganzen Hause herrschte. So konnte man immer noch am besten seinen Gedanken nachhängen.
    Diese Träume mussten etwas zu bedeuten haben, wenn sie immer wieder kehrten. Und dieses Mädchen! Sie sah aus wie sie und auch wieder nicht. ‚Ich habe keine Flügel!’ konstatierte sie, warf aber dann doch, nur zur Sicherheit versteht sich, einen vorsichtigen Blick hinter sich. ‚Nein, da war nichts.’ Aber wieso träumte sie von diesem Mädchen, wieso von dieser merkwürdigen Welt? Und was bitte waren das für Bilder, die da ständig durch ihren Kopf geisterten, sich vermischten und ihr regelrecht Angst einjagten. Fragen über Fragen, aber keine Antworten.



    Mara, die sich langsam wunderte, wie lange ein Mensch wohl schlafen könne, fand Celia am späten Vormittag in ihrem Atelier.
    „He, ich dachte, du schläfst noch?“ rief sie erstaunt, als sie sie an der Staffelei stehen sah.
    „Nein, nein!“ antwortete Celia, ohne sich nach ihr umzudrehen. „Ich war schon zeitig wach und hatte irgendwie das Gefühl, ich müsste es mit malen versuchen.“
    „Das muss aber sehr zeitig gewesen sein,“ meinte Mara beim Näherkommen. Denn auf der Leinwand waren bereits deutliche Details des Bildes zu erkennen.
    „Was malst du da?“
    „Ach, nichts besonderes. Nur etwas, das mir im Kopf herumspukt. Ich dachte, es hilft mir, herauszufinden, was es bedeutet, wenn ich es vor mir sehe, real. Verstehst du?“


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    [/B]Mara nickte mechanisch, während sie das Bild, oder das, was davon zu sehen war, anstarrte. Obwohl Celia zunächst nur Konturen gemalt hatte, und diese nun nach und nach mit Farbe füllte, erkannte Mara sofort zumindest ein Detail. Aber dieses Teil alarmierte sie. Kein Mensch konnte so etwas malen, weil er es noch nie gesehen haben dürfte. Das konnte nur eines bedeuten, Celias Erinnerungen waren tatsächlich nur verschüttet, wie es der Doktor vermutet hatte, und, was viel bedeutsamer war, sie begannen, wieder an die Oberfläche zu gelangen. Ohne Reshannes Weisung hätte sie sich jetzt gefreut, die Elo-i verloren nicht gern eine der ihren, aber nun stand zu vermuten, dass sich ihr Auftrag weitaus schwieriger gestalten würde, als gedacht. Die Herrscherin musste davon erfahren, und sie würde mit Sicherheit nicht begeistert sein.


    „Und? Was sagst du?“ fragte Celia, während sie mit Feuereifer weiter den Pinsel schwang, als müsse dieses Bild heute unbedingt noch fertig werden.
    Mara ließ sich ihre Besorgnis nicht anmerken. „Es sieht zumindest interessant aus!“ meinte sie leichthin. „Warten wir ab, bis es vollendet ist, dann bekommst du eine Kritik.“ Sagte es und wandte sich wieder zum Gehen.
    „Oh ja, ein fachmännisches Urteil! Toll!“
    „Ähm, wie? Was meinst du mit fachmännisch. ICH bin doch kein Maler!“
    „Ja sicher!“ amüsierte sich Celia über Maras Entsetzen. „Aber du bist Archäologin und die müssen doch was von Kunst verstehen, oder?“
    „Natürlich,, so hast du das gemeint!“ Ihre Erleichterung war deutlich zu hören und Celia schüttelte den Kopf. Aus der werd' einer schlau!
    „Was ich noch sagen wollte“ Mara drehte sich noch einmal zu ihr um. „Vielleicht unterbrichst du dein kreatives Schaffen trotzdem für eine Weile und widmest dich solch profanen Dingen wie der Nahrungsaufnahme. Ich nehme doch nicht an, dass du schon gefrühstückt hast?“
    Nur für einen Moment war Celia versucht, zu lügen, um neuerlichen Kochkünsten der Freundin zu entgehen, aber dann schickte sie sich doch in das Unvermeidliche und verneinte.



    So schlimm war das Frühstück dann auch gar nicht gewesen, Mara hatte fertige Waffeln aus dem Supermarkt nur noch in den Ofen geschoben. Und die hatten sogar recht gut geschmeckt. Vielleicht sollte sie es bei Gelegenheit einfach mal selbst versuchen. Wer weiß, möglicherweise erlebte sie eine Überraschung und stellte fest, dass sie kochen konnte. Einen Versuch wäre es jedenfalls wert, wenn sie ihrem Magen etwas Gutes tun wollte.
    Für den Augenblick allerdings hatte Celia beschlossen, sich an Maras Ratschlag, noch etwas Pause zu machen, zu halten. Also entschied sich dafür Zeitung zu lesen, oder Kreuzworträtsel zu machen. Schwester Carol aus dem Krankenhaus hatte gemeint, das würde das Gehirn trainieren. Aber dafür musste sie die Zeitung hereinholen, denn sie lag noch immer auf dem Gehweg vor dem Haus.
    Ein Jogger kam ihr entgegen, als sie gerade die Zeitung aufheben wollte, und lächelte sie freundlich an.



    „Hallo, schöne Frau!“ sagte er, als er sie erreichte. Irritiert sah sie ihn an. Es hatte sich angehört, als habe er das schon tausendmal zu ihr gesagt.
    „Verzeihen Sie, kennen wir uns?“
    „Ob wir uns kennen?“ Er wirkte ehrlich enttäuscht. „Also wirklich Celia, wir sind doch schon seit Monaten Nachbarn. Ich will ja nicht behaupten, gute Freunde. Aber für ein freundliches Hallo, hat’s immerhin gereicht.“ Sie senkte traurig den Kopf.
    „Es tut mir leid, ich hatte einen Unfall und irgendwie sind mir meine Erinnerungen abhanden gekommen.“
    „Oh je! Das hört sich gar nicht gut an. Ist bestimmt ein komisches Gefühl, dauernd Leute wie mich zu treffen, und jedesmal Erklärungen abgeben zu müssen, damit sich keiner verletzt fühlt.“
    Sein verständnisvoller Ton gefiel Celia.
    „Naja, so macht man dauernd neue Bekanntschaften." scherzte sie. "Vielleicht gewöhnt man sich mit der Zeit daran.“




    „Glauben Sie wirklich?“
    Ein intensiver Blick aus dunklen braunen Augen traf sie. Dieser Blick schien direkt in ihr Innerstes sehen, sie erforschen zu wollen. Merkwürdig fand sie nur, dass es ihr nicht einmal unangenehm war. Sie ertappte sich sogar dabei, wie sie versuchte, es ihm gleichzutun, ohne allerdings Erfolg zu haben. Im Gegenteil, trotz seines offenen freundlichen Gesichts hatte sie das Gefühl, gegen eine Mauer gelaufen zu sein. Und dennoch .... Dieser Nachbar, der erste, den sie kennengelernt hatte, war sehr interessant!
    „Da ich mich ja nun nicht mehr erinnern kann, würden Sie mir dann noch einmal ihren Namen verraten?“ fragte sie und wunderte sich etwas über ihre Atemlosigkeit.
    „Sicher, ich bin Damian, Damian Andrews.“
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    +++

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  • ***

    Am selben Abend in Blandfort Manor.
    Catherine war in ausgesprochen guter Laune noch einmal in ihr eigenes Haus zurückgekehrt, um noch ein paar Sachen zu holen. Sie beglückwünschte sich noch immer für ihre exzellente Idee. Arabella hatte zunächst mit fassungsloser Ungläubigkeit reagiert, als sie ihr gestern die Neuigkeit erzählte. Aber dann war sie laut jubelnd durchs Haus getobt, bis sie sich schließlich genötigt sah, das Mädchen zur Ordnung zu rufen.
    Nicolas war überaus pünktlich von der Klinik gekommen, um sie beide abzuholen.
    Zwar ließ seine Miene die gleiche jubelnde Freude wie bei seiner Schwester vermissen, aber sie war sicher, das würde sich geben. Immerhin lag es ja nur an ihm, diesem für ihn so unerfreulichen Zustand ein Ende zu bereiten.

    Catherine hatte gerade ihren Koffer nach unten bringen lassen und holte nur noch ihren Mantel aus dem Schrank. Sie zog ihn über und wollte gerade die Türen schließen, als ...
    „Glaubst du ernsthaft, dass du das Richtige tust, Cathy?“ Sie fuhr zusammen und starrte die altertümlich gekleidete Frau fassungslos an, die da auf einmal direkt neben ihr aufgetaucht war.
    „Großer Gott!“ Beinahe hätte sie sich die Finger eingeklemmt. „Cressida, Du hast mich vielleicht erschreckt!“
    „Entschuldige, das war nicht meine Absicht!“ beteuerte die Lady.
    „Das bezweifle ich allerdings stark!“ dachte Catherine, laut aber sagte sie „Eigentlich sollte ich noch daran gewöhnt sein, dass du derart plötzlich auftauchst, aber du warst schon so lange nicht mehr hier, dass ich ....“



    „Dass du mich schon fast vergessen hast, nicht wahr?“ beendete Lady Cressida den unvollendeten Satz ein wenig wehmütig.
    „Nein, nicht vergessen, aber ich glaubte, du hättest mich verlassen.“
    „Warum hätte ich das tun sollen?“ wunderte sich die Frau. „Dies ist mein Heim, es gibt keinen anderen Ort, zu dem ich gehen könnte.“
    Catherine seufzte. „Ich habe dich vermisst, Cressida. Seit Frances’ Tod bist du nicht mehr da gewesen. Warum nicht?“
    „Du brauchtest keine Hilfe mehr, du wolltest sie nicht mehr!“ Ein sanfter Vorwurf schwang in ihren Worten mit, nur angedeutet, aber Catherine besaß ein gutes Gespür für unausgesprochene Dinge. Und sie kannte Lady Cressida schon seeehr lange.
    „Ich wollte doch nur sehen, wie ich zurecht komme, ... allein.“ versuchte sie zu erklären, aber Cressida unterbrach sie.
    „Du musst dich nicht rechtfertigen, Cathy.“
    „Warum bist dann jetzt gekommen?“



    „Weil ich mir Sorgen mache.“
    „Um mich?“
    „Nein, um Nicolas. Er liebt sie nicht.“
    „Wen liebt er nicht? Ich versteh dich nicht!“
    „Caroline Vandermere. Er liebt sie nicht, er wird sie auch nie lieben. Und sie, sie liebt nur, was er ihr bieten kann. Catherine, hör auf mich, die beiden passen nicht zusammen! “
    „Woher willst du das wissen, Cressida?“ blockte Catherine ab. „Nicolas weiß doch selbst nicht, was er will. Und es wird Zeit, dass er heiratet. Schließlich kann unsere Familie nicht immer nur durch die Töchter erhalten werden. Das solltest du doch am ehesten verstehen.“
    „Das tue ich ja, dennoch....“


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    [/B]„Es tut mir leid, bitte versteh mich nicht falsch, aber ich möchte, dass dich da raushälst.“
    „Hätte ich das damals auch tun sollen, als deine Eltern dir die Heirat mit Frances verboten haben?“
    „Was willst du denn damit sagen?“ Catherine schaute ihre Ahnin verwundert an, und die schmunzelte.
    „Hast du dich nie gefragt, warum deine Eltern auf einmal einverstanden waren mit deiner Wahl?“
    „Soll das heißen, ...., du.... hast?“ Cressida nickte bedächtig.
    „Natürlich habe ich. Soll ich vielleicht mit ansehen, wie meine Nachfahren offenen Auges in ihr Unglück laufen und unsere Familie zerstört wird?“
    „Das hab ich nicht gewusst.“ flüsterte Catherine betreten.
    „Du solltest es auch nicht wissen. Es hätte nur dein Verhältnis zu deinen Eltern belastet.“
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    [/B]„Trotzdem ...“ Catherine wandte sich ab und überprüfte noch einmal im Spiegel ihre Frisur. „Du irrst dich was Caroline betrifft. Sie ist ganz vernarrt in Nick. Warum sollte sie nicht zu ihm passen? Sie stammt aus einer guten Familie, ist geistreich und gebildet. Und sie weiß, was sie will. Genau das braucht mein Sohn.“ Dann drehte sie sich wieder zu ihr um. „Es tut mir wirklich leid, Cressida. Aber du hast dir wirklich einen unpassenden Zeitpunkt ausgesucht. Ich muss jetzt los, Arabella wartet mit dem Abendessen.“
    Lady Cressida zuckte lediglich sacht mit den Schultern. „Früher hättest du dir die Zeit genommen!“ fügte sie noch traurig hinzu. „Und früher hättest du mir auch vertraut!“
    Sie verschwand, noch bevor Catherine eine Antwort geben konnte. Ganz wohl war ihr nicht. Hatte sie recht? Was für eine Frage! Hatte sie nicht immer recht? Sollte sie Caroline und die Gefühle ihres Sohnes vielleicht doch falsch eingeschätzt haben? Aber nein, sie hatte doch genügend Menschenkenntnis, Cressida stammte aus einer ganz anderen Zeit, dachte anders und fühlte sich vermutlich einfach nur einsam. Kein Wunder, wenn man jahrhundertelang in einem Haus herumgeisterte.
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    [/B]„Passen Sie gut auf das Haus auf, Lucy!“ trug Catherine ihrem Hausmädchen auf, bevor sie zur Tür ging. „Falls etwas sein sollte, können Sie mich ja im andern Haus erreichen, obwohl wir vermutlich nicht sehr lange dort wohnen werden.“
    „Glauben Sie, Mrs Blandfort?“
    „Sicher, Lucy. Mein Sohn und meine Tochter haben sich da etwas in den Kopf gesetzt, ohne nachzudenken, etwas, das einfach nicht funktionieren kann. Und das wird ihnen schon bald klar werden. Arabella braucht eine starke Hand, jemanden, der auf sie achtet. Und Nicolas wird in nächster Zeit kaum Zeit für sie haben, immerhin muss er sich um seine Verlobte kümmern.“
    Lucy hob erstaunt die Augenbrauen. Nick war verlobt? Davon hatte er ihr gar nichts gesagt. Ob die liebe Mrs Blandfort da nicht ein wenig vorschnell war?
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    [/B]Das fand auch Cressida, die verborgen vor dem Auge ihrer Enkelin der Unterhaltung zugehört hatte und dann gedankenschwer durch das alte Haus gewandert war, das so voller Erinnerungen steckte, nur um dann in der Ahnengalerie vor dem Bildnis ihrer Tochter stehen zu bleiben.
    „Oh Cassandra!“ seufzte sie, während sie in ihr lachendes Gesicht blickte. „Warum nur musstest du deinen Kindern außer deinen schönen Augen auch noch deinen Dickkopf vererben. Es wäre soviel einfacher, für sie und auch für mich. Diesmal werde ich mir wohl etwas ganz Besonderes ausdenken müssen, um dem armen Nick zu helfen.“
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  • *



    „Also ist Cressida ja doch keine imaginäre Freundin von Nick, sondern wirklich real?“ Josie schien von dieser Vorstellung völlig fasziniert zu sein. Nur Matt rümpfte die Nase. „Was für ein Trottel!“ mokierte er sich. „Wie kann man denn so etwas nicht merken! Und der hält sich für einen Wissenschaftler!“
    „Was bitte hat das denn damit zu tun?“
    „Na er hält sich doch für so klug und vernünftig und gebildet, aber er erkennt einen Geist nicht mal, wenn er vor ihm steht.“
    „Aber du hättest es sofort gemerkt, du Schlauberger!“ fuhr Josie ihn an, bevor sie sich wieder an die Bewahrerin wandte. „Ist sie nun ein Geist oder nicht?“
    „Ja, nach Euren menschlichen Vorstellungen ist sie tatsächlich ein Geist.“
    „Aber warum ist Cressida so geworden?“


    „Nun ja, man könnte sagen, sie wurde vergessen. Als die Cholera sie aus dem Leben riß, ist niemand gekommen, um sie abzuholen und auf die andere Seite, wie ihr das nennt, zu geleiten. Darum blieb sie, wo sie gestorben war und verbrachte die vielen langen Jahre ihrer Ruhelosigkeit damit, ihre Familie zu beobachten und, wenn es ihr nötig schien, sie auch zu beschützen, selbst voreinander. Seltsamerweise hat kein Mitglied jemals mit einem anderen über sie gesprochen. Ich denke, jeder von ihnen bezweifelte irgendwann ihre Existenz. Seht ihr, manchmal ist sich selbst Catherine nicht sicher, ob Cressida nun real ist, oder nicht. Und wie ihr schon wißt hält Nicolas sie für eine Ausgeburt seiner Fantasie. Cressida weiß das, aber es ist recht so. Auf diese Weise wurde sie im Laufe der Zeit das vermutlich bestgehütete Geheimnis der Blandforts, zumindest aus der Sicht ihrer Familie.“
    Die Bewahrerin lächelte geheimnisvoll, als hätte sie ihnen soeben nur die halbe Wahrheit berichtet.


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    [/B]Am folgenden Tag, die Sonne war gerade erst aufgegangen, ging Celia in den Garten und ließ sich im weichen Gras nieder. Bliebe sie länger im Haus, so hatte sie das Gefühl, dann würde sie ersticken. Kein Wunder, denn seit zwei Tagen hatte sie das Atelier nicht verlassen und nur gemalt, gemalt und gemalt, wie eine Besessene, bis ihr Werk endlich fertig gewesen war. Selbst das Essen hatte Mara ihr nach oben bringen müssen und jedesmal einen eigentümlich interessierten Blick auf das Bild geworfen, ohne allerdings ein Wort darüber zu verlieren. Sie solle das Schlafen nicht vergessen, war alles, was sie ihr riet.
    Aber genau das hatte sie nur äußerst widerwillig getan, denn sie fürchtete sich davor, einzuschlafen und zu träumen. Diese Träume, die sie Nacht für Nacht heimsuchten, ängstigten sie, mehr aber noch die entsetzlichen Kopfschmerzen, die sie danach morgens regelmäßig überfielen. Hier im Schatten der Weide konnte sie endlich aufatmen. Dachte sie.
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    [/B]Mitten in der gleißenden Helligkeit des Morgens verdunkelte sich plötzlich die Sonne, Nacht senkte sich auf die Erde hinab, alles Licht und alle Wärme schienen zu verschwinden. Sie sah weder das Haus, noch die Bäume im Garten, noch irgendetwas anderes. Und aus dieser undurchdringlichen Wand strahlten ihr plötzlich zwei pechschwarze Augen entgegen, Augen in denen blutrot ein dunkles Feuer loderte. Ihr stechender Blick bohrte sich in ihre Seele, schnürte ihr die Kehle zu, raubte ihr den Atem.
    „Mein! Mein! Du bist mein!“ hallte eine metallene Stimme in ihrem Kopf. Doch dann veränderte sie sich, wurde einschmeichelnd und beinahe sanft: „Komm zu mir!“ lockte sie. „Du gehörst zu mir! Komm, komm! Nur bei mir wirst du Frieden finden.“
    Immer wieder rief die Stimme nach ihr, warb um ihr Vertrauen und hüllte sie gleichzeitig in einen Mantel aus Eis ein, dessen lähmende Kälte langsam aber stetig in sie eindrang, jede einzelne Zelle ihres Körpers auszufüllen suchte.
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    [/B]Niemand konnte ermessen, wieviel Kraft es sie kostete, dem hypnotisierenden Einfluss dieser Stimme zu entkommen.
    Als sie schließlich aufsprang, war der Himmel wieder klar, die Sonne schien, die Vögel in den Bäumen zwitscherten.
    Absolut nichts deutete darauf hin, dass hier gerade etwas Ungewöhnliches geschehen war, nichts außer ihrem Kopf. Wie Messerstiche rasten die Schmerzen durch ihn hindurch und sie zitterte am ganzen Leib. Warum? Warum hörte das denn nicht auf? Und wem gehörte diese Stimme?
    „Was willst du von mir?“ schrie sie verzweifelt hinaus und glaubte doch tatsächlich ein hämisches Lachen zu vernehmen. „Das darf doch alles nicht wahr sein, was passiert denn nur mit mir?“
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    [/B]„Celia, alles in Ordnung mit dir?“
    Sie schrak zusammen, als sie Maras auffallend besorgte Stimme hörte.
    „Du siehst gar nicht gut aus.“ meinte diese, als sie in Celias bleiches, schmerzverzerrtes Gesicht sah. „Wieder der Kopf?“
    Sie vermochte nur zu nicken. Ihre Kehle war wie ausgedörrt, ihr schwindelte und sie schwankte derart hin und her, dass Mara nach ihrem Arm griff, um sie festzuhalten.
    „Ich glaube, es ist besser, wenn wir reingehen, und du dich noch etwas hinlegst. Du schläfst ohnehin viel zu wenig.“
    Sie beachtete Celias Protest gar nicht, sondern zog sie mit Nachdruck zum Haus.
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  • Weil sie partout nicht in ihr Schlafzimmer wollte, bestand Mara darauf, dass sie sich wenigstens ein, zwei Stunden im Wohnzimmer auf die Couch legte, obwohl sie stark bezweifelte, dass es ihr nach dem gerade Erlebten gelingen würde, auch nur eine Minute Ruhe zu finden.
    Trotzdem hatte sie eben erst den Tee ausgetrunken, den Mara ihr gebracht hatte und sich danach auf die Polster gekuschelt, als ihre Glieder auch schon tonnenschwer zu werden schienen, ihre Augen sich ganz von selbst schlossen. Mara verließ zufrieden und auf Zehenspitzen den Raum. Celia war eingeschlafen, noch bevor sie die Tür erreicht hatte. Allerdings nur für kurze Zeit.


    Kaum eine halbe Stunde später wurde sie von einem merkwürdigen Gefühl des Beobachtetseins geweckt. Noch schlaftrunken richtete sie sich auf, aber im Zimmer war niemand.
    „Mara?“ rief sie, doch sie antwortete nicht.
    „Seltsam.“ Celia schüttelte den Kopf. Sie hätte schwören können, dass sich jemand hier bei ihr im Zimmer aufgehalten und sie womöglich sogar berührt hatte, jemand, der offensichtlich nicht gesehen werden wollte und jetzt verschwunden war.
    Litt sie vielleicht doch an Halluzinationen?
    „Nein, bitte nicht!“ stöhnte sie und kam vollends nach oben.


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    [/B]Die nächste Überraschung wartete schon. Im Kamin gegenüber dem Sofa prasselte ein lustiges Feuer vor sich hin. Und wieder wunderte sich Celia.
    „Wer hat den Kamin angezündet? War es Mara? Aber wieso?“ Es war früher Morgen und auch nicht kalt. Aber dann durchströmte sie ein Gefühl tiefer Erleichterung. Da hatte sie ja ihre Erklärung. Egal wie leise Mara gewesen war, sie besaß im Augenblick einen so leichten Schlaf, dass sie es doch gehört haben musste.
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    [/B]Eine Weile beobachtete sie vom Sofa aus das Feuer.
    Sie sprang erst auf, als sie sah, wie die tanzenden Flammen auf den Teppich vor dem Kamin übersprangen.
    „Hilfe!“ rief sie in heller Aufregung. „Feuer! Mara! Hilfe, Feeeeuuuueeeerr!“
    Doch es kam niemand.
    ‚Löschen!’ dachte sie. ‚Ich muss versuchen, das Feuer zu löschen!’ Doch es blieb bei dem Gedanken. Trotz ihrer Panik stand sie wie festgewurzelt auf dem Teppich und starrte auf die Flammen, die sich immer weiter in das feine Gewebe fraßen und dabei unhaufhaltsam auf sie zukamen.
    Ich muss hier weg, sofort. Ich muss Hilfe holen.’ Sie dachte es, sie wollte es, aber sie bewegte sich keinen Zentimeter. Als hätte ein anderer die Kontrolle über sie übernommen.
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    [/B]Die Flammen kamen immer näher, sie erfassten ihre Füße und noch immer stand sie einfach nur da. Ihr Körper krümmte sich vor Schmerz, als sie die Hitze an den Beinen fühlte. Leise prasselnd fraßen sie sich durch den Stoff der Hose.
    „Nein! Nein!“ rief sie immer wieder und wieder. Und sie merkte nicht, dass kein Laut ihre Kehle verließ. „Mara, Mara hilf mir!“
    Aber Mara kam nicht, niemand kam. Celia war vollkommen hilflos.
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    [/B][/B][/B]Die Flammen stoben durch den Raum, loderten hell an ihr auf, angefacht von einem starken Luftzug, als hätte jemand die Tür aufgerissen. Es gab kein Entkommen.
    „Oh dieser Schmerz, dieser Schmerz!“ stöhnte sie. „Ist das jetzt das Ende?“
    Und dann war sie wieder da, die Stimme, die sie rief, ihr Rettung versprach. „Du musst nur zu mir kommen. Komm!“
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  • ***

    „Nick? Bist du wach?“
    Es dauerte eine Weile, bis die leise Stimme zu ihm durchdrang und Nicolas realisierte, dass sie nicht aus einem Traum stammte. Oh Mann, er fühlte sich zerschlagen und müde, als ob er die letzte Nacht durchgemacht hätte. In gewisser Weise war das gar nicht so verkehrt, denn er hatte sich tatsächlich die halbe Nacht von einer Seite auf die andere gewälzt, teils wegen seiner Mutter, die sich verdächtig ruhig benahm, seit sie mit Arabella eingezogen war. Waffenstillstand hatte sie scherzhaft gesagt, aber wohl eher die Ruhe vor dem Sturm gemeint.

    Noch mehr beschäftigte ihn, verflucht nochmal, warum sollte er es nicht zugeben, Celia. Selbst jetzt, wo sie das Krankenhaus verlassen hatte, verfolgten ihn ihre strahlenden Augen immer noch, glaubte er, überall ihre sanfte Stimme zu hören, ihr vertrauensvolles Lächeln zu sehen. Er konnte nicht einmal sagen, was genau ihn so an ihr faszinierte, es war nichts Bestimmtes, nur ein Gefühl, das ihn nicht mehr losließ, Wohlbehagen und Freude, wenn er sie in der Nähe wusste. Und er ertappte sich mehr als einmal bei dem ketzerischen Gedanken, dass ja nun, wo sie im eigentlichen Sinne nicht mehr seine Patientin war, nichts mehr dagegen sprach, sie näher kennenzulernen. ‚Kennenlernen? Mach dir doch nichts vor, Nick, das ist es nicht gerade, was du im Sinn hast, oder?’
    „Nick?“ Da war es wieder. Er blinzelte und runzelte die Stirn.
    „Bella?“


    Das Mädchen kam näher und er setzte sich ruckartig auf.
    „Verdammt Bella, das ist mein Schlafzimmer. Was machst du hier mitten in der Nacht!“
    Arabella gluckste angesichts seines entsetzten Tonfalls vergnügt vor sich hin und wedelte mit der Hand vor ihm herum. „Hallo, ich bins, schon vergessen, deine Schwester?! Früher bin ich doch auch immer zu dir gekommen und das hat dich nicht gestört.“
    „Ja, mag sein. Nur...“
    „Nur was?“ fragte Bella gedehnt und amüsierte sich weiter königlich über seine verlegene Miene.
    „Ich bin’s halt nicht gewöhnt, dass hier jemand nachts reinschleicht.“
    „Also nachts ist reichlich übertrieben, draußen wird’s schon hell.“ Sie legte den Kopf schief, als denke sie über etwas nach. „Schläfst du immer allein?“ platzte sie dann ohne eine Vorwarnung heraus.


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    [/B]„Wie bitte?“ Nicolas sah seine Schwester entgeistert an. „Was ist denn das für eine Frage?“
    „Eine ganz normale.“ Arabella grinste unschuldig, aber ihr Bruder sprang nicht darauf an.
    „Das geht dich gar nichts an, würde ich sagen.“
    „Ach komm, Nick, reg dich ab. Du willst doch jetzt nicht spießig werden.“
    „Spießig?“ Nick sprang aus dem Bett und beobachtete mit wachsendem Erstaunen, wie sein kleines Schwesterlein es sich inzwischen auf der anderen Seite des breiten Bettes gemütlich machte. „Verrätst du mir, was das werden soll?“ fragte er, bemüht sich nur halb so genervt anzuhören wie er sich fühlte.
    „Ich dachte, wir zwei könnten eine Runde quatschen, so wie früher. Wir müssen doch noch nicht aufstehen. Heute ist Sonntag, ich muss nicht in die Schule und du hast auch frei, also genug Zeit.“
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    [/B]‚Oh ja, Zeit, die ich gerne zum schlafen genutzt hätte’ stöhnte Nicolas innerlich und war versucht, sie ganz energisch aus seinem Bett und seinem Schlafzimmer zu werfen. Doch als er in Bellas bittendes Gesicht sah, da konnte er es nicht tun. ‚Wieso schafft sie es immer wieder, mich um den Finger zu wickeln?’ fragte er sich selber ganz verzweifelt, als er sich mit einem Seufzer wieder auf das Bett fallen ließ.
    „Irgendwie hat mir das richtig gefehlt.“ plapperte Arabella auch gleich munter drauf los, Nicks offensichtliche Müdigkeit völlig übersehend. Und während sie leise davon schwärmte, wie sie früher nach einem schlechten Traum immer zu ihrem großen Bruder ins Bett gekrochen war, schweiften Nicks Gedanken langsam ab, fort aus diesem Zimmer und aus diesem Haus, zu ihr. Er vermisste sie, ja, er vermisste sie sogar sehr. Und er fürchtete, dass er sie vielleicht nie wieder sehen würde, und das machte ihm womöglich noch mehr Angst. Etwas Vergleichbares war ihm noch nie passiert. Er hatte sich immer für einen Mann gehalten, dem seine Arbeit und sein unabhängiges Leben viel zu wichtig waren, als dass er sich gestattet hätte, romantische Gefühle zu entwickeln, Gefühle, die ihn nur ablenken und verwirren würden. Er hatte recht mit seiner Theorie, er war der lebende Beweis, aber es interessierte ihn nicht mehr, es war bedeutungslos geworden.
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    [/B]„Bitte, was hast du gesagt?“ Er musste nachfragen, denn er glaubte, sich verhört zu haben.[B][B][B]
    [/B][/B][/B]„Ich wollte deinen Rat, ..., nicht nur als großer Bruder, sondern als Mann.“ Nun druckste Arabella doch herum und hatte Nicks volle Aufmerksamkeit.
    „Und wieso?“‚Ach du liebe Zeit, was für eine selten dämliche Frage!’ schoß es ihm sofort durch den Kopf, als er die zarte Röte bemerkte, die sich ganz plötzlich über die Wangen seiner Schwester ergoß, noch verstärkt durch das einfallende Licht der Morgensonne. Sichtlich verlegen starrte sie mit großen Augen vor sich hin. Zum ersten Mal wurde ihm bewußt, dass sie langsam erwachsen wurde. Aber Nick entschied dennoch, dass sie vor dem Mann (er bemühte sich wirklich sehr, nicht zu lachen) wohl doch eher den großen Bruder brauchte.
    „Heh, Kleines!“ versuchte er sie zu ermuntern, mit der Sprache rauszurücken. „Gibt’s da jemanden, der dich interessiert?“
    Bella verabscheute es, wenn man sie als klein bezeichnete. Und auch er durfte das nur tun, wenn sie in der richtigen Stimmung dafür war. Diesmal schien sie es gar nicht zu bemerken. Das machte die Sache noch wesentlich ernster.
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    [/B]„Außer dir hab ich doch niemanden, den ich fragen könnte. Zu Mum brauch ich gar nicht gehen. Der wäre keiner gut genug und Johnny schon gar nicht.“
    „Ok, das ist doch schon mal was! Der Typ heißt also Johnny. Und wenn Mamà dagegen wäre, geht er vermutlich nicht auf deine Schule, richtig?“
    Bella nickte, aber nicht etwa bedauernd, sondern regelrecht erfreut. „Er geht auf die Staatliche, die Jefferson High, für die Privatschule haben seine Eltern nicht genug Geld. Aber das stört ihn nicht und mich auch nicht.“ Das klang schon beinahe nach einer trotzigen Warnung, jetzt ja nichts falsches zu sagen. Dabei war das gar nicht nötig. Nick hielt sich nun wirklich nicht für snobistisch.
    „Und wie ist er so?“ fragte er ganz beiläufig und wünschte sich im nächsten Moment, er hätte darauf verzichtet. Denn Bella fing praktisch sofort an zu schwärmen, als hätte sie schon die ganze Zeit genau auf diese eine Frage gewartet. Selbstverständlich war er ja soooo cool, hatte sooooo schöne blaue Augen, soooo eine herrlich wilde Mähne und soooo ein tolles Motorrad (das fehlte seiner Mutter noch zum Herzinfarkt) und war ja sowieso DER Schwarm aller Mädchen.
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    [/B]„Und wobei genau willst du jetzt meinen Rat haben?“ suchte er schließlich ihr wohltönendes Loblied zu unterbrechen. „Wo liegt das Problem?“
    „Er beachtet mich nicht.“ Das klang zutiefst unglücklich und er zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nur:
    „Ah ja?!“ Mehr war auch gar nicht nötig, denn Bella hatte beschlossen, ihm jetzt alles möglichst in einem Atemzug zu erzählen. Es sprudelte alles dermaßen schnell aus ihr heraus, dass er Mühe hatte, ihr zu folgen. Als sie endlich Luft holen musste, versuchte er das Gehörte so gut es ging zusammen zu fassen.
    „Mal sehen, ob ich das jetzt richtig verstanden habe. Er jobbt in Jackie’s Diner, wo du mit deinen Freundinnen immer nach dem Shoppen hingehst. Und alles, was ihr je miteinander gesprochen habt, betraf deine Bestellung. Trotzdem hättest du gern ein Date mit ihm, traust dich aber nicht, ihn anzusprechen, weil er dich für eine der reichen Schnepfen hält, womit er, zumindest was das Geld angeht, ja nicht so ganz unrecht hat. Stimmt das bis hier?“
    Sie nickte bedrückt. „Was mach ich denn jetzt? Du bist doch auch ein Mann...“ Er schluckte, räusperte sich, um nichts in der Welt durfte er jetzt auch nur eine Miene verziehen! „Wie mach ich ihn auf mich aufmerksam? Wie? Worauf würdest du reagieren, so als Mann?“
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    [/B]Das war eine ziemlich komplizierte Frage, auf die er so schnell auch keine gute Antwort wusste. Immerhin konnte er sich kaum mit diesem 16jährigen Jungen vergleichen, eigentlich konnte er sich mit niemandem vergleichen, denn er war in solchen Dingen ein Frosch, wie sein Freund Justin immer sagte. Schon als Teenager hatten ihn die Innereien solcher Viecher mehr interessiert als die gefeierten Schulschönheiten. Aber er musste sich etwas einfallen lassen, und zwar etwas sehr gutes, das erwartete Bella von ihrem großen Bruder.
    Justin! Genau, das war die Lösung. Er würde Justin fragen. Wenn sich jemand mit den Beziehungen zwischen Mann und Frau - oh Gott hatte er das jetzt wirklich gedacht – wenn sich also jemand damit auskannte, dann sein bester Freund. Er würde ihn zwar vermutlich wieder aufziehen, aber an seinen gutmütigen Spott war er ohnehin schon gewöhnt. Was er wohl zu Celia sagen würde?! Nur für einen Moment stahl sie sich erneut in seine Gedanken, dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder vollends auf Bella, die ihn erwartungsvoll ansah.
    „Also zunächst mal sollte ich uns was zum Frühstück machen. Es denkt sich so schlecht mit knurrendem Magen. Und dann können wir Kriegsrat halten. Irgendwas fällt uns schon ein, versprochen.“
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  • Er warf sie aus dem Bett, damit sie sich umzog und verschwand selbst in seinem Badezimmer. Die kalte Dusche hatte er jetzt dringend nötig. Mehr denn je wünschte er sich in diesem Moment, sein Vater wäre nicht so früh gestorben. Dann hätte er jetzt ihn fragen können. Zu schade, dass Arabella ihn kaum hatte kennenlernen können! Nun musste er an seiner Stelle auf sie acht geben. Also würde er sich den Jungen wohl mal ganz unauffällig ansehen.
    Sie brauchten beide nicht sehr lange zum Umziehen, sondern trafen sich nur kurze Zeit später an der Treppe, um gemeinsam nach unten zu gehen. Nick musterte ein wenig überrascht die engen Jeans und die (ohlala) hohen Schuhe seiner Schwester, verkniff sich aber jeglichen Kommentar, der ihm ohnehin wieder nur ein: „Sei nicht spießig!“ eingebracht hätte. Nur auf Mutters Reaktion war er gespannt. Das sah doch etwas anders aus als ihre bevorzugten Blümchenkleider. Ob sie auch schon wach war?


    Die nächste dumme Frage an diesem Morgen. Sie hatten noch nicht einmal die Hälfte des Wohnzimmers durchquert, als sie aus der angrenzenden Küche schon ein Klappern und Schlagen hörten. Natürlich war sie wach. Immerhin war sie ein Frühaufsteher, ganz im Gegensatz zu ihren sogenannten Freundinnen.
    Bella zupfte ihn am Ärmel. „Du sagst aber nichts zu Mum, wegen du weißt schon!“ flüsterte sie.
    „Natürlich nicht, wo denkst du hin!“ flüsterte er zurück und spielte den Entrüsteten so überzeugend, dass Bella schon wieder grinsen musste.
    „Mum würde austicken, wenn sie das mit Johnny rauskriegt.“
    „AUSTICKEN wäre noch vorsichtig ausgedrückt.“ Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu, bevor er, seiner Schwester Deckung gebend, die Küche betrat.


    „Guten Morgen, Mamà!“ Sie sagten es beide in einem Atemzug, wie auf Kommando und sahen ganz erstaunt, dass ihre Mutter in einem teuren Designerkleid an der Theke stand und geschäftig in einer Schüssel rührte.
    „Guten Morgen, ihr zwei!“ antwortete Catherine freundlich, ohne mit der Rührerei aufzuhören.
    „Was machst du da, Mamà?“ fragte Nick.
    „Wonach sieht es denn aus? Ich mache Frühstück!“
    „Ja, ähm, ...“ Nick wusste nicht recht, was er sagen sollte, er konnte doch unmöglich seiner Mutter an den Kopf werfen, dass er das im Interesse eines baldigen, genießbaren Frühstücks lieber selbst machen würde. „Das kann ich doch machen!“ bot er ihr stattdessen vorsichtig an, doch sie lehnte ab.
    „Du hast die Küche umgeräumt!“ konstatierte sie, während sie den Inhalt der Schüssel weiterhin hingebungsvoll und kräftig durchschlug. „Es ist ein bißchen unpraktisch, man findet alles nur schwer. Und warum du die Wand zum Esszimmer entfernst hast, kann ich, ehrlich gesagt, nicht wirklich nachvollziehen. Aber naja, was soll’s. Es ist deine Wohnung! Interessante Art, sich zu kleiden, Bella!“
    Was waren denn das für Töne! Nicolas und Arabella sahen sich ratlos an, während Catherine vergnügt in sich hineinlächelte.


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    [/B]„Jetzt steht hier nicht wie die Salzsäulen in der Küche herum! Setzt Euch an den Tisch. Ich bin gleich soweit!“ Ohne das Kopfschütteln ihrer Kinder zu beachten, ging sie mit der Schüssel zum Herd, griff sich eine Pfanne und begann den Teig nach und nach hineinlaufen zu lassen. „Ich mache Pfannkuchen!“ rief sie während des Backens zu den beiden hinüber. Ein kurze, kräftige Bewegung des Handgelenks, der Pfannkuchen sprang aus der Pfanne und landete umgedreht wieder in der Pfanne. „Ich nehme doch an, du magst sie immer noch so gern, Nicolas!“
    Das Erstaunen der zwei bereitete ihr ein diebisches Vergnügen. Da hatte ihr Herr Sohn doch tatsächlich angenommen, sie könne nicht kochen. Hah, nur weil sie es nicht tat, es war ja nicht notwendig, musste das noch lange nicht heißen, sie wäre dazu nicht in der Lage. Früher hatte sie in dieser Küche häufig gekocht. Für Frances. Er liebte gutes Essen, ihr Essen. Es hatte Spaß gemacht, für ihn zu kochen, selbst wenn ihre Mutter die Nase gerümpft und sie bei jedem ihrer seltenen Besuche hier daran erinnert hatte, was sie ihrer gesellschaftlichen Stellung schuldig sei. Frances hatte jedesmal gelacht und gemeint, sie solle doch stolz darauf sein, was sie ihrer Tochter alles beigebracht habe. Seltsam dass sie sich jetzt daran erinnerte. Er war der Einzige gewesen, der ihre Mutter zum Schweigen bringen konnte. Catherine schüttelte sich, warf den letzten Pfannkuchen mit Schwung auf den erwärmten Teller und brachte ihn zum Tisch.
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    [/B]„Wow!“ war zunächst alles, was Nicolas mit halbvollem Mund hervorbrachte, nachdem er mit einem kaum merklichen Zögern ein Stück Pfannkuchen probiert hatte. Und Catherine freute sich so über das offensichtliche Lob, dass sie ihren Kommentar bezüglich seiner Manieren – wie konnte man nur mit vollem Munde reden – einfach hinunterschluckte.
    Die waren aber auch lecker. Nicolas kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er hatte seine Mutter noch nie, wirklich nie in der Küche stehen sehen. Und ihre ausgesprochen gute Laune wirkte reichlich verdächtig.
    „Also da kann sich selbst Lucy noch eine Scheibe abschneiden, Mamà.“ sagte Bella, während sie sich bereits das nächste Stück in den Mund schob.
    „Schön, wenn’s dir schmeckt.“
    „Du solltest echt öfter kochen, Mum.“ Catherine sah ihre Tochter an und überlegte.
    „Ja, vielleicht sollte ich das tatsächlich tun. Was hast du denn heute noch so vor, Nicolas?“
    Er zuckte mit den Schultern. „Nichts besonderes, ausruhen, denke ich. Es war eine anstrengende Woche. Warum?“
    „Nun, ich dachte, du könntest mir vielleicht etwas Zeit opfern, damit wir über die Party nächsten Samstag sprechen können. Es gibt einiges zu arrangieren, die Zeit drängt. Aber da das hier dein Haus ist, möchte ich es natürlich nicht ohne dich machen.“
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    [/B]‚Nicht schon wieder diese verfluchte Party’ stöhnte Nick unhörbar und seine Schwester warf ihm einen mitleidigen Blick zu.
    „Ich könnte dir helfen, Mamà. Ich glaube, Nick muss sich echt mal erholen. Er sieht ja schon aus wie der wandelnde Tod.“
    „Danke!“ meinte Nick trocken. „Jetzt fühl ich mich gleich besser.“ Der Unterstützungsversuch seiner Schwester hatte allerdings auch sein Gutes. Seine Mutter betrachtete ihn nämlich daraufhin sehr aufmerksam und kam, Wunder über Wunder zu derselben Ansicht.
    „Ich werde einen Plan erstellen für die Gästeliste, das Essen, die Musik. Den können wir dann heute Abend in Ruhe durchgehen. Vielleicht solltest du dich nach dem Frühstück lieber noch etwas hinlegen.“
    Das Telefon klingelte. An einem so schönen Sonntagmorgen, wenn auch noch endlich einmal Frieden am Frühstückstisch herrschte und das Essen richtig mundete, gab es in der Tat kein schrecklicheres Geräusch.
    Auch Catherine reagierte ungehalten, als Nick seufzend aufstand. „Wenn das die Klinik ist, du hast heute frei. Die sollen sich einen anderen holen. Du bist schließlich nicht der einzige Arzt in diesem Krankenhaus.“
    Ausnahmsweise gab er ihr recht.
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    [/B]„Ja bitte!“ meldete er sich leicht unwirsch, wurde aber gleich darauf totenblass.
    „Dr. Blandfort?“ schluchzte eine Stimme am anderen Ende. „Ich, ...., es tut mir leid, ...., ich brauche Hilfe!“
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