Sobald sie vollends verschwunden war, fuhr Reshanne mit einem Ruck nach oben.
Hatte sie etwa geträumt? Das war unmöglich, Elo-i schliefen nicht, wie sollten sie dann träumen? Und doch hatte sie sich in den letzten Minuten im Ratssaal befunden und lag jetzt immer noch hier auf ihrer Liege, ohne das geringste Zeichen, sich bewegt zu haben.
Gaukelte ihr der Kummer etwas vor? Oder hatte diese Begegnung gerade eben tatsächlich stattgefunden? Eine Begegnung, die sich jeder Elo-i sehnlichst wünschte, ohne dass ihm dieser Wunsch je erfüllt worden wäre. Aber sie hatte sie gesehen, sogar mit ihr gesprochen und Melynne, wie es den Anschein hatte, ebenfalls. Warum hatte sie nie ein Wort darüber verloren, nicht einmal ihr gegenüber?
Was hatte man ihr geraten, noch einmal in den Spiegel zu sehen? Nun, alles, was sie tun musste, um ein Trugbild auszuschließen, war, genau das zu tun.
Ganz wohl war ihr nicht dabei, als sie jetzt vor den Spiegel trat und hinein sah. Doch was sie gerade jetzt am dringendsten brauchte, waren Antworten, und die sollte ihr ausgerechnet der Spiegel geben. Seit Varik in ihn eingedrungen war, hatte sie ihn nur noch dann benutzt, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Sie fürchtete, dem Herrn der Finsternis sonst ungewollt wertvolle Informationen zu überlassen. Nun hoffentlich war er gerade zu sehr mit seinem neuen Werkzeug beschäftigt, um sich um sie zu kümmern.
Sie schloss kurz die Augen, atmete tief ein und befahl dem Spiegel, ihrem Willen zu gehorchen.
„Zeige mir die Antwort auf meine Frage. Wie kann man diese Katastrophe abwenden?“ Nichts, der Spiegel hörte sie zwar, er reagierte auch, doch alles, was er ihr zeigte, war noch immer ihr eigenes Spiegelbild.
„Was kann ich tun?“
[FONT="]Nebel hüllte den Spiegel ein, ihr Bild verblasste, strahlendes Licht flammte auf.
[/FONT] Und dann erschien es erneut, jenes Bild aus ihrer Einführung. Es hatte sich ganz leicht verändert, doch es war ohne Zweifel das gleiche Bild. Diesmal erlaubte ihr der Spiegel einen näheren Blick und was ihr auf den ersten Blick auffiel, war die Frau, die hinter dem Bett stand. Ohne Zweifel, die Tracht, der Stirnschmuck, das war eine von Zardons Cha-yi. Bedeutete das etwa, Zardons Plan war die tatsächlich die Lösung.
„Sieh genau hin, Reshanne, ganz genau.“ hörte sie wieder ihre Stimme, diesmal noch eindringlicher, beschwörender. „Verschließe dich nicht vor der Wahrheit, nur dann wirst du es sehen!“
Die Wahrheit, welche Wahrheit? Warum sollte sie sich der verschließen? Sie bemühte sich doch!
Das Bild begann schon zu verblassen, als habe der Spiegel es aufgegeben, ihr Dinge zu zeigen, die sie nicht entschlüsseln konnte. Doch dann stutzte sie und befahl dem Spiegel, das Bild wieder zu schärfen. Sie beugte sich ganz nah an die glatte Oberfläche und nickte langsam. Jetzt hatte sie verstanden!
[FONT="]Das Bild verschwand, doch das Licht blieb, auch als Reshanne sich von dem Spiegel abwandte.
[/FONT] Jetzt endlich wurde ihr klar, warum Melynne ihr die Wahrheit verschwiegen hatte. Und auch warum sie sich so plötzlich zurückgezogen hatte. Was für eine grausame Entscheidung!
Und sie selbst? Sie stand jetzt vor der gleichen! Wie würde ihre ausfallen? Nur wenn sie diesmal die richtige Entscheidung traf, konnte sie diesen Wahnsinnn ein für alle mal beenden.
Ein leises Räuspern riss sie aus ihren Gedanken. Als sie den Kopf wendete, sah sie Cyros vor dem großen geschmiedeten Tor stehen.
[FONT="]„Darf ich hereinkommen?“ Ihr Herz wurde gleichzeitig leicht und schwer, als sie ihrem Mann zunickte und sich dadurch ein Flügel öffnete, um ihn hindurchzulassen. Gleichzeitig verschwand das Licht, welches soeben noch alles hier in seiner Wärme eingehüllt hatte.
[/FONT] „Ich wollte dich gewiss nicht stören!“ entschuldigte er sich, doch sie wehrte ab.
„Du störst nie. Ich wäre ohnehin gleich zu dir gekommen.“
„Dann sollte ich wohl schnellstens wieder gehen!“ meinte er verschmitzt und machte schon Anstalten, sich umzudrehen, als sie ihn zurückhielt.
„Nein, bitte bleib bei mir. Du kommst wie gerufen. Ich ... ich möchte dich etwas fragen.“
Erwartungsvoll, aber auch ein wenig beunruhigt, ob der Ernsthaftigkeit in ihrem Blick sah er sie an.
„Hat es dich sehr gestört, dass Melynne mich damals zur Herrscherin gemacht hat?“
„Gestört? wiederholte er überrascht. „Warum sollte es mich stören?“
„Nun ja, es war doch nicht vorgesehen, als wir beide heirateten, und jetzt musst du dauernd hinter deiner Frau herlaufen, auf sie warten und......“
„Das quält dich?“ unterbrach Cyros seine Gemahlin und griff nun seinerseits nach ihrer Hand.
„Varik hat es gequält.“
Er musterte einen Moment intensiv den Ring, der sowohl an ihrer als auch an seiner Hand glänzte, bevor er mit fester Stimme erklärte: „Ich bin nicht Varik. Meine eigenen Aufgaben genügen mir vollkommen. Und es ist und war mir immer egal, wer du bist!“ Er strich ihr zärtlich über den Handrücken und lächelte. „Mag sein, dass deine Eltern sich eine Verbindung zwischen uns in den Kopf gesetzt hatten, aber ich hätte dich nicht geheiratet, wenn es nicht auch mein eigener Wunsch gewesen wäre. Und nach deiner Ernennung, über die ich im übrigen sehr stolz bin, was hätte mich daran gehindert, dich zu verlassen, sollte es mich wider jeden Verstand doch stören?“
„Niemand verlässt die Herrscherin!“ flüsterte Reshanne heiser.
„Das wäre ein unerhörter Skandal gewesen, nicht wahr?“ grinste Cyros wie ein kleiner Junge, bevor er wieder ernst wurde. „Dennoch hätte ich es getan, wenn es einen Grund dafür gegeben hätte.“
„Und den gab es nie?“
[FONT="]„Nie!“ bestätigte er und führte ihre Hand an die Lippen. „Ich liebe dich, Reshanne, genauso wie ich es getan habe, als du meine Frau geworden bist, vielleicht sogar noch mehr.“
[/FONT] Voller Zärtlichkeit strich ihm Reshanne über die Wange. „Versprich mir, dass sich das nie ändern wird, ganz egal, was auch passiert.“
„Was soll denn passieren?“ fragte er mit einem unguten Gefühl.
„Ich werde eine Entscheidung fällen müssen, eine wichtige Entscheidung, für uns alle, eine grausame. Und ich weiß nicht einmal, ob es die richtige sein wird. Ich kann es nur hoffen. Doch ich möchte nicht, dass du .....“
„......dass ich?“
„......dass du deshalb aufhörst, mich zu lieben!“
Erschrocken schob er sie von sich und entdeckte überrascht eine Träne, die ungehindert ihre Wange herunterlief. Nichts hätte ihn mehr erschüttern können, denn Reshanne weinte nie. Nicht dass die Elo-i nicht dazu in der Lage wären, sie taten es nur höchst selten.
"Bitte!" wiederholte sie. "Versprich es mir!"
Er nahm ihren Kopf in seine Hände, zog sie ganz nah an sich heran und flüsterte: "Ich verspreche dir, ich werde dich immer lieben, egal, was du tust."
Ein dankbares Lächeln belohnte ihn, als er seiner Frau einen zärtlichen Kuss auf die Lippen hauchte.