„Aber was soll ich tun, wenn er zurückkehrt.“ Reshanne eilte ihr hinterher, als sie den privaten Pavillon anstrebte.
„Das wird er nicht wagen. Und falls doch, steht dir, wie mir auch, die gesamte Macht der Elo-i zur Verfügung, um ihn ins Dunkel zurückzutreiben. Ich sagte doch, du wirst dankbar sein für Marhalas Existenz. Und jetzt werden wir uns weiter mit der Übergabe beschäftigen.“
Der Wechsel kam ein wenig zu plötzlich, um Melynnes letzte Worte wirklich glaubhaft erscheinen zu lassen. Irgendetwas Wesentliches hatte die Herrscherin ihr verschwiegen. Mächtig hatte sie Varik genannt und gefährlich. Im Laufe der Zeit sollte Reshanne herausfinden, wie untertrieben das gewesen war. Doch erst jetzt, wo sie daran zurückdachte, begann sie zu begreifen, was Keyla damals getan haben musste.
[FONT="]Auf einmal verstand sie, wie er in den Spiegel hatte eindringen können, weil seine Frau ihm die Macht dazu gegeben hatte, gleich nachdem Melynne ihr selbst den Zugang erlaubte. Es gehörte zur Einweihung vor der endgültigen Übergabe. Und es musste sich ähnlich abgespielt haben, wie bei ihr selbst.
[/FONT][FONT="]Melynne hatte den Spiegel beschworen, sich für Reshanne zu öffnen, sie als neue Gebieterin anzuerkennen und sie dann allein gelassen, damit sie ihr erstes Bild empfing. Nur ein einziges Mal gestatte der Spiegel einen Blick in die Zukunft, so hatte Melynne es ihr erklärt. Nur bei der Einweihung, beim allerersten Mal. Reshanne hatte gespannt auf die glitzernde Oberfläche gestarrt und gewartet, bis die ersten Nebelschleier darauf sichtbar wurden, die Ränder sich schwarz einfärbten und schließlich ihr erstes Bild sichtbar wurde. Und was für ein Bild. Bis heute war es ihr nicht gelungen, herauszufinden, was der Spiegel ihr damit hatte zeigen wollen, obwohl sich das Bild regelrecht in ihr Gedächtnis einbrannte. Wer war die Gestalt, die dort hoch oben wie auf einer Bahre zu ruhen schien, bewacht von zwei Mitgliedern der Tempelgarde. Wenn das die Zukunft sein sollte, war dies dann ihr eigenes Schicksal?
[/FONT] Sie hatte all ihre Gedanken auf das Bild konzentriert, bemüht, einen einzigen Blick auf die Gestalt werfen zu können, doch jedes Mal, wenn sie glaubte, endlich nahe genug zu sein, verschwammen die Konturen der Person vor ihren Augen. Als ob der Spiegel das Gesicht vor ihr zu verbergen suchte. Immer wieder in den inzwischen vergangenen Jahren hatte sie versucht, den Spiegel dazu zu bewegen, ihr dieses Bild noch einmal zu zeigen, vergeblich. Nur ein einziges Mal, hatte Melynne gesagt und recht behalten.
[FONT="]Zu gern hätte Reshanne sie um Rat gebeten, doch kaum dachte sie daran, wechselte der Spiegel wie auf Kommando sofort das Bild und sie sah die Herrscherin im Gespräch mit Marhala.
[/FONT] „Sobald schon!“ hörte sie die Wächterin rufen, und es schwang doch tatsächlich ein Anflug von Panik in ihrer Stimme mit. Sollte sich doch noch ein Rest von Gefühl in ihr erhalten haben?
„Was hält mich noch in dieser Welt, Marhala?“ fragte Melynne und blickte dabei hinauf in den nachtschwarzen Himmel. Selbst die Sterne hatten sich verdunkelt, als habe Melynnes tiefverletzte Seele sie vom Firmament verbannt. „Mein Herz ist schwer,“ seufzte sie, „ich bin müde, unendlich müde. Es zieht mich heim, zu denen, die so lange vor mir gegangen sind. Es ist genug!“
„Aber noch habt Ihr eine Aufgabe. Eure Nachfolgerin bedarf Eurer Führung! Ihr könnt noch nicht gehen! Das würde Chaos bedeuten.“
„Selbst wenn, sie wird es schaffen. Sie ist stark, viel stärker als Keyla. Das nicht erkannt zu haben, war mein Fehler. Ich hätte gleich Reshanne auswählen sollen.“
[FONT="]„Ihr habt nach dem Erbe Eurer Mutter gesucht und mehr davon in Keyla gefunden, als in Reshanne. Es war kein Fehler. Es musste wohl so kommen, wenn nicht jetzt, dann später.“
[/FONT] „Später wäre mir lieber gewesen.“ Ein leichtes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, doch wurde sie gleich darauf wieder ernst.
„Dich erwartet eine schwere Aufgabe, das weißt du.“
Marhala neigte zustimmend den Kopf.
„Er wird zurückkommen, irgendwann, wenn er sich wieder stark und sicher genug fühlt. Und er braucht sie. Er wird nichts unversucht lassen, um sie zu finden und zurückzubringen. Das musst du verhindern. Töte sie, wenn es sein muss.“
„Und Zardon?“
[FONT="]„Er weiß, was er uns schuldig ist. Sollte Varik zurückkehren, kann er seine schützende Hand nicht länger über seine Tochter halten. Ich habe ihr bereits mehr Gnade erwiesen, als sie verdient. Behalte diesen Befehl für dich und führe ihn aus, wenn es nötig werden sollte.“
[/FONT] Nur wenig später übertrug die alte Gebieterin all ihrer Kräfte auf Reshanne und trat die letzte Reise an. Ein jeder trauerte ihr nach, am meisten jedoch Reshanne selbst, die sich ganz plötzlich in eine Rolle gedrängt sah, der sie sich nicht im mindesten gewachsen fühlte.
„Was für ein furchtbares Erbe hast du mir hinterlassen, Melynne!“ seufzte Reshanne immer wieder, während sie ihren einsamen Spaziergang durch den Tempel fortsetzte. Irgendwann blieb sie an Darias kleinem Teich stehen und ließ sich, einer spontanen Eingebung folgend, an dessen Ufer nieder. Genauso hatte sie Celia hier sitzen sehen, bei einem ihrer letzten Besuche im Ratstempel. Zaide, ihre ach so verbohrte Schwester würde vermutlich niemals glauben, wie sehr sie sich dem Kind verbunden fühlte, wie aufmerksam sie heimlich ihre Entwicklung beobachtet hatte, wie schwer sie mit Zardon um ihre Initiation gerungen hatte. Und jetzt war sie gezwungen, dieses hoffnungsvolle Leben auszulöschen. Sollte ihr denn wirklich keine andere Wahl bleiben?
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