• ***

    Catherine machte sich ihre eigenen Gedanken, als ihr Sohn ohne ein erklärendes Wort regelrecht aus dem Haus stürmte, kaum dass er den Telefonhörer wieder aufgelegt hatte. Nachdem sie kopfschüttelnd die Frühstücksteller in die Maschine gestellt hatte, ging sie nach oben und betrat Bellas Zimmer, wo sie das Mädchen am Computer sitzend vorfand.

    „Was machst du denn da?“ erkundigte sie sich neugierig, denn von Computern verstand sie so gut wie gar nichts. Sie waren ihr irgendwie suspekt.
    „Ich seh nach, ob ich Mails bekommen habe.“ antwortete Bella, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. “Nick hat mir gestern noch das Internet angeschlossen.“
    „Ah ja.“ Das interesierte sie nun nicht wirklich. „Ich wollte dich noch etwas fragen, betreffs der Party. Du sollst da ja nicht ganz alleine rumsitzen. Warum laden wir nicht jemanden in deinem Alter ein? Die Suttons haben doch einen netten Sohn. Was hältst du davon?“
    Bella schluckte. Ihre Vorstellung von nett unterschied sich doch arg von der ihrer Mutter.
    „Lieb gemeint, Mum. Aber mach dir mal um mich keine Sorgen. Ich wollte sowieso lieber mit den andern ins Kino.“
    „Während unserer Party?“ Für einen klitzekleinen Moment schien Catherine die Fassung zu verlieren, fing sich aber schnell wieder. „Mein liebes Kind! Das kommt gar nicht in Frage. Wie sähe das denn aus, wenn die Hälfte der Familie fehlt!“
    „Aber Mum, solche Parties sind langweilig!“ maulte Arabella, stieß aber auf kein Verständnis bei ihrer Mutter.
    „Tut mir leid. Jeder von uns hat seine Verpflichtungen, auch du. Je eher du das begreifst, desto besser.“ Sie drehte sich um, ging zur Tür und fügte, bevor sie hinausging, noch hinzu. „Und bitte sag nicht Mum zu mir. Du weißt, ich mag das nicht.“


    Dieses Kind! Catherine ging leicht verärgert die Treppe hinunter. Wieso musste sie, kaum dass man ihr den kleinen Finger reichte, gleich nach der ganzen Hand greifen?! Sie gab sich doch nun schon Mühe. Mehr konnte niemand von ihr verlangen. Aber dieses Mädchen war einfach mit nichts zufrieden und hatte keinerlei Pflichtgefühl. Tja, sie würde es lernen müssen! Das war sie sich und dem altehrwürdigen Namen ihrer Familie schuldig!
    Und natürlich lade ich den Sutton-Jungen ein. Wer sollte denn sonst mit Arabella tanzen? Nicolas bestimmt nicht. Der musste sich schließlich um Caroline kümmern.
    Apropos Caroline. Sie griff nach dem Telefon und wählte eine Nummer.


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    [/B]Es dauerte nicht lange, bis eine lange Limousine vor dem Haus vorfuhr, der eine junge Frau entstieg. Sie lächelte etwas geziert, während sie darauf wartete, dass ihr Chauffeur ihr das Tor zum Grundstück öffnete.
    „Catherine!“ rief sie betont herzlich, als Nicks Mutter ihr entgegen kam.
    Extravagant wie immer dachte Catherine bei ihrem Anblick. Der Rock könnte ruhig etwas länger sein, aber so war wohl die Mode derzeit. Und modebewusst war Caroline Vandermere mit Sicherheit, zumal ihr das nötige Geld zur Verfügung stand, sich den jeweiligen Veränderungen anzupassen. Manchmal allerdings... „Wie schön, dass du gekommen bist, Caroline.“ Sie lächelte sie freundlich an, breitete ihre Arme aus und schloß die junge Frau darin ein.
    „Aber das ist doch selbstverständlich. Ich freue mich über deine Einladung.“
    „Komm, Caroline, wir machen es uns auf der Terrasse gemütlich. Immerhin haben wir viel zu besprechen.“
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    [/B]Catherine nutzte den Weg zur hinteren Terrasse, um ihrem Gast die untere Etage des Hauses zu zeigen, in dem diese, wie sie ihr mit leisem Bedauern erzählt hatte, noch nie gewesen war. Sie hatte verständnisvoll genickt und Caroline erklärt, ihr Sohne tue sich im Allgemeinen etwas schwer mit Einladungen.
    „Deshalb habe ich unsere Party ja auch hierher verlegt. Es wird Zeit, dass Nicolas auch einmal den Gastgeber für unsere Freunde spielt.“ Catherine bat ihren Gast, Platz zu nehmen. „Er vergräbt sich zu sehr in seine Arbeit und vergißt dabei, dass es auch noch etwas anderes gibt, als das Leben in der Klinik.“ Hoch erfreut, als Caroline ihr lebhaft zustimmte, fragte Catherine sie anschließend, wie ihr denn das Haus gefiele.
    „Nun ja“, begann Caroline zögernd, sichtlich bemüht, das Richtige zu antworten. Immerhin wusste sie von Nicolas, dass Catherine das Haus früher selbst bewohnt und auch eingerichtet hatte.
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    [/B]Allerdings wunderte sie sich etwas über den legeren Stil, den Catherine hier hatte walten lassen, angesichts der kostbaren antiken Möbel, die im alten Blandfort Manor die Zimmer schmückten. Natürlich würde sie ihr das nicht sagen. Sie war auf Catherine angewiesen, wollte sie Nicolas jemals zu einer Erklärung bewegen. Und nichts wünschte sie sich mehr. Ihr Vater, der als erfolgreicher Geschäftsmann immer alles ganz genau wissen wollte, hatte diskret Erkundigungen eingezogen über die Blandforts und deren Hintergrund und dabei Erstaunliches zutage gefördert. Nicht nur, dass sie in weiblicher Linie von einer englischen Aristokratenfamilie abstammten, nein, es bestand sogar die Möglichkeit, dass Nicolas den Titel seiner Vorfahren wieder übernehmen würde. Ein Ahnenforscher hatte herausgefunden, dass der englische, inzwischen zur Grafenwürde aufgestiegene Zweig der Familie schon so gut wie ausgestorben war. Der jetzige Earl, ein über siebzig Jahre alter Greis hatte keine Geschwister und sein einziger, immer noch kinderloser Sohn starb bei einem Autounfall vor gerade einem halben Jahr. Verfolgte man nun dessen Linie zurück, traf man unweigerlich auf Catherines ausgewanderten Vorfahren Henry Blandfort. ‚Countess of Carver, das wäre doch ein Ziel, wofür es sich zu kämpfen lohnte!’ hatte ihr Vater gesagt und sie stimmte ihm zu.
    Caroline wagte einen vorsichtigen Blick zu Catherine hinüber. Ob die Anwälte schon mit ihr Kontakt aufgenommen hatten? Nicolas wusste jedenfalls nichts von seinem Glück, daran gab es keinen Zweifel.
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    [/B]„Nun?“ fragte seine Mutter gerade irritiert. „Hat es dir die Sprache verschlagen?“
    „Oh nein,“ versicherte ihr Caroline schnell. „Ich bin nur so begeistert von dem Haus, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Es ist so schön hell und freundlich. Elegant und trotzdem gemütlich.“
    „Danke!“ Catherine freute sich ehrlich über das Kompliment. „Weißt du Caroline, vor vielen Jahren haben mein verstorbener Mann und ich dieses Haus eingerichtet. Nicolas und Bella haben einen Teil ihrer Kindheit hier verbracht. Und es wäre doch schön, wenn auch Eure Kinder bald durch diesen Garten tollen.“
    „Ja, das wäre sicher schön.“ stimmte Caroline ihr zu, beschloß aber im Stillen, dass dieses Haus mit Sicherheit nicht ihr Zuhause werden würde. Jedenfalls nicht so! Für eine Gräfin ziemte sich ein solches Heim nicht, nicht einmal in Amerika. „Leider scheint Nicolas sein Interesse an mir verloren zu haben, ruft nicht einmal mehr an.“ seufzte sie und brachte es fertig, ehrlich bedrückt auszusehen, was gar nicht so schwer war, da sie sich wirklich sorgte, er könne ihr entgleiten.
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    [/B]„Oh beunruhige dich nicht unnötig, meine Liebe!“ Catherine beugte sich kurz hinüber und tätschelte ihr die Hand. „Er hatte in der letzten Zeit sehr viel zu tun, eine Menge Operationen und Ärger in der Klinik. Du siehst ja, nicht einmal am Sonntag gönnen sie ihm seine Ruhe. Außerdem hat er seit jeher Schwierigkeiten damit, seine Gefühle zu zeigen, ein eher hinderliches Erbe seines Vaters. Aber wir werden ihn schon in die richtige Richtung lenken, du und ich. Sprechen wir doch gleich mal über die Party nächsten Samstag. Ich hatte mir gedacht, es wäre doch eine schöne Idee, wenn du neben mir quasi schon mal mit als Gastgeberin auftreten würdest. Ich könnte durchaus Hilfe gebrauchen und auf Nicolas will ich mich lieber nicht verlassen. Was meinst du?“
    Caroline stockte der Atem. Catherine würde sie damit der Gesellschaft praktisch als die zukünftige Ehefrau ihres Sohnes präsentieren. Das brächte sie einen ungeheuren Schritt voran. Nicolas konnte sie danach unmöglich weiter ignorieren. Die Idee war einfach zu verlockend, und so nickte sie zustimmend.
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  • Nicolas brauchte nicht lange, um zu der angegebenen Adresse zu gelangen. Er hatte etliche rote Ampeln überfahren und wunderte sich nur, dass ihn die Polizei nicht angehalten hatte. Der Anruf hatte ihn zugegebenermaßen doch etwas aus der Fassung gebracht, weil die Stimme sich dermaßen verzweifelt anhörte, dass er schon das Schlimmste befürchtete. Er hatte eben erst den Klingelknopf gedrückt, als Mara Banning auch schon die Türe öffnete.

    „Dass Sie an einem Sonntagmorgen gekommen sind, Dr. Blandfort!“ begrüßte sie ihn in überrascht reserviertem Ton.
    „Ich kam so schnell ich konnte.“ Er trat einen Schritt näher, konnte sich aber des Eindrucks nicht erwehren, sie wolle ihm den Zutritt verweigern.
    „Die Eile wäre gar nicht nötig gewesen, Doktor.“ sagte sie denn auch und blieb demonstrativ in der Tür stehen. Nick runzelte die Stirn. Miss Banning tat ja gerade so, als wäre alles in bester Ordnung.
    „Der Anruf klang dringend! Was ist denn passiert?“ Er schob seinen Fuß nach vorn.
    Mara zuckte mit den Schultern und ließ ihn eintreten. „Ich habe keine Ahnung. Sie hat an einem Bild gemalt, fast ohne Pause, hat kaum geschlafen, aber sonst schien alles in Ordnung. Dann, von einer Minute zur nächsten benimmt sie sich irgendwie seltsam.“
    „Was meinen Sie damit? Wo ist sie?“
    „Oben, in ihrem Zimmer. Kommen Sie, ich bringe sie hinauf. Dann können Sie sich selbst ein Urteil bilden.“


    Nicolas folgte ihr ins obere Stockwerk, öffnete auf ihr Zeichen hin vorsichtig die Tür des Schlafzimmers und sah sich um. Zuerst vermochte er niemanden zu entdecken, bis er in das Zimmer hineinging und Mara ihn anstieß.
    „Da!“
    Celia hockte in der Ecke zwischen Fenster und Schreibtisch und starrte vor sich hin. Das Telefon, dessen Hörer sie fest umkrampft hielt, stand noch immer neben ihr.
    „So sitzt sie jetzt schon die ganze Zeit da.“ flüsterte Mara, als würde sie es nicht wagen, lauter zu sprechen.
    „Haben Sie denn nichts unternommen?“
    „Was hätt’ ich denn tun sollen? Sie reagiert doch nicht. Versuchen Sie es, vielleicht haben Sie ja mehr Glück.“ Ihr Tonfall ließ allerdings vermuten, dass sie mehr als stark daran zweifelte.



    Nicolas drehte sich zu ihr um. Sie mißfiel ihm immer mehr. Wie konnte sie sich ihre Freundin nennen und dann bei diesem Jammerbild so kühl und gelassen bleiben.
    „Was genau ist denn nun eigentlich passiert?“ fragte er etwas schärfer als beabsichtigt. Mara hob die Braue.
    „Ich sagte doch, ich weiß es nicht. Sie hatte sich im Wohnzimmer etwas hingelegt und dann fand ich sie zwei Stunden später weinend auf dem Fußboden liegen. Als ich sie ansprach, faselte sie etwas davon, dass es gebrannt habe, dann sprang sie auf und lief wie ein gehetztes Tier die Treppe hinauf. Sie riss das Telefon vom Tisch und verschwand in ihrem Zimmer.“
    „Es hat gebrannt?“ hakte Nicolas nach, doch Mara schüttelte den Kopf.
    „Nein, ich habe nachgesehen. Es gibt nicht den kleinsten Hinweis auf ein Feuer, nirgendwo.“
    Das klang alles mehr als merkwürdig, dachte Nick, als er sich wieder umwandte.

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    [/B]Immer noch vorsichtig, um sie nicht unnötig zu erschrecken, ging Nicolas näher und beugte sich zu Celia hinunter.
    Was er sah, erschreckte ihn. Himmel, was war mit ihr geschehen?“
    Unablässig rannen Tränen über die bleichen Wangen ihres Gesichts. Ihre Augen starrten blicklos vor sich hin. Sie schienen jeglichen Glanz verloren zu haben. Ein Teil der Wimpern machte tatsächlich den Eindruck, als wären sie angesengt. Ihre Lippen waren aufgesprungen und doch schon wieder verschorft. Ginge man davon aus, dass, was immer ihr zugestoßen war, gerade eben erst passierte, dann war das medizinisch vollkommen unmöglich!
    Er streckte die Hand aus und berührte sacht ihre Wange.
    „Miss Moreau? Miss Moreau, hören Sie mich?“ Geduldig wiederholte er die Frage, bis sie endlich zusammenzuckte, den Kopf hob und ihn ansah.
    „Dr. Blandfort?“ flüsterte sie halberstickt. Er nickte erleichtert und schob ihr den Arm unter die Achseln.
    „Kommen Sie, ich helfe Ihnen hoch.“
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    [/B]Sie ließ sich relativ willenlos nach oben ziehen und zum Schreibtischstuhl führen, wo er sie sanft niederdrückte. „So, das ist doch schon viel besser, oder?“ Sie nickte zögernd.
    „Und fühlen Sie sich in der Lage, mir zu erzählen, was geschehen ist?“ Hätte es noch einen weiteren Stuhl in diesem Zimmer gegeben, hätte er sich einfach neben sie gesetzt und gewartet, so blieb er neben ihr stehen, sah auf sie hinunter und drängte sie nicht.
    Celia starrte vor noch immer vor sich hin, ohne wirklich etwas zu sehen. Sie wusste selbst nicht genau, warum sie ihn angerufen hatte. Aber ihr war niemand eingefallen, dem sie in ihrer Situation mehr vertrauen würde. Gut, da war noch Mara. Doch ...., nein, ...., nein, sie konnte es nicht erklären, aber wann immer sie Mara ansah, fühlte sie nur Kälte hinter ihrem freundlich unverbindlichen Lächeln, als besäße sie keinerlei Emotionen. Sie unternahm auch nicht gerade die größten Anstrengungen, ihr dabei zu helfen, ihr Gedächtnis wiederzufinden. Als wäre das gänzlich ohne Bedeutung!
    Waren ihr solche Sachen auch früher schon passiert?
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    [/B][/B]Sie hob den Kopf und riskierte einen Blick in ihre Richtung. Mara stand abwartend in der Tür und beobachtete sie. In ihren Augen lag ein, nein, sie musste sich irren, ein lauernder Blick, als wäre sie diesmal wirklich begierig darauf, zu hören, was sie zu sagen hatte. Celia begann sich unwohl zu fühlen. Und Nicolas schien das zu spüren. Er drehte sich zu Mara um und sagte:
    „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Miss Banning, würde ich mich gern mit Ihrer Freundin allein unterhalten.“
    Mara verzog keine Miene. „Wie Sie meinen, Doktor.“ Sie warf die Tür ein wenig zu laut hinter sich zu, um ihren Gleichmut glaubhaft erscheinen zu lassen. Nick blieb davon unbeeindruckt.
    „Ist es Ihnen so angenehmer?“
    Seine verständnisvolle Art tat Celia wohl. Es würde sie zwar immer noch Überwindung kosten, aber sie beschloß, ihm dennoch die Wahrheit zu erzählen. Zumindest soviel wie möglich.
    „Würden Sie wohl mit mir kommen, Dr. Blandfort?“ fragte sie leise. „Ich möchte Ihnen gerne etwas zeigen.“
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  • Sie stand auf und stützte sich, da ihr immer noch leicht schwindlig war, dankbar auf seinen hilfreich entgegengesteckten Arm. Dann ging sie mit ihm gemeinsam hinüber in ihr Atelier und blieb vor der Staffelei mit dem fertigen Bild stehen.
    „Das hab ich in den letzten zwei Tagen gemalt.“
    „In zwei Tagen?“ Nick war ehrlich verblüfft und unterzog ihr Werk einer genaueren Betrachtung. „Was stellt es dar?“
    „Ich weiß es nicht.“ Ratlosigkeit lag über ihrem Gesicht.
    „Haben Sie denn gar keine Vorstellung davon?“
    „Nein!“ erwiderte sie traurig. „Ich weiß nur, dass diese Dinge schon seit dem Krankenhaus in meinem Kopf herumspuken, dass ich sie kenne, nein, sie sind mir vertraut, weit mehr als das Bild der Person, die ich morgens im Spiegel sehe.“


    Während sie weitersprach, von ihren Träumen erzählte und dass sie glaube, die Statue darin gesehen zu haben, wurde Nicks Aufmerksamkeit mehr und mehr von dem Bild gefesselt. Aber nicht so sehr die sie faszinierende schwarze Statue zog seinen Blick auf sich, sondern das Grab im Vordergrund. Ein ganz normaler Stein mit einem Kreuz, so schien es jedenfalls, aber dennoch ... Es war unmöglich, es konnte nicht sein, aber je länger er darauf starrte, desto mulmiger wurde ihm, desto weniger Zweifel blieben übrig, selbst wenn er keine Erklärung dafür fand. Denn es stimmte einfach alles, selbst die Farbe der Blumen und das kleine, verschlungene B auf dem Kreuz. Die Geschichte wurde immer rätselhafter. Und er musste dem Ganzen auf den Grund gehen. Das nahm er sich fest vor.
    Nach einer Ewigkeit, so schien es ihm jedenfalls zwang er sich, den Blick von dem Bild zu lösen. „Was genau ist vorhin passiert?“
    Ganz ruhig hatte er die Frage gestellt, und als sie ihm nun stockend anfangs, aber zunehmend flüssiger ihr Erlebtes schilderte, hörte er ihr genauso ruhig und ohne Zwischenfragen zu stellen zu.


    Er glaubte zwar nicht daran, dass es sich tatsächlich so zugetragen hatte, das war ja wissenschaftlich völlig undenkbar, denn sie stand unverletzt vor ihm, aber für sie war es real gewesen, das sah er deutlich. Ihre Stimme begann zu zittern, Tränen rollten wieder wieder über ihre Wangen, als sie die schrecklichen Minuten in Gedanken noch einmal durchlebte.
    „Gerade als ich dachte, ich würde in den Flammen umkommen, war auf einmal alles verschwunden. Ich lag auf dem Teppich, meine Haut brannte, meine Lippen bluteten, aber im Zimmer war alles vollkommen normal, die Sonne schien durchs Fenster, der Kamin war aus. Und Mara stand direkt vor mir und rief meinen Namen. Ich kann mir das doch nicht alles eingebildet haben, wie Mara sagt. Ich ....“ Sie brach ab, von der Stimme, die sie gerufen hatte, sagte sie nichts. „Hab ich es mir eingebildet, Doktor? Habe ich Halluzinationen?“ Zwei angstvolle Augen flehten ihn regelrecht an, ihr zu widersprechen. Also schüttelte er den Kopf, auch wenn ihm das Ganze selbst etwas unheimlich erschien.
    „Ich glaube, Sie haben sich ein wenig übernommen!“ meinte er in sanft tadelndem Ton. „Zwei Tage nichts als malen, kaum Schlaf, wie Miss Banning mir sagte. Nach dem Unfalltrauma brauchen Sie aber Ruhe, sehr viel Ruhe. Kein Wunder, dass ihr Körper sich dafür rächt.“


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    [/B]„Es ist ja nur, dass ich, ... ich möchte nicht schlafen,..., weil, ....“ Schon wieder glitzerten Tränen in ihren Augen. „Diese Träume, ...“ schluchzte sie, „...sie werden schlimmer, realer. Ich habe immer wieder das Gefühl, als wäre ich mitten drin in dieser komischen Welt, und das nicht nur im Schlaf, auch wenn ich längst wach bin. Schon im Krankenhaus und jetzt auch hier. Ich seh in den Spiegel und statt meines eigenen Bildes, seh ich dieses Mädchen. Und das Verrückte ist, ich bin dieses Mädchen, obwohl ich weiß, dass es gar nicht sein kann. Und das heute früh, das kann einfach nicht normal sein. Ich,...., ich hab so schreckliche Angst, dass ich, ...“
    „Den Verstand verliere?“ beendete er den Satz für sie.
    „Ja!“ flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme. Er konnte gar nicht anders. Es war ihm unmöglich, jetzt nur dazustehen und ihr eine medizinische Erklärung abzugeben, über Albträume und die seltsamen Bilder, die ein Gehirn manchmal erzeugte, wenn es versuchte, seine Erinnerungen wiederherzustellen. Stattdessen zog er sie ein wenig unbeholfen in seine Arme, sie legte den Kopf auf seine Schulter, und er ließ sie leise vor sich hin weinen. Dass sein Shirt dabei nach und nach durchnässt wurde, störte ihn nicht.
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    [/B]Erst als er spürte, wie ihre Tränen langsam versiegten, schob er sie sacht von sich, ohne sie jedoch loszulassen. Sie in den Armen zu halten, war ein wunderbares Gefühl. Ein Gefühl, das sie zu teilen schien, denn sie hob ihr tränenfeuchtes Gesicht zu ihm hoch und lächelte ihn verhalten an.
    „Es wird alles wieder gut, Celia!“ Seine Stimme krächzte und er merkte es nicht einmal, dass er sie beim Vornamen genannt hatte.
    „Ja Nicolas.“ stimmte sie ihm zu, ihr Lächeln vertiefte sich, ihre eben noch so traurigen Augen begannen wieder zu strahlen. Er konnte den Blick nicht von ihr wenden. Er versank in diesem klaren Ozean, ließ sich fallen, und die Welt um sie herum hielt den Atem an. Nur ein paar Sekunden wurden zu einer Ewigkeit.
    Tiefe Stille lag über dem Zimmer. Nichts war mehr zu vernehmen außer ihrer beider Herzschlag.
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    [/B]Es zog ihn zu ihr, mit aller Macht, unwiderstehlich. Seine Hand berührte zärtlich ihre Wange, wischte streichelnd die Tränen fort, ihr Gesicht kam immer näher. Ihre Augen lockten, ihr Mund lud ihn ein, ... Nick konnte nicht mehr denken, er wollte es nicht mehr, er fühlte nur noch die tiefe Vertrautheit mit ihr, unerklärlich, unmöglich, doch was kümmerten ihn Erklärungen. Jetzt in diesem einen, kostbaren Moment! Er schloß die Augen, senkte den Kopf herab, berührte ihre Lippen und spürte, wie ein leises Zittern ihren Körper erbeben ließ, ein sanfter Schauer, der auch über seinen Rücken lief, als sie den Kuss erwiderte. Bilder schossen durch seinen Kopf, in atemberaubender Geschwindigkeit raste er durch das Universum, vorbei an tausenden von Sternen und Planeten, mit ihr an seiner Seite. Und sie lachte, lachte aus vollem Halse, befreit von allen Ängsten und glücklich, so glücklich wie er selbst.
    Nur ganz langsam gelang es ihm, sich von ihr zu lösen. Der Rausch verflog, und ....
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    [/B]„Es tut mir leid!“ murmelte er heiser, trat ein paar Schritte zurück und wandte sich ab. „Ich glaube, es wäre besser, wenn ich jetzt gehe, ... Miss Moreau.“
    Er spürte ihren fragenden Blick in seinem Rücken, hörte deutlich ihre Verwirrung, der seine in nichts nachstand. „Miss Moreau? Wieso nicht Celia? Wieso tut es dir leid, und warum willst du gehen, ... so plötzlich?“
    Er holte tief Luft, setzte zu einer Erklärung an und stockte, als ihm die Worte fehlten.
    „Nicolas?“ Die ängstliche Ungewissheit in ihrer Stimme war schon fast zu viel für ihn.
    „Es tut mir leid! Das hätte nicht passieren dürfen.“
    „Aber warum denn nicht?“
    „Weil du dein Gedächtnis verloren hast.“ platzte er nach erneutem Schweigen heraus und kehrte zum vertrauten Du zurück. „Du bist so verletzlich deshalb, das kann und will ich nicht ausnutzen. Du könntest längst einen anderen lieben, jemanden, den du im Augenblick nur vergessen hast.“ Gott, warum quälte ihn dieser Gedanke derart?
    „Mara sagt aber, es gibt niemanden.“ widersprach sie ihm leise, doch bestimmt.
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    [/B]Er drehte sich zu ihr um und wünschte sich sofort, es nicht getan zu haben. Ein Blick in ihre traurigen Augen ließ ihn schon beinahe wieder alles vergessen. Ganz energisch rief er sich zur Ordnung.
    „Vielleicht hast du ihr nicht alles erzählt. Du weißt doch gar nicht, wie eng euer Verhältnis wirklich war.“
    „Das stimmt!“ gab sie zu. „Nur, wir haben es doch beide gefühlt, eben. Und selbst wenn ich sonst nichts weiß, aber das schon. Ich habe noch nie etwas ähnliches erlebt. Und ich kann einfach nichts falsches daran finden.“
    „Du weißt nicht, was du da sagst.“ flüsterte er schon wieder heiser.
    „Ich habe mein Gedächtnis verloren, Nicolas, nicht meinen Verstand. Das hast du ... vor ein paar Minuten .... selbst gesagt.“
    Er gab sich wirklich alle Mühe, er kämpfte verzweifelt, gegen das Bitten in ihren Augen, gegen sein eigenes Herz, für und gegen seine Vernunft. Doch es war aussichtlos. Er verlor. Und er bedauerte es nicht einmal.
    Als er ihr die einzelne Träne von der Wange wischte, war es schon zu spät. „Es ist der falsche Zeitpunkt.“ Er flüsterte noch immer. „Es geht alles viel zu schnell.“
    Sie lächelte und schmiegte sich in seine Hand.
    „Es gibt keinen richtigen oder falschen Zeitpunkt. Es geschieht, wenn es geschieht und wir haben alle Zeit der Welt.“

    Sie glaubte, was sie sagte, und er glaubte ihr. Doch niemand von ihnen sah den Schatten, der sich längst über die Sonne gelegt hatte, ein Schatten, der neidisch auf ihr Glück, gierig die Hand nach ihnen ausstreckte.
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  • ***



    In aller Eile, völlig vergessend, dass sie über andere Fortbewegungsmittel verfügte, hastete Alyssa die Stufen zur Galerie der Großen Halle im Tempel der Ewigkeit hinauf. Wäre sie noch ein lebendiger Mensch, sie würde jetzt keuchend nach Atem ringen, so schnell war sie gelaufen, ja gerannt. Aber ihre Neuigkeit duldete auch keinen Aufschub.
    „Herrin?“
    Vorsichtig näherte sich Alyssa der Frau, die in Gedanken vor einem Porträt stand und an ein paar frischen Blumen herumzupfte. „Herrin?“ wiederholte sie etwas lauter, als sie keine Antwort erhielt und kam noch näher. „Zaide! Bitte!“

    „Was gibt es denn so Wichtiges, dass es nicht noch ein paar Minuten warten könnte?“ Alyssa erschrak über den müden Tonfall ihrer Gebieterin. Wo war ihre Stärke, ihre Entschlossenheit?
    „Eine Nachricht ist gekommen,“ verkündete sie leise, „..., aus dem Ratstempel.“
    „So!?“ Nur einen Moment hielt Zaides Hand inne. „Und was will Reshanne von mir?“
    „Ihr werdet aufgefordert, vor dem Rat zu erscheinen, Herrin.“ Alyssas Stimme war zu einem Flüstern herabgesunken und zitterte aus Furcht vor der Bedeutung dieser formellen Ladung durch die Herrscherin. Zaide hingegen schien diese Furcht nicht zu teilen. Noch immer kümmerte sie sich hingebungsvoll um die Blüten.
    „Nun, das haben wir doch erwartet, nicht wahr?“
    „Ja, Herrin. Doch was werdet ihr jetzt tun?“


    Zaide blickte hoch und sah zu dem Bild hinauf. „Gehen natürlich. Eine Weigerung kommt nicht in Frage, ich will es auch nicht. Schon ihretwegen nicht.“
    Zaide seufzte, während sie in die leuchtenden Augen des Mädchens sah, das sich selbst auf ihren Wunsch hin gemalt hatte. Das war noch vor der Initiation. Wie glücklich war sie da noch gewesen!
    Nach dem Ritual, nachdem sie ihr von ihrem Vater erzählt hatte, waren die Fragen gekommen, immer neue und neue. Und sie, Zaide, hatte geantwortet, so gut es eben ging, ohne ihr die ganze Wahrheit zu enthüllen. Vielleicht hat Reshanne ausnahmsweise recht und sie hätte ihr alles erzählen müssen, vielleicht irrt sich Reshanne auch, und sie hatte ihr schon zuviel erzählt.
    „Warum bist du nur weggelaufen?“ rief Zaide laut und ihr Schmerz war unüberhörbar.
    Hatte sie die Zeichen übersehen? Ihre Gedanken schweiften zurück, zu dem Tag des großen Festes, das man zu Ehren ihrer Aufnahme in die Kaste gefeiert hatte.


    Nachdem sie von dem Fest zurückgekommen waren, hatte sie das Mädchen vor dem kleinen Seitentempel an der hinteren Mauer vorgefunden. Er war ein Ort der Stille, der sie, daran erinnerte sich Celia genau, schon als Kind gleichzeitig angezogen und geängstigt hatte.
    „Was tust du denn hier, Kind?“ fragte Zaide, die normalerweise als Einzige hier Zutritt hatte, und blieb hinter ihr stehen.
    „Warum sind es drei?“
    „Wie bitte?“
    „Warum sind es drei Sarkophage?“ wiederholte Celia ihre Frage trocken. „In den beiden rechts und links liegen die sterblichen Körper von Semira und Alyssa, solange sie in deinen Diensten stehen. Und sie vergehen erst, wenn du sie entlässt. DAS weiß ich. Aber wozu der dritte? Du hattest doch immer nur zwei Dienerinnen.“
    Zaide überlegte kurz. Im Grunde hielt sie es nicht für den geeigneten Zeitpunkt, sie war noch zu verwirrt, aber Celia würde ohnehin keine Ruhe geben, bis sie ihr eine Antwort gab. „Ich konnte deinen Vater nicht retten, damals“ begann sie, während Celia ihr weiterhin den Rücken zukehrte und den steinernen Sarkophag anstarrte. „Ich konnte auch seine Seele nicht hier behalten, wie Alyssas, denn ich war nicht hier, als er starb, ich konnte nur eines tun...“
    „...du hast ihn hergebracht.“ vollendete Celia ihren Satz.
    „Ja“ bestätigte Zaide und fügte hinzu. „Sein Grab auf dem Familienfriedhof ist leer.“


    Zaides Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. „Seit dem Tag hat sie sich verändert, wurde still und grübelte. Weißt du Alyssa, langsam glaube ich, sie hat mir die Geschichte mit der Cholera nicht geglaubt. Vielleicht ist sie weggelaufen, weil sie irgendwie die Wahrheit herausgefunden hat, oder etwas, das sie für die Wahrheit hielt.“
    „Die Wahrheit, Herrin, aber das war doch die Wahrheit.“ Alyssa musterte Zaide erschrocken.
    „Nein!“ sagte diese und zog sie ganz nah an sich heran. „Das war es nicht. Und auch deswegen werde ich jetzt in den Rat gehen.“
    „Um Himmelswillen, was sagt Ihr denn da?“
    „Hör mir zu, Alyssa. Ich weiß, ich hatte Eure weitere Hilfe abgelehnt. Aber die Sache entwickelt sich nicht so, wie ich es gehofft hatte. Es ist möglich, dass ich dich, wenn ich zurückkehre, um etwas bitten muss, etwas sehr Gefährliches. Ich tu es nicht gern, aber vielleicht bleibt uns keine andere Wahl.“


    +


  • Derweil wurde die Wächterin Marhala von ihrer Gebieterin in deren Privatpavillon im Ratstempel mit den Worten: „Du kommst sehr spät!“empfangen.
    „Vergib mir, doch ich musste warten, damit sie keinen weiteren Verdacht schöpft. Sie ist schon misstrauisch genug.“
    „Du hast mich wissen lassen, es sei dringend. Was ist geschehen.?“
    „Mehrere Dinge, Gebieterin. Und ich befürchte, sie werden Euch nicht gefallen.“
    „Wieso? Erinnert sie sich wieder?“
    „Noch nicht. Aber es wird nicht mehr lange dauern, glaube ich.“
    Reshanne schloss die Augen und holte tief Luft.



    Sie setzte sich auf eine Bank und wies auf den Platz neben ihr.
    „Berichte!“
    Und Marhala erzählte. Von dem Bild, das Celia gemalt hatte, auf dem eindeutig die schwarze Statue der Großen Mutter aus dem Tempel der Ewigkeit zu sehen war, von ihren Träumen, den unerklärlichen Kopfschmerzen, die sie immer wieder überfielen, und von dem Feuer, das ihren Körper erfasst, aber keine Spuren hinterlassen hatte.
    Reshanne wurde kreidebleich.
    „Du hast es gesehen?“ fragte sie atemlos und Marhala nickte bestätigend.
    „Ja, sie hat gebrannt. Doch es war nicht real. Niemand außer mir hätte es wahrgenommen.“


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    [/B]„Sein Einfluss ist schon stärker, als ich dachte.“ Reshanne sprach mehr zu sich selbst, als zu der Wächterin, weshalb diese auch nicht antwortete. „Eine seiner stärksten Kräfte war die Macht der Suggestion. Er hat die Menschen, und nicht nur die, dazu gebracht, die furchtbarsten Dinge zu sehen, obwohl sie gar nicht existierten.“
    „Ihr glaubt, er hat die Kraft auf sie übertragen?“ Marhala wirkte skeptisch.
    „Oh ja, das hat er. Vielleicht nicht mit Absicht, aber er hat.“
    „Aber sie war doch das Opfer?“
    „Noch, Marhala, noch! Solange sie sich nicht erinnert, kann sie ihre Kräfte nicht kontrollieren, und wenn sie ausbrechen, richten sie sich auch gegen sie selbst. Nur wie lange noch? Das ist die Frage. Bald werden wir keine Möglichkeit mehr haben, sie in der Menschenwelt zu halten.“
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    [/B]„Vielleicht doch, Herrin!“
    „Wie meinst du das?“
    „Sie scheint mir Gefühle für einen Menschen zu entwickeln, für den Arzt, der sie im Krankenhaus behandelt hat.“
    „Sie hat sich verliebt? In einen Menschen?“ Reshannes erster Gedanke war: Nicht schon wieder! Aber dann hellte sich ihre Miene auf. Welch fantastische Möglichkeit bot sich ihr hier. Was gäbe es für einen besseren Grund, ihre Kräfte aufzugeben, als bei dem Mann zu bleiben, den sie liebte. Sie wäre nicht die erste Elo-i.
    Marhala beobachtete Reshanne aufmerksam. Sie wusste, was in deren Kopf vorging. Und sie hoffte, dass die Gebieterin recht behielt. Andernfalls hätte sie erneut einen furchtbaren Auftrag zu erfüllen.
    Nun gab es eine Möglichkeit, Marhalas Vermutungen zu überprüfen, und Reshanne beschloß, sie zu benutzen.
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    [/B]Zaide erhob sich und befahl der Wächterin, sie einen Augenblick allein zu lassen, während sie vor den großen Spiegel trat. Rein äußerlich gesehen, handelte es sich tatsächlich nur um einen Spiegel. Und für jeden anderen, sei er nun ein Elo-i, Chayi, Benda oder Mensch wäre er es auch. Nur die Herrscherin vermochte seine Macht zu beschwören, sich über diesen Spiegel an jeden Ort der Welt zu versetzen, alles zu sehen, was sie zu sehen wünschte, alles zu hören, was sie zu hören wünschte. Es hatte Herrscherinnen gegeben, die den Pavillon nicht mehr verlassen hatten, weil sie den ganzen Tag vor dem Spiegel gesessen und den Lauf der Welt beobachtet hatten. Reshanne gehörte nicht zu ihnen, nur jetzt wünschte sie sich nicht zum erstenmal, sie hätte ihn öfter benutzt, vor allem ganz am Anfang.[B][B]


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    [/B]Sie richtete ihre Gedanken fest auf den Ort, an dem Celia sich befinden musste, ließ ihre Energie in den Spiegel übergehen, der ihre Autorität anerkannte, sich langsam in einen feinen Nebel hüllte, der immer heller und heller wurde, während rings umher das Licht erlosch und die Nacht hereinbrach. Schließlich lichtete sich der Nebel, ein Raum wurde sichtbar, Bilder und die Gestalt eines Mädchens, das abrupt stehen blieb und genau in ihre Richtung zu blicken schien. Das war natürlich gänzlich unmöglich. Denn wenn Reshanne auch ihr eigenes Abbild immer noch im Spiegel sah, für die Augen anderer war sie unsichtbar. Doch offenbar nicht für sie. Das Mädchen rührte sich nicht, wandte den Blick nicht von der Stelle, an der sich Reshannes Abbild befand.
    „Wer sind Sie?“ flüsterte sie dann halberstickt.
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    [/B]Reshanne fuhr zurück. Nein! Wer weiß, was die Fantasie diesem Kind vorgegaukelt hatte. Doch als sie selbst erneut in den Spiegel sah, erschrak sie fast zu Tode. Ihr eigenes Spiegelbild wurde immer dunkler und dunkler, als würde sich ein Schatten über sie legen. Celias Körper dagegen verwandelte sich vor ihren Augen in eine schmale um sich selbst wirbelnde Sandsäule und zerfiel am Ende zu Staub.
    „Aber, aber!“ hörte sie eine Stimme, die eindeutig aus dem Spiegel zu kommen schien. „Genügt es nicht, dass du deine Spionin zu ihr geschickt hast? Glaubst du, wenn du selbst erscheinst, würdest du mehr erreichen, Reshanne?“
    „Wer bist du?“ rief die Herrscherin, obwohl sie es längst wusste.
    „Gib auf, Reshanne!“ verlangte die Stimme. „Sie gehört mir, schon seit dem Tag ihrer Geburt. Daran kannst du nichts mehr ändern. Gar nichts!“
    „Du irrst, ich werde dich aufhalten. Du wirst nicht gewinnen, niemals!“
    Die Stimme lachte in der Gewißheit ihrer Ohnmacht, lachte und lachte. „Wir sehen uns, Reshanne, bald!“ versprach sie, bevor sie verging und die Herrscherin in furchbarem Entsetzen zurückließ.
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    [/B]Reshanne wartete, bis sie sich wieder so weit gefasst hatte, um Marhala ohne eine Gefühlsregung entgegentreten zu können. Sich ihr Entsetzen anmerken zu lassen, wäre einer Herrscherin unwürdig gewesen.
    „Der Herr der Finsternis ist zurück.“ verkündete sie daher ruhig. Die Wächterin zuckte nicht einmal zusammen.
    „Wie lautet Euer Befehl?“
    „Noch bekommst du keinen neuen. Kehre zurück und beobachte. Aber mache dich bereit, zu handeln, schnell zu handeln, wenn es sein muss.“
    „Und was werdet Ihr tun?“
    Reshanne schwieg einen Moment. Sie dachte an ihre Schwester, daran, dass niemals wieder Frieden herrschen würde zwischen ihnen beiden, nie würde sie ihr das verzeihen. Doch zum Wohle aller musste es sein.
    „Ich werde mit den anderen Ratsmitgliedern versuchen, einen Weg zu finden, ihn aufzuhalten. Und wenn uns das nicht gelingt, wird uns nichts anderes übrigbleiben, um die beiden Welten vor der Vernichtung zu retten.“ Eiserne Entschlossenheit lag auf ihren Zügen, als sie die Wächterin nun ansah. „Dann wirst du Celia töten.“
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    +++
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  • ***

    Es war kein leichter Gang, dem sich Reshanne gegenübergesehen hatte, als sie die Mitglieder des Rates zu dieser Sondersitzung einberief. Aber es wurde Zeit, dass sie ihnen endlich reinen Wein einschenkte. Sie mussten über die Bedrohung ihrer Welt informiert werden, vor allem jetzt, wo der Herr der Finsternis es wagte, wieder offen aufzutreten.

    Zunächst herrschte in dem kleinen Kreis vollkommenes betretenes Schweigen. Verständlich, angesichts ihrer Eröffnungen.
    „Er muss sich schon sehr sicher fühlen, wenn er es wagt, in die Macht des Spiegels einzugreifen.“ gab Daria zu bedenken. „Und er muss Kräfte erworben haben, die ihm nicht zustehen, sonst wäre ihm das gar nicht erst gelungen.“ Sie blickte mit ernstem Gesicht in die Runde und schüttelte schließlich den Kopf. „Ich begreife Zaide nicht. Wie konnte sie sich mit ihm einlassen, ausgerechnet mit ihm! Und wofür das alles? Für das Kind eines Menschen?“
    Ihrer eher dahin geworfenen Frage folgte zunächst erneutes Schweigen, bevor sie alle mehr oder weniger durcheinander zu reden begannen.


    Sie steigerten sich derart in die fruchtlose Diskussion hinein, dass Zardon schließlich von seinem Platz aufsprang und entnervt rief: „Das führt doch alles zu nichts. Was geschehen ist, ist geschehen. Und wir können es nicht mehr ändern. Wichtiger ist, dass wir diesen vermessenen Abtrünnigen aufhalten, bevor es ihm diesmal wirklich gelingt, seine Pläne in die Tat umzusetzen.“
    Daria sah verwundert zu ihm auf. „Was meinst du denn mit diesmal?“ Selbst Reshanne wirkte erstaunt, doch sie konnte ihn nicht mehr befragen, denn er machte sie darauf aufmerksam, dass sie nicht mehr allein waren. Unbemerkt von ihnen allen, hatte Zaide den Ratssaal betreten.


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    [/B]„Du hast mich rufen lassen, Reshanne.“ Die Herrin der Seelen warf sich nicht zu Boden, noch erwies sie der Herrscherin in einer anderen Form die Ehre. Aufrecht blieb sie vor ihr stehen, nickte nur den anderen Ratsmitgliedern kurz zu, bevor sie den Blick fest auf Reshanne richtete und wartete. ‚Sie wirkt kein bißchen schuldbewusst’ dachte Zardon, während er sie musterte. ‚Dabei hätte sie allen Grund dazu.’ Alle hielten gespannt den Atem an und warteten auf Reshannes Reaktion. Die aber dachte nicht daran, sich durch Zaides Verhalten provozieren zu lassen. Nach dem zu urteilen, was Marhala ihr erzählt hatte, musste es ihrer Schwester irgendwie gelungen sein, sich Zutritt zu Celia zu verschaffen, trotz ihres ausdrücklichen Verbotes.
    „Dir dürfte doch klar sein, weshalb du vor den RAT geladen worden bist. Ich hatte dich gewarnt, dass du dich würdest verantworten müssen, für deine Taten. Du hast unsere Gesetze gebrochen, dich Anweisungen widersetzt und uns alle in Gefahr gebracht. Was hast du dem Rat dazu zu sagen?“
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    [/B]„Ich habe nur getan, was jede Frau getan hätte, sei sie nun Mensch, oder Elo-i. Ich habe meine Tochter beschützt, ... vor dir!“ Reshanne wurde bleich, Xyros schluckte, Zardon war verblüfft und Daria außer sich.
    Nur Zaide blieb ruhig und gefaßt. Ihr Blick wanderte von Reshanne zu dem neben ihr sitzenden Zardon. Er war das älteste Ratsmitglied, der Einzige unter ihnen, der bereits damals dem Rat angehörte, damals, als Varik den Rat verließ, als Reshanne überraschend zur neuen Herrscherin berufen wurde, wodurch ihr ganzes Glück zusammenbrach.
    Damals! Ihre Gedanken schweiften ab, wanderten zurück in die Vergangenheit. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, ein Lächeln, das um so merkwürdiger wirken musste, als um sie herum nach ihrer ungeheuerlichen Behauptung eine neuerliche Diskussion ausgebrochen war.
    Sie hatte die Welt der Elo-i verlassen, war bereit, seinetwegen auf alles zu verzichten, das ihr ganzes Leben bis dahin ausgemacht hatte. Aber war er das nicht wert gewesen? Der Ratstempel verschwamm vor ihren Augen, sie kehrte zurück nach England, zurück zu ihm, zu Adrian.
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    [/B]„Träumst du?“ fragte er leise, während sie im Garten von Landsdown Hall, dem alten Landsitz seiner Familie auf einer Bank in seinen Armen lag.
    „Ja, ich glaube schon.“ antwortete sie ebenso leise, als wolle sie die friedliche Stille des Nachmittags nicht durch ein unbedacht lautes Wort stören. Die Vögel zwitscherten, die Blüten der Sträucher rings um die kleine Laube erfüllten die Luft mit ihrem betörend süßen Duft.
    Er zog sie noch näher an sich heran. „Und wovon träumst du?“
    „Von uns, von dir und mir. Lass mich weiter träumen.“ Sie lehnte den Kopf an seine Schultern und war im Begriff, die Augen zu schließen, als er sich nach vorn beugte und sie ansah.
    „Warum muss es ein Traum sein? Warum nicht Wirklichkeit?“
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    [/B]Sie seufzte. „Wir wissen doch beide, dass es für uns kaum eine Chance gibt, dass wir zusammenleben können. Vor allem jetzt nicht, wo dein Vater gestorben ist, und du seinen Titel geerbt hast. Ein Viscount Landsdown kann schließlich keinen Niemand heiraten.“
    „Wer sagt das?“
    „Deine Familie zum Beispiel.“ Er schmunzelte.
    „Da sieht man es. Du kennst meine Familie nicht. Meine Mutter wird dich lieben, das weiß ich. Alles, was sie sich für mich und Cassandra wünscht, ist, das wir glücklich werden. Und ich bin glücklich, ..., mit dir. Was den Rest der Familie betrifft. Sie werden sich mit meiner Wahl abfinden müssen. Ich bin das Oberhaupt. Sie können mir keinerlei Vorschriften mehr machen.“
    Er drehte sich zu ihr und schloß sie fest in seine Arme.
    Nach ein paar Minuten, in denen er sie fest und innig an sich gedrückt hielt, sprang er auf, zog sie dabei mit sich nach oben und ging anschließend vor ihr auf die Knie.
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    [/B]„Adrian, was tust du denn da?“
    „Ich beweise dir, wie ernst es mir ist.“ Er kramte kurz in seinen Taschen herum und fluchte leise, weil er nicht gleich fand, wonach er suchte. „Ich trage das jetzt schon eine Weile mit mir herum, wollte auf den richtigen Moment warten, aber irgendwie ist der nie gekommen. Bis jetzt.“
    „Der richtige Moment wofür?“
    „Dafür!“ Er streckte ihr seine Hand entgegen und öffnete sie. Ein schmaler Goldreif, gekrönt von einem blitzenden hellblauen Stein lag darin.
    „Adrian!“ Halberstickt vor Überraschung glich dieser Schrei eher einem Flüstern.
    „Ich will nicht, dass du dir länger irgendwelche Sorgen machst, ich möchte, dass du lachst, weil ich dein Lachen liebe. Ich möchte dich an meiner Seite haben, du sollst das Letzte sein, was ich vor dem Einschlafen sehe und das Erste, wenn ich morgens erwache. Ich möchte dir zuhören, wie du mir zuhörst, dir helfen, wie du mir hilfst, dich glücklich machen, so wie du mich. Bitte, erweise mir die Ehre, meine Frau zu werden!“
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    +
    [/B][/B][/B][/B][/B]


  • Sie beschlossen, nicht zuletzt aufgrund seiner Ungeduld, nicht erst das Ende des Trauerjahres für Adrians Vater abzuwarten, sondern sich in aller Stille in der kleinen Hauskapelle auf Landsdown Hall trauen zu lassen. Seine Mutter und seine Schwester befanden sich noch immer in Amerika. Adrian zog also nur Father Gilroy ins Vertrauen, der das junge Paar mit einem gewissen Wohlgefallen betrachtete, als es vor ihm Platz nahm.
    Noch an der Tür hatte sie ihn, im Hochzeitskleid seiner Mutter, gefragt, ob er sich denn wirklich sicher sei. Statt einer Antwort war er hinter sie getreten und hatte ihr eine Kette um den Hals gelegt, mit einem wunderschönen Anhänger. „Mein Vater schenkte ihn meiner Mutter zur Hochzeit, sie gab ihn mir für meine Frau. Ja, ich bin mir sicher!“
    Und dann lauschten sie den andächtigen Worten des Pfarrers, der sie an die Heiligkeit der Ehe erinnerte, sie ermahnte, ihr Gewissen zu erforschen und die Geheimnisse ihrer Herzen, auf dass ihrer Heirat nichts entgegenstünde.


    Für einen Moment hatte sie daran gedacht, Adrian die Wahrheit über ihre Herkunft zu sagen, jetzt und hier, bevor sie sich mit ihm verband. Irgendwie glaubte sie ihm das schuldig zu sein. Doch würde er es verstehen, würde er es glauben? Konnte es überhaupt ein Mensch glauben? Father Gilroy hatte sie gebeten, sich zu erheben, um das Gelöbnis zu sprechen. Sie senkte den Kopf und lauschte Adrians Worten, mit denen er ihr noch einmal seine Liebe erklärte, seinen festen Willen, sein Leben mit ihr zu teilen, sie zu beschützen.
    ‚Und ich werde dich schützen, ich werde die Ruhe deines Gewissens nicht stören und deinen Glauben an die Weltordnung nicht erschüttern.’ gelobte sie im Stillen, als sie sich den schweren Goldreif überstreifen ließ.



    Er ergriff ihre andere Hand und hauchte in seligem Entzücken einen Kuß darauf.
    „Ihr seid nun an der Reihe!“ Father Gilroy nickte ihr aufmunternd zu.
    Sie hielt seine Hand, sah ihm in die Augen, seine wunderschönen grauen Augen, die nur manchmal, wenn die Sonne sich in ihnen spiegelte, bläulich zu schimmern begannen, und die sie jetzt so voller Liebe und Vertrauen ansahen. Niemals zuvor hatte sie soviel Glück empfunden, soviel inneren Frieden. Und davon sprach sie, als ihm nun die Treue schwor, nicht bis in den Tod, sondern in die Ewigkeit hinein.
    Father Gilroy segnete sie, erklärte sie vor seinem Gott zu Eheleuten. Und dann ... verstand sie zum ersten Mal, warum dieser eine Kuss so vielen Menschen im Gedächtnis blieb. Er trug sie in den Himmel empor.
    [B]


    [/B]Ein wundervolles Leben begann. Niemand wusste von ihnen außer dem Personal des Landsitzes. Sie verbrachten jede Minute des Tages und der Nacht gemeinsam, ohne einander müde zu werden. Sie genoß es, das Leben eines Menschen zu führen, ihren Gemahl zu umsorgen und sich von ihm verwöhnen zu lassen. Und sie spürte, wie es in ihrem Volke üblich war, sofort, dass sie schwanger wurde. Niemals würde sie das stolze Leuchten in seinen Augen vergessen, als sie es ihm sagte. In die Arme gerissen hatte er sie, war übermütig mit ihr durch die Flure getanzt, bis sie beide gänzlich außer Atem waren. Am nächsten Morgen, nur einen Monat nach ihrer Hochzeit wurde sie aus ihrem Himmel zur Erde zurückgeschleudert, grausam und unbarmherzig herausgerissen aus ihrem heimlichen Traum. Adrian wurde krank, erst erbrach er sich ständig und fror, dann bekam er Fieber, das ihn zunehmend schwächte. Der herbeigerufene Arzt diagnostizierte mit einiger Überraschung die Cholera, die gleiche Krankheit, die, das erfuhr sie erst später, auch seine Mutter hinweggerafft hatte. Der Doktor riet ihr dringend, die Pflege ihres Gatten anderen zu überlassen, aber sie dachte nicht daran.[B]


    [/B]Das war weit weniger heroisch, als der Arzt glaubte, immerhin konnte diese verfluchte Krankheit ihr nichts anhaben. Damals hatte sie noch keinen Verdacht geschöpft. Damals hatte sie auch noch geglaubt, ihn retten zu können. Bis Daria, die gerade erst Mitglied des Rates geworden war, ihr die Augen geöffnet hatte. Sie durfte nicht helfen, die neue Herrscherin hatte es verboten. Auf diese Weise erfuhr sie von Reshannes Einsetzung. Was sie anfangs für ein Glück gehalten hatte, erwies sich jetzt als Katastrophe. Die eigene Schwester verweigerte ihr jegliche Hilfe, ja sie forderte sie auf, unverzüglich in die Welt der Elo-i zurückzukehren, da sie die Ehe mit Adrian ohne ihre Zustimmung eingegangen sei.
    Doch sie blieb, selbst wenn sie nicht viel mehr tun konnte, als bei ihm zu sitzen, seine Stirn zu kühlen, seine eingefallenen, hitzeglühenden Wangen zu streicheln und tapfer sein verkrampftes Lächeln zu erwidern, das er ihr in seinen wenigen wachen Momenten schenkte.
    [B][B]


    [/B][/B]Am Morgen seines letzten Tages, Father Gilroy war gerade eingetroffen und stand mit betroffener Miene neben ihr am Bett, wurde Adrian noch einmal völlig klar. Es fiel ihm schwer, sich zu bewegen, selbst ein einfaches Drehen des Kopfes bereitete ihm Mühe. Und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Sie musste sich zu ihm hinabbeugen, um ihn zu verstehen.
    „Nicht weinen!“ verlangte er. „Bitte nicht weinen .... ich bin ... glücklich ... das Kind ... denk an ... unser Kind ... gib ihm ... Mutters Anhänger ... wenn ... erwachsen ... geh zu ihr ... sie wird ... helfen.“
    „Schsch. Du sollst dich nicht anstrengen.“ Sie legte ihm den Finger auf den Mund, während sie sich mit aller Gewalt dazu zwang, seinem Wunsch zu entsprechen, obwohl die Tränen längst in ihren Augen brannten.
    „Ich ... liebe ... dich.“ Die Züge seines Gesichts entspannten sich, ein Lächeln umspielte seine Lippen, seine Augen verklärten sich und wurden starr. Adrian Viscount Landsdown starb vier Stunden vor seiner Mutter.
    Sie hörte Father Gilroys leises Gebet nicht, sie sah nicht, wie er Adrian sanft die Augen schloß, sie spürte nicht einmal, wie er sie aus dem Zimmer führte. Eine riesige Leere hatte von ihr Besitz ergriffen, eine Leere, die nicht mehr weichen wollte.
    [B][B][B]


    +

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  • Sie verließ das Haus, ohne sich von jemandem zurückhalten zu lassen, getrieben von einem einzigen Gedanken, ihn im Tempel der Ewigkeit wiederzufinden. Doch sie kam zu spät. Reshanne, die alte Herrin der Seelen und jetzige neue Herrscherin hatte ihn unverzüglich abholen und weiterleiten lassen. Angeblich, um ihr weiteren Schmerz zu ersparen. Aber zum ersten Mal in ihrem Leben glaubte sie der älteren Schwester nicht. Und zum ersten Mal überkam sie dieser furchtbare Verdacht, der sie niemals mehr losließ. Nur widerwillig erzählte sie Reshanne von ihrer Schwangerschaft und erlebte die nächste Überraschung, als diese es grundweg ablehnte, das Kind bei den Elo-i aufwachsen zu lassen. Ein Menschenkind sei es, zu den Menschen gehöre es, dort müsse es bleiben, selbst wenn alles, was dort auf das Kind wartete, der Tod sei.
    Sie kam zurück, mitten in der Nacht, in ihrer wahren Gestalt und erschreckte den Wache haltenden Father Gilroy fast zu Tode. Eine Handbewegung von ihr, und er ignorierte ihre Anwesenheit, selbst als sie den Sarg öffnete, den man für die Überführung am nächsten Tag längst geschlossen hatte.


    Tränenblind starrte sie auf seinen toten Körper hinunter. Das war nun alles, was ihr von ihm geblieben war, von ihrem Traum. War es so falsch gewesen, sich dieses kleine Glück vom Schicksal abzutrotzen? War sie womöglich schuld an seinem Tod? Hatte sie ihn durch ihre Liebe ins Verderben gestürzt?
    „Vergib mir, oh bitte vergib mir!“ schluchzte sie und streichelte seine kalten Hände. Nur Abschiednehmen hatte sie wollen, nur Lebewohl sagen, ihn ein letztes Mal sehen, aber nun, da er vor ihr lag, so friedlich, als würde er nur schlafen, da graute es ihr vor dem Gedanken, ihn der feuchten dunklen Erde zu überlassen. Wenn sie schon zurückkehren musste in ein Leben, aus dem alle Freude gewichen war, dann ...
    Es war ein abenteuerlicher Gedanke, aber einmal gedacht, setzte er sich in ihrem Kopf fest und ließ sich nicht mehr vertreiben.


    [B]

    [/B]Vorsichtig hob sie ihn aus dem Sarg, dank ihrer Kräfte wog er nicht mehr als eine Feder, schlang sich seine Arme um ihren Hals und wandte sich zum Gehen.
    „Sorgen Sie sich nicht, Father.“ bat sie den Priester, nachdem sie den Bann von ihm genommen hatte. Er schlug sich die Hand vor den Mund, um nicht zu schreien, als er sie mit ihren dunklen Flügeln und dem Toten auf dem Arm vor sich stehen sah. „Ich werde ihn mit mir nehmen, in meine Welt, wo er ruhen kann, bis die Ewigkeit uns wieder vereint. Erzählen Sie niemandem von mir, nicht von unserer Ehe und auch nicht von unserer ungeborenen Tochter. Wir werden uns wiedersehen, wenn Ihre Zeit kommt, Father. Leben Sie wohl.“
    Unfähig etwas zu sagen, nickte er nur zum Zeichen seines Einverständnisses. Was hätte er anderes tun können. Sie drückte Adrian fest an sich, schenkte dem immer noch fassungslosen Priester ein letztes trauriges Lächeln und verschwand in einem hellen Licht.
    Father Gilroy hielt sein Versprechen. Nachdem Cassandra ihn vom Tode der Mutter unterrichtet hatte, überführte er den nunmehr leeren Sarg auf ihren Wunsch hin nach Amerika, ohne je ein Wort über ihn und seine geheimnisvolle Ehefrau zu verlieren.
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    [/B]„Wie kannst du es nur wagen, mir so etwas ins Gesicht zu sagen!“ rief Reshanne und holte Zaide in die Gegenwart zurück. Sie war aufgesprungen, und stand ihr, ein Bild ehrlich aufgebrachter Empörung gegenüber. Aber Zaide ließ sich davon nicht beeindrucken.
    „Ich habe nur die Wahrheit gesagt. Jemand musste Celia beschützen. Sie ist meine Tochter und wie alle Kinder der Elo-i, hat sie meine Fähigkeiten und meine Kräfte geerbt. Es spielte keine Rolle, dass ihr Vater ein Mensch war.“
    „Und ob das eine Rolle spielte. Du weißt sehr wohl, dass ein Menschenkind nur dann in unserer Welt bleiben darf, wenn das Erbe der Elo-i in ihm stark genug ist. Und das geschieht nun mal nur sehr selten. Ich durfte sie nur aufnehmen, weil sie die Prüfung bestanden hat, die Prüfung durch den Rat. Und sie hat den Test nur bestanden, weil du Varik gestattet hast, einen Teil seiner Energien auf sie zu übertragen. Damit hast du sie zum gefährlichsten Wesen dieser Welt gemacht. Und du wagst es, mich dafür verantwortlich zu machen?“
    [B][B]

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    [/B]„Ja!“ Jetzt wurde auch Zaide lauter. Wütend funkelte sie ihre Schwester an. „Ja, das wage ich. Denn du bist schuld daran, dass es überhaupt soweit gekommen ist.“
    „Ich weiß gar nicht, was du meinst.“
    „Ich rede von Adrian Landsdown. Von dem Mann, der dir im Wege war, und der deshalb sterben musste.“ Endlich, nach über zweihundert Jahren hatte sie es ausgesprochen, jene furchtbare Wahrheit, die sie seit dem Tage seines Todes quälte. Und sie konnte die Wahrheit auf ihrem Gesicht ablesen, das womöglich noch blasser geworden war.
    „Willst du es immer noch abstreiten? Dass du für seine Krankheit verantwortlich bist, dass du ihn hast sterben lassen, um mich in unsere Welt zurückzuholen?“
    [B][B][B]


    [/B][/B][/B]Noch jemand anders hielt erschrocken den Atem an. Zardon wusste, dass er jetzt eigentlich etwas sagen musste, aber er konnte sich nicht dazu durchringen. Er hätte es schon vor der Initation des Mädchens tun müssen, nein, gleich nach seiner Geburt, zumindest Reshanne hätte er informieren müssen. Aber er hatte geschwiegen, es tief in seinem Herzen vergraben und sich gezwungen, es zu vergessen, bis er sie bei der Initiation zum ersten Mal gesehen hatte. Er spürte ihre Kraft, unbändig und nach oben drängend, kaum zu kontrollieren. Er hatte sich gewundert, wie sie so stark sein konnte, selbst in Anbetracht dessen, was die anderen nicht wussten. Nicht einmal Zaide, die so wutentbrannt vor der Herrscherin stand, wie er sie noch nie erlebt hatte.
    Arme Zaide! Sie war betrogen, hereingelegt worden, von diesem Teufel. Varik hatte genau gewusst, dass Celia seine Energien nicht benötigte, um den Test zu bestehen. Doch warum hatte er es getan? Warum hatte er ein Wesen erschaffen, das womöglich stärker war als er selbst?
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    [/B]„Nun?“ Zaide wartete immer noch auf die Antwort ihrer Schwester.
    „Ja, ich habe Marhala den Auftrag gegeben, Celias Vater zu töten. Ich musste dich zurückholen. Du durftest nicht in der Menschenwelt bleiben, du wurdest hier gebraucht.“
    Zaide reagierte nicht. Sie stand einfach nur da und starrte Reshanne an. Es war einfach unfassbar, sie das aussprechen zu hören. Auch die anderen lauschten still, als die Gebieterin fortfuhr.
    „Ich war nie zur Herrscherin bestimmt, mein Platz war im Tempel der Ewigkeit. Doch als unsere alte Herrscherin Melynne mir so plötzlich ihre Kräfte und ihre Macht übertug, konnte ich meine Aufgaben dort nicht mehr erfüllen. Und du weißt genau, dass nur ein Mitglied der Familie meine Nachfolge antreten konnte. DU!“
    „Du hättest zu mir kommen und mit mir sprechen können.“
    „Du wärest nie freiwillig zurückgekommen. Du hättest ihn nie aufgegeben. Du hast ihn heimlich geheiratet und gewartet, weil du wusstest, dass du dich nach der Geburt deines ersten Kindes frei entscheiden durftest. Niemand hätte dich mehr zur Rückkehr zwingen können, nicht einmal ich.“
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    +++
    [/B][/B][/B][/B]

  • Wie versprochen, geht es heute weiter mit der Geschichte. Wann genau ich dann weitermachen kann, liegt an der Genesung meines Rechners, der zur Zeit gerade seine Operation über sich ergehen läßt. Wünschen wir ihm gute Besserung.
    Und ich schwöre hoch und heilig, dass ich alles sorgfältig abgespeichert habe, hoffe also, bei der Neuinstallation, die sich nicht vermeiden lässt, kann ich alles problemlos überspielen.

    Nun aber mal los (wieder drei Teile):


    Nach Reshannes Eingeständnis standen sich die beiden Frauen eine Weile schweigend gegenüber. Und auch keiner der anderen Ratsmitglieder wagte angesichts der ansgespannten Situation irgendeine Bemerkung.

    „Ich weiß, dass der Verlust dieses Mannes sehr schwer für dich gewesen sein muss.“ begann Reshanne schließlich von neuem und bemühte sich um einen versöhnlich klingenden Tonfall. „Und es tut mir wirklich sehr leid, dass ich es dir nicht ersparen konnte.“
    „Ach ja?!“ fragte Zaide gedehnt und stemmte die Hände in die Hüften.
    „Ja!“ bekräftigte Reshanne. „Ja, es tut mir leid, doch das rechtfertigt noch lange nicht dein Handeln in Bezug auf Celia.“
    „Oh doch, das tut es. Du hast doch wohl nicht allen Ernstes geglaubt, ich würde meine Tochter allein in der Menschenwelt zurücklassen, wo sich niemand um sie hätte kümmern können. Sie wäre gestorben, aber vermutlich hast du auch darauf spekuliert, nicht wahr?“
    „Nein!“ Reshannes Stimme wurde wieder leiser. „Ich hatte eigentlich gehofft, schnell genug gehandelt zu haben.“
    „Und was dir damals nicht gelungen ist, versuchst du jetzt nachzuholen. Nur darum hast du ausgerechnet Marhala zu ihr geschickt, um das Ärgernis auszulöschen!“


    „Aber ich warne dich!" fuhr Zaide fort. "Wenn du das tust, dann sieh dich schon mal nach MEINEM Nachfolger um. Mit mir brauchst du dann nicht mehr zu rechnen." Sie wartete die Antwort der Schwester gar nicht mehr ab, sondern wandte sich ab und verließ die Runde.
    ‚Nein’ dachte sie, während sie im Hintergrund die aufgebrachten Stimmen der Ratsmitglieder hörte. ‚Nein, ich werde dir nicht erlauben, mir auch noch mein Kind zu nehmen. Egal, was ich dafür tun muss.’
    Reshanne hatte sich auf ihren Sitz fallen lassen und sah hilflos von einem zum andern. „Ist sie jetzt vollends verrückt geworden?“
    „Vermutlich! Ihre Handlungsweise ist ungeheuerlich!“ stimmte Xyros ihr zu.
    „Ich verstehe sie.“ warf Zardon unvermittelt ein und erntete ungläubige Blicke der anderen.
    „Das kannst du doch nicht ernst meinen!“ rief Reshanne. „Sie riskiert unser aller Existenz und du verteidigst sie noch?“
    „Ich habe sie nicht verteidigt, noch heiße ich ihr Handeln gut, ich sagte nur, dass ich sie verstehe. Und ihr solltet es auch, wir haben doch alle Kinder. Und jetzt entschuldigt mich bitte!“



    „Zaide warte!“ Zardon lief ihr nach und berührte ihren Arm. Sie fuhr herum und schüttelte seine Hand ab.
    „Was willst du von mir?“
    „Verurteile deine Schwester nicht. Sie hat nur getan, was sie für richtig hielt. Glaub mir, der Thron der Welt ist der einsamste Platz, den es gibt. Nachfolgerin der Großen Mutter und damit Mutter aller Geschöpfe der Erde zu sein, bedeutet nicht nur eine große Verantwortung, es bedeutet auch, furchtbare Entscheidungen treffen zu müssen, keine persönlichen Rücksichten nehmen zu können, wenn es um das Wohl aller geht.“
    „Schließt das Mord mit ein?“ höhnte sie und wollte sich wieder abwenden, doch seine sanfte Stimme hielt sie erneut zurück.
    „Wir alle müssen unser Opfer bringen, ein jeder von uns.“ Er sagte es leise und in bedauerndem Tonfall, der Zaide hellhörig werden ließ. „Das ist der Preis für unsere Macht. Die Menschen nennen uns Götter, Engel, Elfen und Feen, wir sind nichts dergleichen, wir sind die Hüter der Weltordnung. Wenn wir versagen, wenn wir uns von persönlichen Gefühlen leiten lassen, wird die Welt aufhören zu existieren.“
    „Welche Welt willst du beschützen, Zardon?“ hielt sie ihm entgegen. „Reshannes Welt, in der ein Einzelner nicht zählt? Es beginnt immer mit einem Einzelnen, dann werden es zwei, drei, vier. Und wenn das nicht genügt, werden dann zum Wohle aller immer mehr geopfert. Nein, Zardon, eine Welt, in der das Wohl des Einzelnen nicht den gleichen Wert besitzt, wie das von allen, ist keine Welt für mich.“
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    [/B]„Erzähl das mal deinen Menschen!“ widersprach er ihr und diesmal konnte sie seine eigene Verbitterung deutlich hören. „Für sie zählt weder das Wohl des Einzelnen noch das von allen. Sie opfern bedenkenlos alles und jeden. Und wofür? Für Besitz und Macht! Sie besitzen keinerlei Verantwortungsgefühl.“
    „Wieso hasst du die Menschen so?“ fragte Zaide erstaunt.
    „Ich hasse sie nicht.“
    „Oh doch, das tust du. In all den Jahren, die wir nun schon gemeinsam in diesem Rat sitzen, habe ich dich nie auch nur ein freundliches Wort über sie sagen hören. Ich wunderte mich schon, dass du Celias Initiation so ohne weiteres zugestimmt hast.“
    „Warum hätte ich es nicht tun sollen?“
    „Weil sie, um es mit den Worten meiner Schwester auszudrücken, ein Menschenkind ist.“
    Er wandte einen Moment den Kopf ab. „Nein, das ist sie nicht!“ sagte er mehr zu sich selbst, doch Zaide vernahm es dennoch.
    „Wie meinst du das?“ hakte sie denn auch sofort nach, doch er lenkte ab.
    [B][B]


    [/B][/B]„Lass mich dich warnen, Zaide. Im Gegensatz zu mir, bist auch du noch sehr jung. Dich mit Varik einzulassen, war eine Dummheit, für die wir alle einen hohen Preis bezahlen müssen. Nein!“ er wehrte ihren Einwand ab. „Du kennst ihn nicht, sein Hunger nach Macht ist unersättlich. Vertrau mir, du warst nicht dabei, als er die Welt an den Rand des Abgrunds trieb, als die Säulen dieses Rates nach seinem Abfall zu Boden stürzten. Sein Verrat hat Melynne tief ins Herz getroffen, sie liebte ihn wie einen Sohn. Deshalb hat sie ihren Heimgang beschleunigt. Seinetwegen. Deshalb hat sie auch deine Schwester zur Herrscherin berufen, obwohl sie dafür nicht vorgesehen war. Vielleicht nicht unbedingt ihre weiseste Entscheidung.“
    „Aber was ist denn mit der eigentlichen Nachfolgerin geschehen?“
    „Sie war verloren. Auch seinetwegen!“ Täuschte sie sich, oder glitzerte da tatsächlich eine Träne in seinem Auge? Zardon und weinen? Zaide war zutiefst erschüttert. „Was ist mit ihr passiert?“ fragte sie leise. „Hat er sie, .... getötet?“
    Zardon nickte langsam. „Ja, das könnte man so sagen.“
    „Aber das ist unmöglich. Kein Elo-i kann einen anderen töten. Nur Marhala besitzt die Macht dazu.“
    [B][B][B]


    +

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  • Zaide kehrte ohne eine Antwort in den Tempel der Ewigkeit zurück. Zardon hatte sie lediglich noch einmal gebeten, nichts unüberlegtes zu tun, bevor er zu den anderen Ratsmitgliedern zurückgekehrt war. Gerade so, als wäre ihm die Sache zu persönlich geworden.
    Ganz in Gedanken versunken, war sie zu Fuß die große Freitreppe hinaufgegangen, vorbei an Semira und Alyssa, die wartend am Fuß der Treppe gestanden hatten und ihr, da sie ihnen keinen Blick gegönnt hatte, nun sorgenvoll nachsahen.
    Vor der Tür hatte sie einen Moment gezögert. Seit Celias Verschwinden war sie nicht mehr in deren Gemach gewesen. Aber jetzt sehnte sie sich regelrecht danach.
    Während sie durch den Raum ging und ihren Blick umherschweifen ließ, glaubte sie ihre Anwesenheit hier noch immer zu spüren, ihr perlendes Lachen zu hören. Hier und jetzt wurde ihr einmal mehr schmerzlich bewusst, wie sehr sie ihre Tochter vermisste.


    Sie setzte sich auf eine der Ruhebänke und beobachtete eine Weile die kleine Fontäne, die aus einem Steinbecken in der Mitte des Raumes emporstieg. Celia mochte den leise rauschenden Klang des Wassers. Sie hatte oft auf ihrem Bett gelegen, die Augen geschlossen und einfach nur still dem Plätschern gelauscht. Und wenn es ihre Zeit erlaubte, hatte sich ihre Mutter einfach dazugelegt, sie in den Arm genommen und die Freude genossen, sie bei sich zu haben.
    Hätte sie wirklich auf all das verzichten sollen? Hätte sie das Mädchen wirklich sich selbst überlassen sollen, wie Reshannes es gefordert hatte? Heute, da sie nicht nur an Jahren sondern auch an Erfahrung gewonnen hatte, verstand sie natürlich, dass der Herr der Finsternis in der Tat eine recht unglückliche Wahl gewesen war, um Celia die Aufnahme in ihre Welt zu ermöglichen. Doch damals, als niemand ihr zu helfen bereit war, erschien er ihr als der einzig mögliche Retter.



    Noch immer voller Trauer um den geliebten Mann und voller Enttäuschung über die Weigerung ihrer Schwester hatte sie sich an einen geheimen Ort zurückgezogen, um dort in Ruhe die Geburt ihrer Tochter abzuwarten, nachdem ihr Reshanne huldvollst Urlaub von ihren neuen Pflichten gewährt hatte. Schon bald begann sie damit, Gespräche mit dem in ihr heranwachsenden Kind zu führen. Denn während die Menschen ganz verzückt auf die erste Regung ihres Kindes reagieren, tun es die Elo-i, wenn sie zum ersten Mal eine Antwort erhalten. So baut sich während der viel längeren und sehr erschöpfenden Schwangerschaft (das ist für Nath) ein besonders inniges Verhältnis zwischen der Mutter und ihrem Kind auf. Nach der Geburt verlieren die meisten Elo-i die Gabe der Telepathie wieder. Bis zu ihrer Initiation glaubte Zaide, das sei auch bei Celia so gewesen, die schon sehr früh auf die Rufe ihrer Mutter reagiert hatte. Doch anscheinend hatte die Aktivierung ihrer Kräfte auch diese alte Fähigkeit wieder neu belebt.
    Sie hatte also wie an den meisten Tagen in sanftem Schlummer gelegen, als sie plötzlich von einer angenehmen aber leicht spöttischen Stimme geweckt worden war.
    „Hier hast du dich also versteckt!“
    [B]


    [/B]Sie schreckte nach oben und sah direkt in zwei tiefschwarze Augen, die sie belustigt anblitzten. Sein Gesicht war hinter einer Maske verborgen, dennoch erkannte sie ihn sofort, obwohl sie ihn bis zum damaligen Zeitpunkt kaum mehr als vielleicht zwei-, dreimal gesehen hatte.
    „Varik!“ rief sie erstaunt.
    „Ja, ich!“ gab er in gleichem Tonfall zurück. „Warum so überrascht?“
    „Was machst du denn hier?“ verlangte sie zu wissen. „Und wie bist du überhaupt hier hereingekommen?“
    „Durch die Tür?“ Ganz offenkundig machte er sich über sie lustig. Es konnte nicht einfach gewesen zu sein, herauszufinden, wo sie sich befand und um vieles schwerer, hierherzugelangen. Immerhin hatte sie sich große Mühe gegeben, sich vor dem Rest der Elo-i zu verbergen, während sie darüber nachsann, ihr Kind vor der Unerbittlichkeit Reshannes zu retten.
    „Nun so schwer war es nun auch wieder nicht.“ antwortete er, als hätte sie mit ihm gesprochen. „Du weißt doch, deine liebe Schwester kann dich jederzeit sehen durch dieses nette kleine Spielzeug, das Melynne so sehr geliebt hat, du weißt schon, das Fenster zur Welt, der Spiegel der Herrscherin.“
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    [/B]Sie nickte und konnte es nicht verhindern, dass sie ihn fasziniert anstarrte. Zaide wusste nicht viel über ihn, vor allem nicht über jene Ereignisse, über die jeder Elo-i nur zu tuscheln wagte, die dazu führten, dass der Herr der Finsternis, Gebieter über alles Unheil der beiden Welten den Großen Rat verlassen und damit beinahe handlungsunfähig gemacht hatte.
    „Ach du liebe Güte, zerbrichst du dir wirklich darüber den Kopf?“ fragte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Habe ich!“ fügte er hinzu, kaum dass sie es gedacht hatte. „Wundert dich das etwa? Mir scheint, du warst zulange bei den Menschen.“
    Ein Schatten legte sich über ihr Gesicht und er wurde sofort wieder ernst. „Es tut mir leid, das hätte ich wohl nicht sagen sollen. Ich bedaure deinen Verlust.“
    „Was kümmert es dich!“ entgegnete sie müde und auch etwas verwirrt von seiner offenkundigen Freundlichkeit.
    „Ja natürlich, ich bin der Letzte, von dem du Verständnis erwartest. Aber glaube mir, es gibt niemanden, der dich besser verstehen würde, als ich.“
    Es waren nicht so sehr seine Worte, die ihn glaubhaft erscheinen ließen, als vielmehr seine so ernst blickenden Augen und der merkwürdig gepresste Unterton in seiner Stimme, der ihm selbst unangenehm zu sein schien.
    [B][B][B]


    [/B][/B][/B]„Komm, ich helfe dir hoch!“ sagte er, als sie den Versuch machte, aufzustehen. Da sie langsam an Gewicht zunahm, bereitete ihr das schon eine gwisse Mühe, so dass sie seine Hilfe dankbar annahm.
    „Warum bist du hier, Varik?“
    Er deutete auf ihren Bauch, der sich allmählich unter dem schwarzen Trauerkleid abzuzeichnen begann. „Ihretwegen!“
    „Ich verstehe dich nicht.“
    „Oh ich denke, das tust du doch.“ meinte er mit einem eigenartigen Lächeln auf den Lippen, doch diesmal erreichte es seine Augen nicht mehr. „Du kennst die Gesetze genauso gut wie ich und falls nicht, nehme ich doch an, dass die Herrscherin bereits die Güte besessen hat, dich darüber aufzuklären. Du kannst dein Kind nicht mit in unsere Welt bringen, es sei denn, es erweist sich als eine von uns. Und wir wissen doch beide, das passiert so gut wie nie.“
    „Ja, ich weiß!“ Traurig sah sie zu Boden. „Aber wie das für dich von Interesse sein kann, begreife ich noch immer nicht?“
    „Ich könnte dir helfen.“ Er sagte es mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass es ihr die Sprache verschlug. „Überleg es dir, ich komme wieder, wenn deine Tochter geboren ist. Aber denk nicht zuviel nach, du wirst kein zweites Angebot erhalten.“
    Er gab ihr keine Chance für weitere Fragen, sondern verschwand nach seiner Ankündigung einfach, wissend, dass er sie sie zutiefst verunsichert und grübelnd zurückließ.
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    +
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  • Sein Versprechen aber hielt er. Gleich nach Celias Geburt, sie hatte das Kind gerade erst in der Wiege zur Ruhe gebettet, erschien er unvermittelt neben ihr und betrachtete das Baby.
    „Du hast eine hübsche Tochter bekommen, Zaide.“ gratulierte er ihr, nachdem sie sich von ihrem ersten Schrecken erholt hatte. „Du erlaubst?“ Er wartete ihre Antwort nicht erst ab, sondern beugte sich über das Kind und sah ihm in die Augen. Seine Hand streichelte das zarte Köpfchen, blieb eine Weile auf der Stirn liegen. Und das Mädchen sah zu ihm auf, mit wachen wissenden Augen, folgte seinen Bewegungen, ohne Furcht vor dem fremden Mann, ganz als wäre er ihr ebenso vertraut wie ihre Mutter. Sie hätte stutzig werden sollen, ein Menschenbaby konnte seine Umgebung am Anfang noch gar nicht derart wahrnehmen, die Kinder der Elo-i waren von Anfang an dazu in der Lage. Doch sie hielt es für eine Laune der Natur, für einen Teil des mütterlichen Erbes.
    Als er wieder nach oben kam, warf er ihr einen forschenden Blick zu. Die ängstliche Frage in ihren Augen hatte er erwartet und schien ihn zufriedenzustellen.


    „Sie wird den Test nicht bestehen.“ teilte er ihr ganz unverblümt das Ergebnis seiner Untersuchungen mit. „Aber das war ja auch nicht anders zu erwarten.“
    Zaide wandte den Blick von ihm ab und richtete ihn auf das Mädchen in der Wiege. Zwei einzelne Tränen rollten über ihre Wange, aber dennoch lächelte sie das Kind an, Adrians Kind. Im ersten Moment war sie überrascht gewesen, als es zum ersten Mal die Augen geöffnet und ihr zwei klare Sterne entgegengeleuchtet hatten. Doch trotz der ungewöhnlichen Farbe, die wohl von seiner Mutter stammen musste, wusste sie sofort, dass es dennoch seine Augen waren. Sie schienen zu ihr zu sprechen, genau wie seine es immer getan hatten. Wenn sie dieses Kind in der Menschenwelt ließ, würde seine Existenz für immer verloren gehen.
    „Dann laß sie eine Elo-i werden.“ riet ihr Varik.
    „Aber das kann sie doch nicht. Das hast du selbst gerade gesagt.“
    „Ich wäre nicht gekommen, wenn sie es nicht könnte. Jemand aus unserem Volk muss ihr die Energien übertragen, die ihr durch den menschlichen Vater fehlen.“



    „Aber das geht doch gar nicht!“ wandte sie erneut ein. Er lächelte nachsichtig. Und dieses Lächeln ließ sein durch die Maske so streng wirkende Gesicht weniger bedrohlich erscheinen.
    „Nur weil es verboten ist, heißt das noch lange nicht, es wäre nicht möglich. Es ist deine Entscheidung. Ich bin dazu bereit, du musst nur ja sagen, und niemand kann dich mehr von deinem Kind trennen.“
    „Aber wieso? Wieso tust du das? Und vor allem, was verlangst du als Gegenleistung?“
    Sein Lächeln hielt noch immer an, das hörte sie an seiner Stimme. Diese Stimme! Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass der so gefürchtete Herr der Finsternis eine solch warme Stimme haben könnte. „Warum muss es immer eine Gegenleistung geben?“
    „Weil niemand etwas umsonst tut, und du schon gar nicht, oder!“ Sie hielt den Blick weiterhin fest auf das Kind gerichtet, als könne es ihr bei der Entscheidung helfen, dennoch bemerkte sie aus den Augenwinkeln, wie seine Mundwinkel zuckten, als würde er nur mühsam das Lachen unterdrücken.
    „Sagen wir, ich begleiche eine Rechnung mit dem Großen Rat und dessen sogenannter Allmacht. Und wenn du denn unbedingt auf einer Gegenleistung bestehst, nun, ich werde gewiss darauf zurückkommen. Ein Gefallen gegen einen Gefallen! Was sagst du?“
    [B]




    [/B]Selbst wenn sie es gewollt hätte, sie konnte nicht nein sagen. Sie wusste ebenso wie er, es gab keine andere Möglichkeit, das Kind und damit auch einen Teil ihrer Liebe vor der Vergängnis zu retten. Sie liebte dieses kleine Wesen schon viel zu sehr, um es jetzt noch aufgeben zu können. Und Reshanne, ihre eigene Schwester hatte sie im Stich gelassen.
    Sie nickte. „Ein Gefallen gegen einen Gefallen!“
    „So sei es!“
    Er hob das Kind aus der Wiege und nahm es in seine Arme. Vorsichtig bettete er den Kopf des Mädchens an seine Schulter und flüsterte ihr leise beruhigende Worte ins Ohr, während seine Rechte ihren Nacken umspannte. Er schloß die Augen und Zaide beobachtete fasziniert, wie erst seine Finger zu leuchten begannen, das Licht langsam auf ihre Tochter überging, sich immer weiter ausbreitete, bis es sie vollständig einschloß. Kein Laut war zu hören außer dem leisen Murmeln des Mannes.
    Als das Licht erlosch, legte er es genauso behutsam wieder zurück und winkte der Mutter, ihm zu folgen.
    [B][B]


    [/B][/B]„Was hier gerade passiert ist, sollte unser kleines Geheimnis bleiben.“ riet er mit Blick auf die Wiege. „Sollte deine Schwester jemals herausfinden, was wir getan haben, wird sie deine Tochter verstoßen und dich vermutlich genauso.“
    „Aber sie kann ihr nicht mehr nehmen, was du Celia geschenkt hast?!“ erkundigte sich Zaide schon wieder ängstlich.
    „Nein!“ Tiefe Zufriedenheit lag über seinem Gesicht. „Nehmen kann sie es ihr nicht mehr. Aber Schlimmeres. Hüte dich vor ihr. Sie gebietet über die Wächterin, und die Wächterin kann jedem von uns gefährlich werden.“
    „Danke!“ flüsterte sie und meinte es so. In diesem Moment, als ihr bewusst wurde, dass ihr Kind gerettet war, empfand sie nichts als tiefe Dankbarkeit.
    „Danke mir nicht, noch nicht. Sorge du für unseren kleinen Schatz, dass sie sich gut entwickelt. Bis wir uns wiedersehen.“
    Noch lange, nachdem er sich aufgelöst hatte, grübelte darüber nach, was er mit seinen letzten Worten wohl gemeint haben mochte. Selbst heute verstand sie es noch nicht wirklich. Denn er war nie wieder in ihr Leben getreten.
    [B][B][B]


    [/B][/B][/B]Es hieß, er habe sich aus der Welt der Elo-i zurückgezogen. Niemand wusste, wo er sich befand, niemand erwähnte auch nur seinen Namen. Und Zaide schwieg natürlich. Obwohl sie schon vor der der Initiation zu spüren begann, dass Varik ihrer Tochter mehr als nur seine Energien übertragen haben musste. Nach dem Ritual aber wuchsen ihre Kräfte von Tag zu Tag. Als sie verschwand, hatte sie ihre Mutter längst übertroffen. Und Zaide wusste mit Sicherheit, dass Celia es ohneweiteres auch mit Reshanne selbst aufnehmen konnte. Anders als diese sah sie in Celia aber nur deshalb eine Gefahr, weil sie sich ihrer Kräfte durch die Amnesie im Augenblick nicht bewusst war. Hätte sie erst ihr Gedächtnis wiedergefunden, würde sie auch mit ihr zurückkehren und den richtigen Umgang mit ihnen lernen. Und alles würde sich zum Guten wenden. Warum sah Reshanne das nicht ein? Oh, welcher Teufel hatte sie geritten, ihr Geheimnis preiszugeben? Vielleicht wegen der schwarzen Feder, die sie am Tag des Unfalls im Garten des Krankenhauses gefunden hatte, ja sie war regelrecht darüber gestolpert, als sollte sie gefunden werden, eine Feder aus den dunklen Schwingen des Herrn der Finsternis.
    „Herrin?“ Zaide blickte auf und bemerkte ihre besorgte Dienerin und Freundin. „Geht es Euch gut?“ fragte sie und Zaide nickte.
    „Aber ja. Du kommst wie gerufen. Komm, setz dich zu mir.“
    [B][B][B][B]


    [/B][/B][/B][/B]Alyssa gehorchte. „Ich habe mir Sorgen gemacht, Herrin. Und Semira ebenso. Was ist im Rat geschehen? Was hat die Herrscherin beschlossen?“
    Die Herrscherin! Zaide lachte freudlos auf. „Sie haben gar nichts beschlossen, sie haben andere Sorgen im Moment. Jetzt wissen es alle. Und noch mehr ist geschehen. ER hat sich Reshanne zu erkennen gegeben.“
    „Dann ist es also sicher? Er ist wieder da?“
    „Ja, ja, Varik ist in den dunklen Tempel zurückgekehrt. Reshanne ist der Meinung, er sei wegen Celia gekommen. Und so ganz unrecht hat sie damit vermutlich nicht. Ich schulde ihm noch einen Gefallen, und langsam glaube ich, dieser sogenannte Gefallen wird weitaus größer als ich dachte. Selbst Zardon hat mich vor ihm gewarnt. Dennoch, egal wie sehr wir ihn fürchten, möglicherweise bedeutet er die einzige Rettung für Celia. Du erinnerst dich, Reshanne hat die Wächterin zu ihr geschickt und wir haben, fürchte ich, kaum eine Möglichkeit, sie an ihrem Auftrag zu hindern, sollte Reshanne ihren Tod beschließen.“
    „Aber...“ Alyssa blieb das Wort im Halse stecken. Soviel wusste sie nun über diese magische Welt, von der sie vor ihrem Tod nicht einmal zu träumen gewagt hätte, aber ihre Bewohner blieben ihr noch immer ein Rätsel. „Das kann sie doch nicht tun?“ hauchte sie entsetzt.
    „Sie kann und sie wird! Doch Varik ist der einzige, der sie stoppen kann. Wenn ich nur wüßte, was ich tun soll?“
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    +++
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  • ***



    „Guten Morgen!“ rief Celia, kaum dass sie die Treppe heruntergelaufen war. Die Sonne schien, sie hatte wunderbar geschlafen, ohne Träume, ohne Schmerzen. Sie hatte das Gefühl, sie könne Bäume ausreißen. Da konnte ihr selbst Maras sauertöpfische Miene nichts anhaben.
    „Morgen!“ antwortete diese finster und zog irritiert die Brauen nach oben, als sie Celias fröhliches Gesicht sah. „Du hast dir reichlich Zeit gelassen!“ grummelte sie weiter missmutig. „Inzwischen ist vermutlich alles kalt!“
    „Entschuldige! Was gibt’s denn Leckeres zum Frühstück?“ Celia sog schnuppernd den in der Luft liegenden süßen Duft ein, doch als ihr Blick auf den Tisch fiel, gefror ihr für einen Moment das freundliche Lächeln ein. Waffeln! Schon wieder Waffeln! Jeden Morgen, nichts als Waffeln! Immerhin schaffte Mara es inzwischen, sie nicht mehr anbrennen zu lassen, aber immer nur Waffeln, Tag ein, Tag aus?



    Sie biss die Zähne zusammen und zwang sich, eine halbwegs begeisterte Miene aufzusetzen, als sie sich setzte. Morgen würde sie das Frühstück übernehmen, schwor sie sich. Diesmal würde sie sich nicht davon abhalten lassen. Schlimmer als bei Mara konnte es auch nicht werden. Warum versuchte sie es nicht endlich mal mit einem Kochbuch? Im Schrank neben der Spüle standen doch nun wirklich jede Menge davon herum. Und auf den Bildern sah alles so lecker aus!
    Wenn man dagegen diese Dinger kaute, begann man glatt, das Essen im Krankenhaus zu vermissen. Der Gedanke an das Krankenhaus zauberte sofort wieder ein Lächeln auf ihre Lippen. Gleich nach dem „Vorfall“, wie ER das nannte, war sie noch einmal dort gewesen, auf SEINE Bitte hin. ER wollte unbedingt ein weiteres EEG machen, am besten natürlich während einer ihrer Kopfschmerzattacken. Dummerweise hatte sich ausgerechnet dann keine eingestellt. Doch während er das Ganze schließlich frustriert und bekümmert abbrach und sich bei ihr für die Unannehmlichkeiten entschuldigte, hatte sie den Tag tatsächlich genossen. Von wegen Unannehmlichkeit! Er kümmerte sich doch so rührend um sie!
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    [B]

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    [/B]„Celia!“ Maras harscher Ausruf ließ sie zusammenzucken.
    „Verzeih, was hattest du gesagt?“ Mara rollte sichtlich gequält mit den Augen.
    „Ich hatte dich gefragt, ob du wohl diesen nervtötenden Kasten endlich zur Ruhe bringen könntest!“
    „Welchen Kasten!“ Mara stöhnte erneut. Erst jetzt hörte Celia den auf- und abschwellenden reichlich schrillen Ton, der aus der Halle zu ihnen herüber drang.
    „OH, du meinst das Telefon!“ rief sie und sprang auf. Kopfschüttelnd lief sie hinaus, Mara schien tatsächlich mit jeder Art von Technik auf Kriegsfuß zu stehen, aber das Telefon hasste sie ganz besonders.
    „Celia Moreau“ meldete sie sich und ihre Wangen färbten sich augenblicklich beinahe dunkelrot, als sie am anderen Ende eine vertraute Stimme vernahm.
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    [/B][/B]Am Nachmittag des gleichen Tages warf sie prüfend einen letzten Blick in den Spiegel. Ein bisschen blass noch, aber sonst ganz passabel, befand sie. Aber ob das auch reichte? Reichte, ihren ach so zurückhaltenden Doktor schwach werden zu lassen? Es mochte ja sein, dass sie noch immer keine Ahnung hatte, wer das Mädchen war, das ihr da aus dem Spiegel entgegensah, aber was es fühlte, das wusste sie genau. Er musste sie einfach nur ansehen, mit seinen wachen, aufmerksamen Augen, die, das hatte sie schon mehrmals festgestellt, eine ähnlich auffallende Farbe hatten, wie ihre eigenen, und wenn dieser Blick sie traf, traten all ihre Probleme in den Hintergrund. Wenn er ihre Hand hielt, um sie zu trösten, liefen prickelnde Schauer in kleinen Wellen durch ihren gesamten Körper. Sie fühlte es von den Zehen bis hinauf in die letzten Haarspritzen.
    Doch über seine Gefühle für sie war sie sich längst nicht so klar. Einerseits bemühte er sich, die Distanz des Arztes ihr gegenüber zu wahren, andererseits hielt er ihre Hand weitaus öfter, als sie Trost benötigte.
    Und jetzt das! Jeden Moment würde er sie abholen, um ihr etwas zu zeigen, wie er sagte. Aber was? Er hatte es partout nicht verraten wollen.
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    +

    [/B][/B]


  • Nur zögernd war sie dann aus seinem Auto gestiegen, nachdem sie eine lange, baumgesäumte Auffahrt hinaufgefahren waren und vor einer dunklen alten Villa mit beeindruckend vielen Fenstern gehalten hatten. Noch überraschter war sie, dass er sie statt ins Haus durch eine seitlich gelegene Tür in den Garten führte, in den an einem Seitenflügel gelegenen Teil.
    „Wo sind wir?“ wagte sie ihn schließlich zu fragen, als er an einer Buchsbaumhecke stehen blieb. Sie konnte nur einen kurzen Blick auf das erhaschen, was sich dahinter befand, während sie versuchte, über seine Schulter zu sehen. „Warum hast du mich hierher gebracht?“
    Seine merkwürdig verschlossene Miene beunruhigte sie etwas, seine Augen sahen sie so voller Ernst, aber auch, und das irritierte sie am meisten, so voller Neugier und gespannter Erwartung an, dass sie sich beinahe unbehaglich zu fühlen begann.
    Er musste das bemerkt haben, denn plötzlich lächelte er ihr aufmunternd zu, deutete auf ein kleines Tor hinter sich und bedeutete ihr, hindurch zu gehen. „Keine Sorge, ich erkläre dir alles.“ Fügte er hinzu, als sie zögerte. „Aber zunächst möchte, dass du dir etwas ansiehst.“



    Er blieb zurück, als sie das Tor öffnete und den dahinter liegenden kleinen Friedhof betrat. Es gab dort nur vier Gräber, zwei an jeder Seite, und nach der Farbe der Steine zu urteilen, mussten sie schon älter sein. Sie konnte nicht sagen, warum, aber ihre Schritten lenkten sie fast automatisch zu dem letzten, in der hintersten Ecke hin. Eine Zeitlang starrte sie darauf hinunter, mit einem beklemmenden Gefühl im Magen und fragte sich, wieso Nicolas Blandfort sie hierher gebracht hatte. Dann fiel ihr Blick auf den Stein und sie erstarrte.

    AB



    stand dort in verschlungenen Buchstaben, genau dieselben Buchstaben, die sie auf ihr Bild gemalt hatte. Und es waren nicht nur die gleichen Buchstaben, der ganze Stein, das Grab, die Blumen, alles stimmte haargenau mit ihrem Bild überein. Das konnte doch gar nicht sein.



    „Verstehst du es jetzt?“ fragte seine Stimme leise, nachdem er hinter sie getreten war. „Gleich als ich dein Bild gesehen hatte, musste ich daran denken. Ich war mir nicht sicher, denn im Grunde ist es gar nicht möglich, dass du dieses Grab kennst. Es gäbe nur eine logische Erklärung dafür, nur ist die genauso unlogisch wie merkwürdig, nämlich: Du musst schon einmal hier gewesen sein.“
    Er schien irgendwie erleichtert, es ausgesprochen zu haben, aber sie hörte auch die Frage in seinen Worten, eine Frage, die Celia dennoch beim besten Willen nicht beantworten konnte.
    „Ich weiß ja nicht einmal, wo HIER ist, Nicolas.“ flüsterte sie hilflos.



    Auch das schien er erwartet zu haben, denn er nickte, griff nach ihrer Hand, strich ihr mehrmals gedankenverloren mit dem Daumen über die Handfläche und meinte schließlich:
    „Jetzt kommen wir zum seltsamsten Teil überhaupt. Das hier“, er legte eine bedeutungsvolle Pause ein, „... ist der alte Stammsitz meiner Familie, Blandfort Manor, und das Grab hinter uns gehört einem meiner Vorfahren, Adrian Blandfort. Er war der letzte Viscount Landsdown. Nachdem er ohne Kinder gestorben war, ging der Titel an Verwandte aus England über. Aber, ...“ er machte erneut eine Pause, „.... das war vor über zweihundert Jahren.“ Sie schluckte und wollte ihm verlegen ihre Hand entziehen. Doch er ließ das nicht zu und hielt sie nur noch fester.
    „Celia, ich weiß nicht, was hier vorgeht, aber es sieht ganz so aus, als hättest du schon vor dem Unfall irgendeine Art von Beziehung zu meiner Familie. Anders kann ich mir das Bild nicht erklären, denn ich halte das für Teile deiner Erinnerung. Und ich denke, nicht nur angesichts der verrückten Tatsache, dass du ausgerechnet mir vors Auto gelaufen bist, sollten wir herausfinden, wieso, sondern auch, weil ... weil....“


    [B]

    [/B]Ein kleines teils verlegenes, teils spitzbübisches Lächeln stahl sich bei den letzten Worten auf seine Lippen und es stand ihm so ausgesprochen gut, dass es des liebevollen Blicks gar nicht bedurft hätte, um die Bedeutung seines abgebrochenen Satzes zu verstehen und ihr die Glut in die Wangen zu treiben. Schön spürte sie wieder diese kribbelnde Spannung zwischen ihnen, fühlte sie sich gebannt von seinen Augen, von dem Feuer, das so plötzlich darin aufflammte. Längst hielt er ihre Hand nicht mehr einfach nur, er zog sie immer näher zu sich heran. Als er sie nur wenige Augenblicke später küsste, versanken ihre Sorgen und Befürchtungen ebenso in einem Meer der Gefühle wie sie in seinen Armen. Was immer ihn in den letzten Tagen teilweise so reserviert hatte erscheinen lassen, jetzt und hier, in diesem Moment konnte er unmöglich leugnen, wie stark er sich zu ihr hingezogen fühlte. Sie spürte tief in seinem Innern die Unsicherheit, wie weit er gehen durfte, ohne sie zu verletzen. Das gefiel ihr und als wolle sie ihn ermutigen, schmiegte sie sich noch enger an seinen Körper.In ihrer Selbstvergessenheit bemerkte allerdings keiner von ihnen, dass sie schon seit geraumer Zeit beobachtet worden waren.
    [B]

    [/B]„Na sieh mal einer an!“ dachte Caroline, als sie die beiden da engumschlungen in einem innigen Kuss auf dem alten Friedhof stehen sah. „Also deshalb hatte er keine Zeit mehr für mich. Ich wüsste zu gern, wer dieses kleine Flittchen ist.“
    Es brauchte nicht viel Fantasie, um die Gefühle zu erraten, die Nicolas diesem Mädchen entgegen zu bringen schien, sie lagen offen auf der Hand, sie musste nur hinsehen. SIE selbst war von ihm noch niemals so geküsst worden. Ob Catherine davon wusste? Caroline bezweifelte es.
    Jetzt galt es Ruhe zu bewahren und vor allem keinen Fehler zu machen. Sonst würde ihr Nicolas entgleiten und damit all ihre Hoffnungen. Diese kleine Möchte-gern-Braut konnte ihr doch nicht das Wasser reichen.
    „Na warte! Dir wird’ ich’s zeigen!“ dachte sie und trat hinter die Hecke zurück.
    [B]




    +++
    [/B]

  • ***




    Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis er den Kuss schließlich beendete. Doch noch immer konnte er sich nicht vollständig von ihr lösen. Noch immer hielten seine Augen die ihren gefangen, während er ihr zärtlich über die Wange strich.
    „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was genau da mit uns passiert, oder wo das mit uns beiden hinführen soll, es ist mit Sicherheit nicht richtig. Aber ich kann einfach nichts dagegen tun.“ stieß er, noch immer heiser vor innerer Erregung hervor.
    „Wer bestimmt, was richtig ist und was nicht?“ flüsterte sie zurück.
    „Aber es geht alles so schnell.“
    „Ja, und? Ist das von Bedeutung? Warum sollten wir etwas so Kostbares wie Zeit verschwenden? Wichtig ist doch nur, was wir für einander fühlen, du und ich. Und ich, ... ich....“ Ein heftiger Windstoß warf das Tor zu, sie brach ab, wandte den Blick von ihm ab und hielt inne. Verwundert ließ er den Arm sinken.
    „Was hast du?“ Sie deutete mit dem Kopf in Richtung des Hauses und als er ihrem Blick folgte, stockte ihm der Atem. Hinter der Hecke war die Gestalt einer Frau aufgetaucht.



    „Nicolas, Darling! Na so ein Zufall!“ begrüßte sie ihn strahlend, wobei sie seinen betretenen Gesichtsausdruck geflissentlich ignorierte.
    „Caroline, was machst du denn hier?“ Es hörte sich eher vorwurfsvoll als freundlich an, doch das war ihm in diesem Moment völlig egal, denn er meinte schon zu spüren, wie sich Celias interessierter Blick in seinen Rücken zu brennen begann. Carolines Begrüßung klang selbst für wenig sensible Ohren einfach zu vertraulich.
    „Oh, ich bin nur kurz vorbeigekommen, um etwas für Catherine abzuholen.“ Ganz unbekümmert sprach sie weiter und hätte sich vermutlich gleich bei ihm eingehängt, wenn sich nicht immer noch das Tor zum Friedhof zwischen ihnen befunden hätte. „Wir treffen gerade die letzten Vorbereitungen für die Dinnerparty am Samstag. Und deine Mutter meinte, wir bräuchten unbedingt ihre eigenen Damastservietten. Du weißt ja, sie ist eine Perfektionistin.“ Vollkommen überrumpelt und damit beschäftigt, die Neuigkeit zu verdauen, dass Caroline seine Party organisierte, konnte Nick nur noch nicken.
    „Aber sag mal, Nicolas, wo bleiben denn nur deine Manieren?“ Sie deutete mit dem Kopf auf die junge Frau hinter ihm. „Willst du mir denn gar nicht deine Begleitung vorstellen?“
    Nicolas verzog keine Miene, obwohl er innerlich mehr als nur stöhnte. „Natürlich!“ sagte er stattdessen höflich und machte die beiden Damen miteinander bekannt.


    Caroline schob das Tor auf und reichte Celia die Hand.
    „Ich freue mich doch immer, Nicks Bekannte kennenzulernen.“ Noch bevor Celia etwas zu entgegnen vermochte, wandte sich Caroline bereits wieder Nick zu.
    „Vielleicht bist du so nett und holst mir die Servietten aus dem Wäschezimmer, ja Nicolas?“ fragte sie ihn mit honigsüßer Stimme und unschuldiger Miene. „Ich habe schon geklopft, aber Lucy scheint nicht da zu sein. Und du hast doch sicher einen Schlüssel, nicht wahr? Oh und keine Sorge!“ sie schenkte ihm ein nachsichtiges Lächeln, als sie sein Zögern bemerkte. „Ich werde Miss Moreau inzwischen Gesellschaft leisten.“
    Nicolas wusste, er hatte keine Wahl, wenn er jetzt keine Szene heraufbeschwören wollte. Er beugte sich kurz zu Celia hinüber und versicherte ihr, sofort wieder zurück zu sein.
    „Nun, ich nehme nicht an, dass Nick Ihnen sehr viel über mich erzählt hat, Miss Moreau, nicht wahr?“ begann Caroline ihr Gespräch, kaum dass er verschwunden war und strahlte ihr Gegenüber so freundlich und entzückt wie nur irgend möglich an. „Tja, das ist typisch für ihn. Er ist immer so zurückhaltend. Aber gerade das mag ich so an ihm. Das geht Ihnen sicher genauso!“


    Das war keineswegs als Frage gemeint, dennoch nickte Celia mechanisch. Sie konnte sich nicht helfen, doch wann immer sie diese Frau ansah, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Trotz ihrer heiter gelassenen Miene machte sie eher den Eindruck einer Schlange, die versuchte, das Kaninchen, welches sie zu verspeisen gedachte, zu hypnotisieren, damit es nicht mehr davonlaufen konnte. Was wollte diese Frau von ihr?
    „Sehen Sie, wir sind praktisch zusammen aufgewachsen, Nicolas und ich!“ fuhr Caroline ungerührt fort, ohne sich an der scheinbar fassungslosen Schweigsamkeit ihrer Gesprächspartnerin zu stören. „Unsere Mütter waren schon immer gute Freundinnen, deshalb habe ich zwangsläufig schon als Kind viel Zeit mit ihm verbracht. Unsere Familien haben gewisse Hoffnungen in Bezug auf uns beide, aber das Leben spielt nicht immer so, wie man es sich vorstellt.“ Sie seufzte tief und innig. Und noch immer strahlte sie Celia an. „Ich habe ihn wirklich sehr gern, auch wenn es manchmal recht schwer ist, ihn aus seinem Schneckenhaus herauszuholen. Er lebt ja nur für seine Arbeit, ist immer und zuallererst Mediziner.“


    „Verzeihen Sie mir, Miss....?“ unterbrach Celia schließlich ihren Redefluss.
    „Vandermere. Caroline Vandermere.“ Nur für einen Moment schien die Stimme der Frau einen verächtlichen Klang anzunehmen, aber so kurz nur, dass man sich auch leicht hätte täuschen können.
    „Miss Vandermere. Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen. Ich meine, versuchen Sie mir zu sagen, dass Sie und Nicolas .... ein, ... ein Paar sind?“
    Caroline hob in scheinbarem Entsetzen die Hände und schüttelte den Kopf so heftig, dass ihr glänzender roter Zopf nur knapp Celias Wange verfehlte.
    „Aber nein, nein. Wie kommen Sie denn darauf? Ich gebe zu, ginge es nach unseren Müttern, wären wir sicher längst verheiratet, aber nein, wir sind nur Freunde, sehr gute und sehr alte Freunde zwar, aber nur Freunde.“ Celia war nicht überzeugt, dass sie die Wahrheit gesagt hatte, denn diesmal gelang es der Frau nicht, den bedauernden Unterton in ihrer Stimme vollends zu verbergen. Was bezweckte sie nur mit dieser Vorstellung?
    „Sie müssen sich nicht beunruhigen, meine Liebe!“ versicherte ihr Caroline gerade mit einem weiteren nachsichtigen Lächeln auf den Lippen. „ICH stehe Nicks Glück ganz bestimmt nicht im Wege. Und Sie werden ihn doch glücklich machen, nicht wahr?“


    Sie wollte ihr gerade antworten, als ihr die Worte regelrecht im Halse stecken blieben. Vor ihren Augen verwandelte sich Carolines hübsches Gesicht in eine fuircherregende Fratze. Rotglühende Augen starrten ihr aus tief liegenden, dunkel rumrandeten Höhlen entgegen, ihr Mund war zu einem höhnischen Grinsen verzerrt, das übergroße spitze Zähne entblößte. Auf ihrem Haupt schlängelten sich, der Medusa gleich, statt der sorgfältig frisierten roten Haare zischende Schlangen, das Maul weitaufgerissen und drohend gegen sie gerichtet.
    „Er gehört mir, ... mir, ... mir!“ schrie sie in solch schrillem Ton, dass Celia meinte, ihr Trommelfell würde jeden Moment platzen.
    Die Frau kam mit ausgestreckten Armen auf sie zu, als wolle sie nach ihr greifen. Zutiefst erschrocken wich Celia einen Schritt zurück und schob ihre Hände abwehrend nach vorn und rief laut: „Nein! Lass ab von mir! Zurück! Zurück mit dir!“


    Jedes Geräusch verstummte, außer dem hysterischen Gekicher der Frau und Celias eigenem ängstlich hektischen Atmen. Eine wohlbekannte Kälte durchzog aufs neue ihre Glieder, vermischte sich mit ihrem grenzenlosen Entsetzen und überschäumender Wut, als sie ihre Ohnmacht spürte, etwas zu unternehmen. Sie wollte fort, dieser gespenstischen Szenerie entkommen, aber ihre Beine schienen in der Erde festgewachsen, ihre Augen unverwandt auf die Kreatur ihr gegenüber gerichtet.
    Und dann ging alles so schnell, dass niemand mehr genau hätte sagen können, was eigentlich geschehen war.
    In Celias Handflächen bildeten sich zwei kleine Kugeln aus strahlend hellem Licht, die immer größer und größer wurden, sich vereinten und eine Art Schild zwischen ihr und der monströsen Frau bildeten. Ohne dass sie auch nur einen weiteren Muskel gerührt hätte, löste sich aus diesem Schild plötzlich eine Energiewelle, raste auf die Kreatur zu und traf sie mit voller Wucht an der Brust. Celia hörte nur noch einen markerschütternden Schrei, als das Wesen nach hinten geschleudert wurde und direkt vor Adrians Grab liegenblieb.
    Und dann war der Spuk auch schon vorbei. Noch immer zitterte sie vor Kälte, obwohl die Nachmittagssonne längst wieder wärmend auf sie hernieder schien.
    Verwirrt sah sie sich um. Das Monster war verschwunden.



    +


  • Stattdessen war es Caroline, die vor ihr im weichen Gras lag, regunslos und vollkommen normal, der Kopf unmittelbar vor dem Eckstein der Grabeinfassung.
    „Du meine Güte!“ flüsterte Celia und hielt sich den Mund zu. Sie wollte sich gerade zu ihr niederknien, als sie eine andere entsetzte Stimme in ihrem Rücken vernahm.
    „Was ist denn hier passiert?“
    Nicolas war gerade mit den Servietten angekommen, aber als er Caroline dort auf dem Boden liegen sah, ließ er sie fallen und lief auf den Friedhof.
    „Celia? Was ist los?“ fragte er sie besorgt, aber die junge Frau starrte einfach nur weiter händeringend auf die Bewusstlose hinunter und sagte kein Wort.
    “Komm!“ meinte er schließlich sanft und schob sie ein Stück zur Seite. „Laß mich mal sehen!“
    Er beugte sich nach unten und suchte nach Carolines Puls. Glücklicherweise fand er ihn schnell. Ihr Herz schlug zwar etwas langsamer als normal aber kräftig. Als er ihren Kopf abtastete, berührten seine Finger eine kleine feuchte Stelle. Er zog die Hand zurück und entdeckte Blut an den Fingerspitzen.
    Celia schrie erschrocken auf, drehte sich auf dem Absatz um und stürzte in heller Panik hinaus.


    „Celia, jetzt warte doch!“ rief er und lief ihr, ohne zunächst einen weiteren Gedanken an Caroline zu verschwenden, nach.
    Er bekam sie schnell zu fassen und brachte sie auch zum Stehen, doch als er sie zu sich herumziehen wollte, riss sie sich los und entfernte sich wieder ein paar Schritte von ihm, als wolle sie sich in Sicherheit bringen. Betroffen blieb er stehen und sah zu, wie sie erneut die Hände vors Gesicht schlug und leise zu schluchzen begann.
    „Celia!” sprach er sie schließlich so sanft er nur konnte an. „Was ist passiert? Was hat sie gesagt? Hat sie dir irgendwie wehgetan?“
    Sie schüttelte den Kopf.
    „Hör doch. Egal, was es ist, du kannst es mir sagen. Vertrau mir, ich bitte dich!“ Wieder schüttelte sie den Kopf. „Aber irgendetwas muss doch passiert sein, sonst würdest du jetzt nicht weinen.“ Und Caroline nicht mit blutendem Kopf auf dem Rasen liegen, fügte er im Stillen hinzu. Hergottnochmal, er musste nach ihr sehen.



    „Ich weiß nicht, was passiert ist.“ rief sie, gerade als er schon aufgeben wollte, und drehte sich nun doch wieder zu ihm um. „Wir haben uns unterhalten und im nächsten Moment lag sie plötzlich vor mir. Ich weiß es wirklich nicht.“ Von der seltsamen Erscheinung, die sie kurz vor Carolines Sturz hatte, wagte sie ihm nichts zu erzählen. Vermutlich hatte ihre Fantasie ihr nur einen Streich gespielt, weil sie sofort eine eigenartige Abneigung gegen die Frau verspürt hatte. Dennoch fühlte sie sich schuldig, als würde sie ihn nicht nur belügen, sondern wäre obendrein auch noch schuld an dem, was Caroline zugestoßen war.
    Nicolas dachte einen Moment nach. Irgendetwas ging hier vor, das er nicht verstand. Diese Ansammlung von Merkwürdigkeiten in Celias Leben sollte ihm eigentlich zu denken geben, dennoch war er ohne weiteres bereit, ihre Erklärung, die im Grunde keine war, nicht nur zu akzeptieren, sondern sie auch noch zu beruhigen.
    „Lass gut sein!“ winkte er ab. „Ich habe ihr schon ein paar Mal gesagt, sie soll nicht mit ihren Stöckelschuhen im Garten herumlaufen. Kein Wunder, wenn sie fällt.“
    Celia riss die Augen auf und er folgte verduzt ihrem Blick nach unten. „Meinst du solche Schuhe?“ fragte sie und wies auf ihre eigenen, während sich ein schwaches Lächeln durch den Tränenschleier kämpfte.
    „Genau!“ bestätigte er. „Und deshalb bleibst du jetzt schön hier stehen und wartest auf mich. Ich fürchte, ich werde Caroline ins Krankenhaus bringen müssen. Aber keine Sorge, sie ist bald wieder vollkommen in Ordnung.“


    Nachdem er Celia sein Handy in die Hand gedrückt und sie gebeten hatte, die Ambulanz zu rufen, ging er zurück auf den Friedhof, wo Caroline gerade wieder zu sich gekommen war. Sie öffnete die Augen, und sah verwirrt zu ihm auf.
    „Was ist passiert?“ fragte sie erstaunt. Er zuckte mit den Achseln und beugte sich zu ihr hinunter.
    „Ich hatte eigentlich gehofft, dass du mir das sagen könntest.“
    „Ich habe keine Ahnung.“ erwiderte sie, setzte sich auf und schüttelte wie zur Bestätigung den Kopf.
    „Au!“ schrie sie sofort und griff erst nach ihrer Stirn und dann nach ihrem Hinterkopf. „Himmel tut das weh.“
    „Ach ja? Dann lebst du noch!“ brummte Nicolas sarkastisch, ohne sich deshalb auch nur im geringsten schlecht zu fühlen.
    „Ich verstehe nicht!“ Caroline versuchte aufzustehen, fiel aber sofort wieder nach hinten und fasste sich mit schmerzverzerrter Miene erneut an ihren Kopf.




    „Halt still, Caroline!“ ermahnte er sie streng, während er ihr leise fluchend aufhalf. „Du bist gestolpert und beim Fallen gegen die Einfassung geschlagen. Du könntest eine Gehirnerschütterung haben. Bei solchen Wunden ist das durchaus möglich.“
    „Wunde? Welche Wunde?“
    „Die da!“ Er nahm ihre Hand und hielt sie ihr vor die Augen.
    „Das ist Blut!“ kreischte sie und verlor für einen Moment restlos die Fassung. Wenn sie eines absolut nicht sehen konnte, dann war das Blut, schon gar nicht ihr eigenes.
    „Kein Grund, hysterisch zu werden, Caroline. Es ist nur eine kleine Platzwunde, aber sie muss dennoch genäht werden, fürchte ich.“
    Der erste Gedanke, der ihr durch den Kopf schoss, war der, dass man ihr die Haare an der Stelle abrasieren würde, welch eine Katastrophe, ausgerechnet jetzt, doch dann sah sie ihre Chance und setzte eine Leidensmiene auf. Es fiel ihr nicht einmal schwer, so wie sie sich fühlte.
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    [B]
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    [/B]„Oh Nicolas, mir wird so schwindlig.“ Hilfesuchend griff sie nach ihm und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.
    „Schon gut, Caroline. Ich bring dich jetzt ins Krankenhaus.“ Sacht, aber doch bestimmt schob er sie wieder ein Stück von sich und drehte sich suchend nach Celia um. Sie war genau hinter ihnen an der Hecke stehen geblieben.
    „Die Ambulanz kommt gleich.“ sagte sie mit belegter Stimme und er lächelte ihr entschuldigend zu.
    Caroline, die sie erst jetzt zu bemerken schien, hauchte ein kaum hörbares „Danke!“ in ihre Richtung, bevor sie sich erneut kraftlos an Nicks Schulter fallen ließ.
    „Sie ist ja so entzückend, Nick!“ flüsterte sie in sein Ohr. Er glaubte schon, sich verhört zu haben, doch als er ihr den Arm um die Schulter legte, um sie zu stützen, überraschte sie ihn aufs neue.
    „Du bringst sie doch am Samstag mit, nicht wahr?“ sagte sie diesmal lauter und warf ihm, ohne dass er es sah, unter den halbgeschlossenen Augen einen lauernden Blick zu.
    „Samstag? Wohin soll ich sie mitbringen?“
    „Zu deiner Dinnerparty! Du kannst doch nicht ohne Begleitung bei deiner eigenen Party erscheinen.“
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    [/B][/B]Später am Abend kam Nicolas vollkommen geschafft nach Hause. Er blieb vor dem Spiegel stehen und sah nachdenklich hinein. Dieser Tag war nicht ganz so abgelaufen, wie er es sich vorgestellt hatte. Carolines Auftauchen und vor allem ihre letzte unbedachte Frage hatte ihn zunächst ganz schön in Bedrängnis gebracht. Er hatte nicht die geringste Lust verspürt, ihr die besondere Art seiner Verbindung mit Celia zu erklären, noch, dass er eigentlich beabsichtigt hatte, sich am Samstag kurz zur Begrüßung der Gäste einzufinden und danach so schnell es der Anstand nur erlaubte, zu verschwinden.
    Glücklicherweise hatte es in dem Moment zu regnen begonnen, und Celia, seine unglaubliche Celia, hatte die Situation gerettet, indem sie ihn an die Servietten erinnerte, die immer noch achtlos im Gras herumlagen und nun nass wurden.
    Nachdem sie sie aufgehoben und Caroline auf der anderen Seite untergehakt hatte, brachten sie die Frau gemeinsam zum Haupteingang des Hauses, wo nur kurze Zeit später der Krankenwagen und ein Taxi vorfuhren. Celia hatte ihm einen Kuss auf die Wange gegeben, ihn gebeten, bei Caroline zu bleiben und sie anzurufen und war dann in das Taxi eingestiegen, ohne ihm Vorwürfe zu machen oder eine Erklärung zu verlangen.
    Allerdings verstand er Carolines Verhalten am wenigsten.
    Er betrachtete noch einen Moment sein Spiegelbild, bevor er entschlossen nach dem Telefonhörer griff. Er brauchte jetzt unbedingt einen Rat.
    „Hi, hast du morgen Zeit zum trainieren? Ja? Nein, wieso? Ich möchte mich nur mal wieder richtig auspowern und allein macht das einfach keinen Spaß. Ok, dann bis morgen!“
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    +++
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  • ***



    Es war ruhig in Nicks eigenem kleinen Fitnessstudio, zu ruhig. Alles was man hören konnte, war das Schnaufen und Ächzen der beiden Männer an den Geräten. Seit sie vor knapp anderthalb Stunden mit dem Training begonnen hatten, war kein Wort zwischen ihnen gewechselt worden. Sogar die Musik, die sonst immer aus der Anlage dröhnte, hatte Nick abgestellt. Hin und wieder riskierte Justin Donald Sanderson, von allen kurz JD genannt, von der Seite einen kurzen Blick auf seinen Freund, dessen verbissene Miene ihm genauso wenig gefiel wie die unnatürliche Stille.
    Zwar war Nick noch nie der Typ gewesen, der ständig Witze riss oder pausenlos redete, aber diese Art von Schweigsamkeit passte überhaupt nicht zu ihm, zumal sich Justin sicher war, dass Nick ihn nicht umsonst gestern Abend angerufen hatte. Dafür kannte er ihn zu gut, auch wenn er keiner seiner Sandkastenfreunde war, falls er überhaupt jemals einen solchen hatte.
    Die beiden hatten sich erst auf der Uni kennengelernt. Justin besaß keine besonders hohe Meinung von all den geschniegelten College-Boys, deren angebliches Studium durch die reichen Eltern finanziert wurde, während es ihm, als dem Sohn eines Busfahrers nur über ein Begabtenstipendium möglich wurde, Architektur zu studieren.



    Er staunte daher nicht schlecht über die Ernsthaftigkeit, mit der Nicolas sein Medizinstudium betrieben hatte. Nachdem sie ein paar Vorurteile und Missverständnisse ausgeräumt hatten, waren sie nicht nur prächtig miteinander ausgekommen, sondern auch über das Studium hinaus die besten Freunde geworden. Auf Nick konnte man sich immer verlassen, seine Ruhe und sein unerschütterlicher Optimismus hatten Justin über vieles hinweg geholfen, v.a. als sein Vater überraschend gestorben war. Er selbst rechnete es sich im Gegenzug zum Verdienst an, dass sein Freund nicht gänzlich zwischen Reagenzgläsern und Mikroskop versauerte.
    Sogar Nicks Mutter hatte sich allmählich mit ihm arrangiert, trotz seines eher legeren Kleidungsstils. Als sie ihn das erste Mal in seinem alten Armee-Jogginganzug gesehen hatte, war sie auf dem Absatz umgekehrt und erst bereit, mit ihm zu sprechen, nachdem er sich umgezogen hatte. Doch mittlerweile akzeptierte sie ihn wie er war, vermutlich weil er sich inzwischen durch etliche prestigeträchtige Projekte einen gewissen Ruf in seiner Branche erworben hatte. Zur Zeit konnte er sich vor Aufträgen ihrer Freunde der sogenannten guten Gesellschaft kaum retten. Nick und er hatten Stunden damit zugebracht, sich über die ebenso ausgefallenen wie idiotischen Wünsche seiner Kunden kaputtzulachen.



    Irgendwann ließ er den Bügel mit einem lauten Krachen in die Ausgangsposition zurückfallen, holte tief Luft und fragte:
    „Und? Wann hast du vor, mit der Sprache rauszurücken?“
    Nick zuckte zwar zusammen, trainierte aber unverdrossen weiter. Dennoch konnte Justin sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete.
    „Nun komm schon! Was ist los, mein Alter?!“ Er blieb abwartend auf der Bank sitzen und atmete schwer. Mann, er hatte das in den letzten Wochen wirklich zu sehr vernachlässigt.
    „Du sollst mich doch nicht immer so nennen.“ keuchte Nick, während er erneut mit den Beinen die Gewichte nach oben stemmte.
    „Wieso denn nicht? Schließlich bist du doch auch älter als ich.“ Justin grinste ihn vollkommen unschuldig an, aber Nick stöhnte und quälte sich schließlich ein Lächeln ab.
    „Ganze vier Tage.“
    „Vier Tage sind vier Tage. Das heißt, du bist älter.“ Justin schielte vorsichtig zu seinem Freund hinüber, der jetzt eigentlich lautsatrk protestieren sollte, wie er es sonst auch tat. Hmm! Es war schon höchst ungewöhnlich, dass er auf ihren üblichen kleinen Scherz nicht ansprang.



    Justin stand auf.
    „Hast du etwa schon genug?“ wurde er prompt von Nick aufgezogen und freute sich, ihn endlich dazu gebracht zu haben, das Training zu unterbrechen. Allerdings dachte er diesmal nicht daran, auf Nicks offensichtliches Ablenkunsgmanöver einzugehen.
    „Meinst du nicht auch, dass du jetzt lange genug Zeit hattest, über das nachzudenken, was du auf dem Herzen hast? Ich bin doch nicht wirklich wegen des Trainings hier, selbst wenn ich es tatsächlich mal wieder nötig hatte. Du übrigens auch, wenn du mir die Bemerkung gestattest. Du schnaufst wie ein Walross! Was hast du in den vergangenen Wochen getrieben, während ich in Europa war?“
    Nicolas gab auf. Justin hatte ja recht, er hatte immer recht. Zumindest was ihn betraf. Doch über sein Innerstes oder gar seine Gefühle zu sprechen, war ihm noch nie leicht gefallen, selbst bei seinem besten Freund nicht.


    „Ich glaube, ich habe mich verliebt.“ gestand er leise.
    „Was?“ Vor Überraschung wäre Justin beinahe über die Trainingsbank gestolpert. Stattdessen ließ er sich einfach wieder darauf fallen und sah seinen Freund völlig perplex und zu dessen nicht geringem Erstaunen regelrecht entsetzt an.
    „Oh bitte sag, dass das nicht wahr ist.“ flehte der sonst so wortgewandte Stararchitekt stammelnd.
    „Was zur Hölle ist denn mit dir los?“ Nick war verärgert. „Ich dachte, du würdest vor Freude an die Decke springen. Schließlich versuchst du mich schon seit der Uni zu verkuppeln.“
    „Ja! Sicher! Aber dass sie dich doch noch rumgekriegt haben!“ Justin machte ein Gesicht, als habe er in eine Zitrone gebissen. „Ausgerechnet Caroline Vandermere!!!“




    +


  • Nick riss den Kopf nach oben.
    „Was? Rumgekriegt? Und wer bitte redet denn hier von Caroline?“
    „Na du!“ Justin brauchte einen Moment, um Nicks Kopfschütteln zu begreifen.
    „Nicht?“ rief er, zunächst noch zweifelnd, aber dann sprang er auf. „Mann, Alter, du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt!“
    „Ernsthaft JD, was hast du nur immer mit Caroline? Wieso kannst du sie nicht leiden? Im Grunde kann sie doch ganz nett sein.“
    „Oh ja, sofern du nicht gerade auf ihrem Speiseplan stehst. Nimms mir nicht übel, Nick, aber Miss Vandermere ist ungefähr genauso nett wie eine hungrige Klapperschlange. Und sie hat eine ebensolche gespaltene Zunge!“
    Schon seit Jahren versuchte er, glücklicherweise ohne Catherines Wissen, ihn vor dieser Intrigantin zu warnen. Nick war einfach zu gutgläubig. Alles, was ihn bisher vor Caroline gerettet hatte, war seine ungeheure Arbeitswut, die ihm einfach keine Zeit für eine Eheschließung ließ.




    „OK, du hast mich neugierig gemacht. Wer ist sie, woher kennst du sie? Und vor allem, weiß es deine Mutter schon?“
    „Nein, sie nicht, noch nicht. Dafür Caroline. Und sie wird es ihr garantiert erzählen. Hätte sie nicht gestern den kleinen Unfall gehabt, hätte ich Mum heute garantiert schon einen detaillierten Lebenslauf vorlegen dürfen.“
    Justin horchte auf. Caroline hatte einen Unfall? Er hoffte zwar im Stillen, dass sie sich möglichst jeden Knochen im Leib gebrochen hatte, aber das wäre wohl zuviel verlangt gewesen. Außerdem schien Nick nicht gewillt, ihm mehr darüber zu erzählen, also beschloss er, sich zunächst auf das Wichtigste zu konzentrieren, auf jene Unbekannte, der es gelungen war, seinen Freund für sich zu interessieren. Und je länger er ihm zuhörte, desto erstaunlicher wurde die Sache.
    Nun, da der Damm einmal gebrochen war, sprudelten die Einzelheiten nur so aus Nick heraus. Er ließ nichts aus, all die kleinen Merkwürdigkeiten, ihre Freundin, das ungewöhnliche Bild. Justin aber hörte vor allem eines heraus: Nicolas war bis über beide Ohren verliebt, zum allerersten Mal in seinem Leben.
    „Entschuldige!“ platzte er raus, als Nick endlich aufhörte zu erzählen. „Jetzt brauch ich erstmal ein Bier!“



    [B]
    [/B]„Du kannst froh sein, dass ich überhaupt welches da habe.“ Sagte Nick unten in der Küche, als er seinem Freund eine Büchse zu warf. “Meine Mutter hat den ganzen Kühlschrank mit irgendwelchen Delikatessen vollgestopft. Und im Keller stapeln sich die Weinflaschen für die verdammte Party. Bier steht allerdings nicht auf ihrem Menü. Zu gewöhnlich!“ Nick lachte zwar, aber so gezwungen, dass sich Justin genötigt sah, ihn zu fragen, wie lange er das durchzuhalten gedachte, mit seiner Mutter wieder unter einem Dach zu leben.
    „So lange es nötig ist. Ja,ja. Ich weiß. Ich muss nicht ganz bei Trost gewesen sein, aber mal ehrlich, was hätte ich denn machen sollen. Bella brauchte eine Veränderung, du kennst doch den alten Kasten, ist ja nun nicht wirklich das geeignete Heim für einen Teenie! Und bis jetzt scheint es ihr ja auch zu bekommen. Gestern hat sie zum erstenmal Freundinnen aus der Schule mitgebracht. Einen ganzen Schwarm, um genau zu sein. In den Pool hätte mit Sicherheit keiner mehr reingepasst. Bloß gut, dass Mutter den ganzen Tag einkaufen war!“
    Obwohl er es eigentlich nicht vorgehabt hatte, holte Nick sich nun doch selbst auch eine Büchse heraus, bevor er die Kühlschranktür mit dem Ellbogen schloss und sich zu seinem Freund umdrehte.
    [B]



    [B]
    [/B]
    [/B]„Kommen wir noch mal auf deine ... auf das Mädchen zurück.“ Justin hatte es sich auf dem Hocker bequem gemacht und winkte ihn zu sich.“Was du da erzählt hast, klang zumindest alles ziemlich ungewöhnlich.“ Das war eine glatte Untertreibung! „Bist du sicher, dass sie nicht vielleicht doch...., irgendwie..., durch den Unfall?“
    „Ich bin mir, zumindest was sie betrifft, über gar nichts mehr sicher.“ stöhnte Nick. „Manchmal glaube ich, ich werde selber verrückt. Ich mache mir Gedanken über sie, wundere mich und im nächsten Moment fühle ich mich, als gäbe es auf der ganzen Welt keinerlei Probleme mehr. Ist DAS nicht verrückt?“
    „Wie man’s nimmt. Man könnte es auch Liebe nennen!“
    „Sie ist meine Patientin, JD. Und ich kenne sie erst kaum zwei Wochen. Und dann all diese Zufälle, Unfälle, diese offensichtlichen Verbindungen zu uns. Was hat sie mit meiner Familie zu tun? Du lieber Gott. Mutter würde sie glatt für eine Terroristin oder so was Ähnliches halten.“
    „Mir scheint, du steckst ganz schön in der Klemme, mein Alter.“schmunzelte Justin, wurde aber gleich wieder ernst. „Deine Mutter im Haus zu haben, ist schon kompliziert genug, aber wenn sie das mit diesem Mädchen erfährt, das haut sie glatt vom Stuhl, fürchte ich.“
    „Ich auch!“ brummte Nick und zog sich nun doch einen zweiten Hocker heran.
    [B][B]



    [B]
    [/B]
    [/B]
    [/B]„Was willst du denn nun machen? Willst du sie wirklich herbringen?“
    Nick schüttelte energisch den Kopf. „Ich denke ja gar nicht dran! Wäre ja so schon schlimm genug, aber in ihrem Zustand! Ausgeschlossen, das hieße, sie den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen.“
    „Und wie denkt sie darüber?“
    „Wer?“
    „Celia, natürlich. Ihr habt doch darüber geredet?“
    „Nein, wieso?“
    „Oh Mann, du bist echt ein hoffnungsloser Fall, Nick!“ Justin zuckte mit den Schultern und nahm erneut einen großen Schluck aus der Büchse. Catherine Blandfort würde auf der Stelle in Ohnmacht fallen, wenn sie jetzt hereinkäme und die beiden so sitzen sähe. „Das hat die liebe Caroline doch glänzend eingefädelt, meinst du nicht?“ Er sah es ihm an, Nick verstand noch immer nicht. „Sie hat die Party doch wohl laut genug erwähnt, sodass Celia es mitbekommen musste, oder? Was glaubst du, was das Mädchen denkt, wenn du sie nicht einlädst? Hmmm? Sie hat sich zwar den Kopf gestoßen an deinem Auto, aber denken kann sie anscheinend immer noch!“
    Ok, diesmal war der Groschen gefallen. Nicolas stöhnte. „Du hast recht! Ich bin ein Idiot. Nur eins begreif ich nicht, warum sollte Caroline wollen, dass ich Celia mitbringe? Das ergibt doch keinen Sinn!“


    [B][B][B]
    [/B][/B][/B]Justin holte tief Luft, und ließ es bleiben, seinem Freund einen Vortrag über Carolines Charakter zu halten. Nicks Blauäugigkeit und sein Hang, in allen Menschen nur das Gute zu sehen, hatten ihn schon früher fast zur Verzweiflung getrieben. Es wurde wirklich Zeit, dass er die liebe Miss Vandermere mal voll in Aktion erlebte!
    „Vielleicht solltest du Caroline den Gefallen tun.“ meinte er und Nick verschluckte sich beinahe.
    „Was?“ prustete er los.
    „Ja, sprich mit Celia! Und wenn sie einverstanden ist, lade sie ein. Das ist deine Party!“
    „Meine Mutter kriegt einen Anfall!“
    „Verdammt noch mal Nick. Das ist dein Leben, nicht das deiner Mutter! Du kannst doch nicht immer und ewig auf ihre Wünsche Rücksicht nehmen. Du hast ihr lange genug deinen Vater ersetzt. Mensch, du bist verliebt! Und da willst du doch bestimmt nicht Caroline heiraten, nur um deiner Mutter einen Gefallen zu tun, oder doch?“
    Nick, der eben noch die Büchse an den Mund hatte führen wollen, hielt inne.
    „Nein! Das mit Sicherheit nicht!“
    „Na also!“ Justin nickte erleichtert. „Mal abgesehen davon, dass es für Bella auch nicht gerade das Beste wäre.“
    „Apropos Bella! Mir scheint, ich bin nicht der einzige in meiner Familie, der zurzeit nicht ganz Herr seiner Sinne ist.“
    [B][B][B]



    +++
    [/B][/B][/B]

  • ***



    Da stand sie nun an der Brüstung der Terrasse und starrte hinunter auf den kleinen Teich im Birkenhain. Gerade hatte sie einen Besucher verabschiedet und erwartete jeden Moment schon den zweiten. Das eine war so ungewöhnlich wie das andere. Denn Ranyia, die Herrin der Träume, pflegte normalerweise nur Menschen in ihrem Reich zu empfangen, höchst selten aber die Mitglieder ihres eigenen Volkes. Auch ihren Tempel verließ sie nur noch, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Niemand wusste so genau, warum sie sich derart zurückgezogen hatte, daher hielten die meisten sie schlicht für etwas exzentrisch, was gar nicht so verwunderlich wäre in ihrer Funktion.
    Doch Ranyia hatte tatsächlich gewichtige Gründe für ihre selbst gewählte Einsamkeit, Gründe, die keiner besser kannte, als der Besucher, der sie soeben verlassen hatte.
    [FONT=&amp]Dabei schien der Tag sich zu Anfang in nichts von anderen zu unterscheiden, sie war ihren Pflichten nachgekommen, wie sie es seit ihrer Berufung immer getan hatte und wollte sich gerade in ihre Gemächer begeben, als sie den Blick noch einmal nach oben wandte und....


    [/FONT].... da stand er. Einfach so! Ruhig und – wie sie leicht verwirrt feststellte – mit einem unerwarteten Wohlwollen sah er auf sie hinunter, während sie versuchte, seinem Blick trotz ihrer Überraschung so gefasst wie möglich standzuhalten. Seit einer Ewigkeit hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Seine Einladungen, seine Bitten, seine Befehle hatte sie ignoriert und sich ebenso geweigert, ihn in ihrem eigenen Heim willkommen zu heißen. Das ungeschriebene Gesetz, dass der Tempel eines Elo-i niemals ohne dessen Erlaubnis betreten werden durfte, schützte sie vor ihm, obwohl er sich in seinem Rang durchaus darüber hinwegsetzen durfte. Im Laufe der Zeit wurden seine Versuche, sie wiederzusehen, weniger und weniger und weniger. Bis sie eines Tages ganz aufhörten. Doch nun war er da, ungerufen, einfach so!
    [FONT=&amp]Erst nach einigen Minuten erinnerte sie sich daran, dass sie ihm, obwohl er sich unerlaubt in ihrem Tempel aufhielt, als Mitglied des Rates zumindest einen gewissen Respekt schuldete. Sie senkte den Kopf und deutete damit eine leichte Verneigung an. Zu mehr war sie nicht bereit. Nein, mehr durfte er nun wirklich nicht erwarten. Tausend Gründe schossen ihr durch den Kopf, warum er gekommen war, doch allein der Zeitpunkt ließ auf einen ganz bestimmten schließen.


    [/FONT]„Ich bedaure, dich derart überfallen zu müssen.“ Sein Tonfall hörte sich genauso förmlich an wie seine Worte und verstärkten ihren Verdacht. Dies war weit mehr als ein Höflichkeitsbesuch.
    Doch gerade das ließ sie auf jede weitere Förmlichkeit verzichten. Sie stieg die letzten Stufen zu ihm nach oben, baute sich direkt vor ihm auf und verschränkte die Arme.
    „Nun? Warum bist du hergekommen?“
    Seltsamerweise schien ihm weder ihr herausfordernder Ton noch ihre abweisende Haltung irgendetwas auszumachen. Statt Unmut bemerkte sie tiefe Schatten der Sorge um seine Augen liegen. Er wirkte erschöpft und müde.
    „Ich denke, wir können uns jedes Versteckspiel ersparen, meine Liebe. Wir wissen doch beide, weshalb ich hier bin.“ Sie zuckte mit den Schultern.
    „Es wäre mir lieber, du würdest es mir sagen.“
    [FONT=&amp]„Wenn du darauf bestehst!“



    [/FONT]„Du bewegst dich auf gefährlichem Boden, Ranyia. Ich weiß, du meinst es gut, aber ..., zu glauben, DU wüsstest, was in dieser Situation das Beste wäre, ist mehr als nur vermessen. Vertrau mir, du weißt es nicht.“
    „Aber du!“ spottete sie. „Du weißt es, du und Reshanne und die anderen. Ihr alle glaubt, ihr wüsstet es. Das war schon immer so. Und es hat sich nicht geändert, genauso wenig wie meine Einstellung dazu.“ Sie wollte sich schon abwenden, doch er griff nach ihrem Arm, um sie zurückzuhalten, ließ aber sofort die Hand sinken, als sie ihm einen vernichtenden Blick zuwarf.
    „Ranyia, ich werde jetzt nicht die alten Geschichten aufrühren. Dafür haben wir keine Zeit. Die Lage ist ernst, viel ernster, als du denkst.“ Sie lachte kurz auf.
    [FONT=&amp]„Oh, ich kenne die Lage sehr gut. Und ich denke, es ist genau die richtige Zeit für die alten Geschichten. Immerhin sind sie doch der Grund für diese ernste Lage!“



    [/FONT]„Ja, das stimmt, wenn auch nicht ganz so, wie du es dir ausgemalt hast.“
    „Ausgemalt?“ begehrte Ranyia auf. „Ausgemalt? Ich musste mir nichts ausmalen, ich hab es durchlebt. Sollte dir das entfallen sein?“ Sie trat noch einen Schritt näher und funkelte ihn böse an. „Ich habe nichts vergessen! Gar nichts! Ich erinnere mich an jede Kleinigkeit, an Melynnes Grausamkeit, an deine Gnadenlosigkeit, an ihre Verzweiflung! Ihr habt sie bestraft für euren eigenen Fehler! Und ihr habt es vertuscht, weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Und jetzt erwartest du ernsthaft, ich solle zusehen, wie ihr den gleichen Fehler noch einmal begeht?“
    „Es mag vielleicht ein Fehler sein, aber wir haben keine Wahl!“ hielt er ihrem wütenden Ansturm noch immer um Fassung bemüht entgegen. „Und ich erwarte nicht, dass du es billigst, nur, dass du dich an meine Anweisungen hältst. Du wirst aufhören, Zaide zu helfen. Sofort! Ich habe es geduldet, solange die Hoffnung bestand, ihr könntet Erfolg haben. Aber diese Hoffnung ist vergangen. Ihr werdet euch weder Reshanne noch Marhala in den Weg stellen. Die Folgen für uns alle und damit auch für dich wären zu schrecklich. Du bist gewarnt! Füge dich!“



    Er hatte sie nicht angesehen bei seinen harschen Worten. Er konnte es nicht. Zu deutlich stand noch immer die Trauer und die Anklage in ihren Augen. Wenn er gehofft hatte, sie würde ihm nach all den Jahren endlich verzeihen, so sah er sich getäuscht. Er straffte die Schultern und ging an ihr vorbei, die ersten Stufen hinunter. Aber da wirbelte sie auch schon herum, nicht bereit, ihn jetzt so einfach gehen zu lassen.
    „Ich habe geschwiegen, nie ein Wort darüber verloren, wie du es wolltest, obwohl Zaide jedes Recht auf die Wahrheit hatte!“ rief sie aufgebracht hinterher. Doch er lief weiter.
    „Arme Reshanne!“ fuhr sie spöttisch fort. „Da wird sie von Zaides unerbittlichem Zorn verfolgt, dabei trägst doch DU die Schuld an ihrem Unglück. Was meinst du? Hätte sie Marhala damals geschickt, um diesen Mann zu töten, wenn sie die ganze Wahrheit gewusst hätte? Wenn du sie nicht verheimlicht hättest?“
    Diesmal stockte sein Schritt mitten im Lauf. „Schweig!“ befahl er in gepresstem Ton, doch sie lachte nur, laut, hart, freudlos.
    „Du hast es ihr nicht gesagt, nicht wahr? Nicht einmal jetzt! Dabei hätte sie Celia bestimmt die Aufnahme nicht verweigert, wenn sie auch nur geahnt hätte, wessen Blut in ihren Adern fließt.“


    +


  • Mit einem Satz war er wieder bei ihr und packte sie an den Schultern. Doch sie ließ sich nicht mehr aufhalten. Furchtlos sah sie ihm direkt in die Augen.
    „Dein Blut!“ Sie flüsterte es nur, doch in seinem Kopf hallten ihre Worte, als würden sie von den Felsen tausendfach zurückgeworfen. Der Griff seiner Finger lockerte sich, er strich ihr sanft über die Haut, sein Blick wurde weich, wenn er auch nichts von seiner Ernsthaftigkeit verlor.
    „Ich weiß, du verstehst es nicht, du willst es auch gar nicht. Das ist dein Recht. Doch was immer du auch glaubst,..., ich versuche nur, dich zu beschützen. Genauso wie sie.“
    „Dann hast du versagt!“ Ranyia flüsterte noch immer, doch diesmal wegen der Tränen, die sie nur mühsam unterdrückte. „Denn sie ist tot.“
    „Ich weiß. Und ich leide genauso darunter wie du.“
    „Wie kannst du dann zulassen, dass es wieder geschieht?“
    [FONT=&quot]„Weil sein Rachedurst zu groß ist, um sich mit Macht allein zufrieden zu geben. Er will die Welt zerstören, unsere ebenso wie die der Menschen. Und Celia wird es für ihn tun, wenn wir sie nicht aufhalten.“



    [/FONT]Er redete lange und eindringlich auf sie ein und mit jedem Wort wuchs ihre Verzweiflung ebenso wie die seine.
    „Es tut mir leid, glaub mir, ich wünschte, es gäbe eine andere Möglichkeit, doch wir haben den Kampf um sie wohl verloren.“
    Da Ranyia nicht antwortete, sich sonst auch nicht rührte, gab er ihr einen vorsichtigen Kuss auf die Stirn, bevor er ging.
    Doch er spürte ihren stummen Blick in seinem Rücken, der ihn verfolgte, als er langsam und von Gram gebeugt, die Stufen hinunter schritt und schließlich verschwand, genauso plötzlich wie er erschienen war.
    Und Ranyia blieb noch lange dort oben stehen und starrte tränenblind ins Nichts, nachdem sie ihren Diener mit der Einladung für ihren zweiten Besucher losgeschickt hatte.
    Sie hatte nicht gelogen, sie erinnerte sich tatsächlich noch immer ganz genau an das, was geschehen war.
    Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu diesem Tag zurück, an dem das Verhängnis seinen Lauf nahm.
    [FONT=&quot]Noch immer hörte sie ihre Stimme in ihrem Kopf.



    [/FONT] „Und ich dachte immer, du solltest anderen Träume schenken und nicht dir selbst!“
    Ein glockenhelles Lachen und die mit gutmütigem Spott vorgetragenen Worte hatten sie aufgeschreckt, gerade als sie die zarten Blüten der neuen Seerosen bewundert hatte.
    „Keyla!“ rief sie überrascht. Und sie war in der Tat mehr als überrascht gewesen. „Was machst du denn hier?“ Sie hatte ihr entgegeneilen, sie in die Arme reißen wollen, stattdessen stand sie einfach nur am Rand des kleinen Teiches und sah ihr entgegen.
    Oh wie hatte sie ihr warmes Lächeln vermisst!
    „Hat dich der alte Drachen endlich mal aus ihren Klauen gelassen?“
    [FONT=&quot]Keyla gab sich Mühe, geschockt auszusehen, wie es der Anstand gebot angesichts dieser beleidigenden Bezeichnung, aber ihre Mundwinkel zuckten derart heftig, dass sie schließlich doch gemeinsam in hemmungsloses Gelächter ausbrachen, ganz so wie sie es früher getan hatten.



    [/FONT] Früher! Eine Ewigkeit schien das jetzt her zu sein. Ihre Wege hatten sich getrennt, als Ranyias Mutter sie zur Vorbereitung auf den Tag, da sie deren Pflichten als Herrin der Träume übernehmen musste, zu sich in den Tempel geholt hatte. Und nur kurze Zeit später wurde auch Keyla ihrer Bestimmung zugeführt. Seitdem hatten sie nur noch selten Gelegenheit, einander zu sehen.
    Sie lehnte sich zurück an den sonnenwarmen rauen Stamm der Birke, stemmte die Hände in die Hüften und sah Keyla forschend an.
    „Ich sehe es dir an, du hast Neuigkeiten! Was ist es?“
    Es konnte zumindest nichts Schlimmes sein, denn Keyla ging es augenscheinlich sehr sehr gut und sie genoss die Situation regelrecht. Wie das feinste Gespinst aus hauchdünnen goldenen Fäden leuchtete ihr Haar in der langsam untergehenden Sonne. Wie oft hatte Ranyia sie um diese Pracht beneidet. Ihre Wangen waren von einer zarten Röte überzogen, die nicht nur von der Aufregung zu stammen, sondern einen viel tiefer liegenden Grund zu haben schien. Und das machte Ranyia erst wirklich neugierig.
    [FONT=&quot]Keyla ließ sie auch nicht mehr lange im Ungewissen und strahlte sie an. „Ich werde heiraten!“



    [/FONT]„Nein!“
    „Doch!“ Keyla klatschte entzückt in die Hände. „Doch, doch, doch! Es ist beschlossene Sache. Ist das nicht wunderbar?“
    „Ob das wunderbar ist? Du stellst Fragen!“ Ranyia verleierte die Augen, riss in einer theatralischen Geste die Arme nach oben, drehte sich mehrmals um die eigene Achse, als wäre ihr schwindlig und ließ sich dann einfach ins weiche Gras fallen. Keyla tat es ihr gleich und so saßen sie sich Minuten später beide gegenüber und lachten, bis ihnen die Tränen in den Augen standen. Wie unbeschwert und unglaublich albern sie beide damals noch gewesen waren!
    Als sie endlich wieder Luft holen konnte, stellte Ranyia ihr die alles entscheidende Frage, auf die Keyla längst wartete. „Wer ist es?“
    „Varik!“
    Wäre Ranyia ein Mensch gewesen, wäre ihr jetzt vermutlich das Herz stehen geblieben, stattdessen verschwand ihr Lächeln und sie musterte Keyla mit weitaufgerissenen Augen an, als zweifle sie an deren Worten.
    [FONT=&quot]„Varik?“ wiederholte Ranyia leise, während sie versuchte, sich nicht allzu entsetzt anzuhören. Keyla schien das nicht zu stören, denn sie stupste sie an und grinste.[/FONT][FONT=&quot]




    [/FONT]
    Aber Ranyia konnte einfach nicht zurücklächeln. Sie sprang auf, lief ein paar mal hin und her und würgte schließlich heraus: „Du heiratest Melynnes Neffen?“
    Keyla lächelte noch immer, als sie es erneut bestätigte. Doch langsam verschwand das Leuchten auch aus ihren Augen. Irritiert sah sie zu Ranyia hoch.
    „Was hast du denn? Freust du dich nicht für mich?“
    Freuen? Bei jedem andern sicherlich, aber bei Varik? Ranyia schauderte. Dabei wusste sie selbst nicht einmal genau, wieso sie diese dunkle Vorahnung überkam. Denn im Grunde gab es gar keine Einwände gegen ihn. Wie auch! Besserer Abstammung konnte man gar nicht sein. Die elitären Elo-i heirateten stets untereinander, um somit zu gewährleisten, dass ihre Kräfte an die Kinder, ihre Nachfolger weitergegeben werden konnten. Dabei erhielt nicht jedes Kind immer die gleichen Kräfte von den eigenen Eltern vererbt. Es kam sogar vor, dass keines aus der direkten Linie geeignet war. Und dann wurde jemand aus der Verwandtschaft gesucht. So wie ihre Herrscherin Melynne es getan hatte. Zwar wäre ihr Neffe Varik der nächste geeignete Kandidat gewesen, doch als Mann konnte er unmöglich der Nachfolger der Großen Mutter werden. So blieb nur noch ....



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  • „Sagst du mir jetzt, was dich daran stört?“ Keyla war aufgestanden und unhörbar hinter sie getreten.
    „Das kommt so plötzlich.“ presste Ranyia heraus, ohne sich umzudrehen, aber Keyla ließ es nicht gelten.
    „Das ist es nicht! Du vergisst, ich kenne dich zu gut. Ranyia, bitte! Was hast du gegen ihn?“ Sie zog Ranyia zu sich herum und wiederholte ihre Frage energischer. „Was?“
    „Er ist der Herr der Finsternis. Sein Reich ist geprägt von Düsternis, von Unheil und Tod. Und du? Du bist das Licht, die Liebe, das Leben. Genau das Gegenteil von alledem, was er verkörpert. Wie kann das zusammengehen? Nur weil Melynne es so bestimmt hat, heißt es doch nicht, dass du glücklich werden wirst.“
    Einen Moment lang wirkte sie tatsächlich verstört, doch dann kehrte das Lächeln auf Keylas Lippen zurück.
    „Du Dummerchen!“ belehrte sie Ranyia, als wäre sie die Ältere von ihnen. „Das ist doch nur ein Amt, nichts weiter. Du weißt doch, ohne das Böse kann das Gute nicht existieren, die Welt braucht beides im Gleichgewicht, um zu funktionieren und sich zu entwickeln. Warum es dann nicht in verantwortungsvolle Hände legen?“
    [FONT=&amp]Das waren Melynnes Worte, das wusste Ranyia, doch sie vermochte dem nichts entgegenzusetzen.[/FONT][FONT=&amp]
    [/FONT][FONT=&amp]

    [/FONT]
    In diesem Moment verschwand die Sonne endgültig hinter den Felsen und hüllte alles schlagartig in Dunkelheit ein, die nur durch die Kerzen des Tempels noch durchdrungen wurde. Heute hielt sie es für ein weiteres Vorzeichen.
    Keyla ergriff Ranyias Hände und hielt sie fest.
    „Verzeih, ich muss gehen.“
    „Aber....“
    „Bitte, sei unbesorgt, noch nie habe ich Melynne einen Wunsch so gern erfüllt wie diesen. Ich liebe ihn und er liebt mich. Das ist die Wahrheit. Und ich werde wohl kaum je sein Reich betreten. Dafür wird mir einfach die Zeit fehlen.“ Sie schmunzelte. „Ist das nicht merkwürdig, dass Wesen wie wir, die wir die Geschicke einer ganzen Welt leiten, Schwierigkeiten mit der Zeit haben können?“
    „Ja, das ist wohl merkwürdig.“ stimmte Ranyia ihr zu, während sich ihr erneut die Kehle zuschnürte.
    „Nichts wird uns jemals trennen.“ versprach Keyla ihr, als sie sich verabschiedete. „Ich werde immer bei dir sein, wo immer wir uns auch befinden mögen, Schwester!“

    [FONT=&amp]Sie hatte ihr Versprechen nicht halten können.[/FONT][FONT=&amp]



    [/FONT]
    „Du wolltest mich sehen?“ Ranyia schrak zusammen und drehte sich um. Zaide lächelte sie freundlich an. „Deine Nachricht klang dringend. Was ist denn geschehen?“
    Voller Sorge ließ Ranyia den Blick über sie gleiten. Ihre alabasterne Haut wirkte noch blasser als gewöhnlich, es gelang ihr kaum, die schwarzen Ringe der Erschöpfung unter ihren Augen zu verbergen, deren Glanz merklich nachgelassen hatte. Die Herrin der Seelen war beinahe am Ende ihrer Kräfte angekommen.
    Wie sollte sie ihr jetzt, in diesem Zustand nur sagen, was gesagt werden musste. Wie konnte sie ihr die Hoffnung nehmen, ausgerechnet sie?
    Zaide blieb abwartend vor ihr stehen.
    Ranyia rang sichtlich mit sich, bevor sie tief Luft holte und sagte: “Zardon war eben hier.”
    Zaide ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken. „Und was wollte er?“
    [FONT=&amp]„Kannst du dir das nicht denken?“



    [/FONT] „Allerdings kann ich das! Aber dass er jetzt schon den Boten meiner Schwester spielt, hätte ich nicht für möglich gehalten.“
    Ranyia schüttelte den Kopf. „Er kam nicht im Auftrag von Reshanne. Er hat mir verboten, dir weiterhin Zugang zu Celia zu verschaffen.“
    „Er hat was?“ Zaides Ausruf wurde fast zum Schrei, bevor sie sich wenigstens etwas wieder fasste. „Wie kann er das nur tun? Ich verstehe ihn einfach nicht.“ Dann sah sie forschend in Ranyias bedrücktes Gesicht. „Wirst du ihm gehorchen?“ Die nackte Angst leuchtete Ranyia entgegen und sie fürchtete sich regelrecht, es auszusprechen.
    „Es geht nicht um das Gehorchen, Zaide....“ begann sie dennoch, nur um sofort unterbrochen zu werden.
    „Oh doch, genau darum geht es. Und du wirst es tun, nicht wahr. Du wirst tun, was der Rat von dir verlangt. Oh, ich verfluche sie, ich verfluche sie alle in ihrer Selbstgerechtigkeit!“
    „Du missverstehst mich!“ versuchte Ranyia aufs neue zu erklären. „Es geht nicht um den Willen des Rates, ich, ...., ich glaube, Zardon hat recht. Es ist zu spät. Du musst sie loslassen. Celia ist verloren!“
    Zaide prallte zurück. „Wie ... kannst .... du ... so etwas .... nur.... sagen?“ flüsterte sie stockend. „Sie ist mein Kind!“
    [FONT=&amp]



    [/FONT] „Ich weiß, doch ich denke, du verkennst die Lage, genauso wie ich es lange Zeit getan habe. Schon Melynne konnte Varik nicht mehr kontrollieren, sie konnte ihre Fehler nicht mehr korrigieren und hat sich einfach in die Ewigkeit des Universums zurückgezogen und alles deiner völlig unvorbereiteten Schwester überlassen. Doch auch sie kann ihn nur noch mit Hilfe von Marhala im Zaume halten, aber vernichten können sie ihn beide nicht, nicht mehr.“ Zaide wandte den Kopf ab und betrachtete intensiv den Boden. Ringsumher schien die ganze Welt den Atem angehalten zu haben. Nicht ein Vogel wagte es, die unheilkündende Stille zu durchbrechen. „Du kennst sein Ziel, Zaide,...“ fuhr Ranyia fort. „...er will sie, er will Celia. Du weißt um die Macht deines Kindes. Wenn sie ihm in die Hände fällt, kann nichts und niemand ihn mehr stoppen. Nur solange sie noch nicht wieder völlig über ihre Kräfte verfügt, ist Marhala in der Lage, sie aufzuhalten. Und das wird nicht mehr lange dauern. Sie brechen hervor, mit aller Macht. Du hast es gesehen, genau wie ich. Zaide, auch wenn es dir schwer fällt, auch wenn es dir das Herz bricht, du musst aufhören, deine Schwester mit deinem Hass zu verfolgen, du musst Reshanne die Erlaubnis geben zu handeln.“
    „Als ob sie meine Erlaubnis bräuchte!“ murmelte Zaide bitter.
    [FONT=&amp]„Doch, natürlich! Was glaubst du, warum sie so lange gewartet hat? Deinetwegen! Sie will dich nicht verlieren. Genauso wenig wie Celia. Sie liebt deine Tochter. Aber sie hat keine Zeit mehr, wir alle ... haben keine Zeit mehr, Zaide.“



    [/FONT] „Ich verstehe nicht, warum es nicht funktioniert?“ Als habe sie Ranyias Worte nicht gehört, wandte Zaide sich ab und ging zurück zur Treppe. Ranyia folgte ihr und zuckte mit den Schultern.
    „Es war nur ein Versuch, eine Möglichkeit.“
    „Ja, nur liegen ihre Erinnerungen nicht so tief verschüttet. Das fühle ich. Und dann sind da noch ihre Träume. Sie sind zu intensiv und gehen zu sehr eigene Wege. Sie träumt Dinge, die ich ihr nicht eingegeben habe. Zu viele negative Dinge. Von ihrem Vater zum Beispiel.“
    „Du kannst nun mal nicht alles steuern, das sagte ich dir doch.“
    „Aber jemand tut es, Ranyia, jemand tut es!“
    Zaide musste seinen Namen gar nicht aussprechen, sie wussten auch so beide, dass nur Varik dafür in Frage kam. Offensichtlich war er es, der Celias Erinnerung blockierte.
    „Aber wieso? Was hat er davon, wenn sie sich nicht erinnert, wer sie ist und wozu sie fähig ist? Was nützt sie ihm in diesem Zustand?“



    +++