• Da ich jetzt monatelang fleißiger Gast und fleißiger Leser der vielen Fotostories war, möchte ich etwas zurückgeben und meinerseits Lesestoff zur Verfügung stellen.
    Es wird eine Geschichte, die in verschiedenen Welten spielt, mysteriös (glaube ich), romantisch (für alle Romantiker wie mich) und spannend (hoffe ich zumindest).
    Lob und Kritik sind wie bei allen anderen auch stets willkommen.
    Noch etwas allgemeines für alle, die es wissen wollen. Manche meiner Häuser baue ich selbst, manche sind heruntergeladen und meinen Bedürfnissen angepasst. Das gleiche gilt auch für die Skins. Infos gern über PN.
    Und nun genug der Vorrede! Viel Spaß beim Lesen!
    (Text unter den Bildern, Ausnahme: erster Abschnitt)





    Wir werfen gleich einen Blick ins Wohnzimmer von Josie und Matt! Sie sind zwar nicht die eigentlichen Helden dieser Geschichte, aber unwichtig sind sie deshalb nicht. Ganz im Gegenteil!
    Im Grunde lieben sich die beiden sehr, letzte Woche hatte Matt sogar eine geschlagene halbe Stunde vor einem Juweliergeschäft gestanden und sich die Diamantringe angesehen. Zu heiraten erschien ihm auf einmal nicht mehr so abwegig.







    Aber heute Abend gab es einen furchtbaren Streit zwischen den beiden, Josie nannte ihn einen unsensiblen Tyrannen, knallte die Tür und warf ihm nur wenig später das Bettzeug vor die Füße.
    Also musste sich Matt mit dem Sofa begnügen und stellte sich die Frage, wieso eigentlich immer die Männer auf der Couch landeten. Worum ging dieser alberne Streit eigentlich? Er hatte es schon vergessen, irgendetwas vollkommen Belangloses in seinen Augen, nicht so für Josie!
    Es war ja nicht so, als hätten sie sich nie gestritten, aber diesmal war einfach alles außer Kontrolle geraten. Sie hatten sich Sachen an den Kopf geworfen, die man nicht so leicht wieder zurücknehmen konnte. Darum hielt er es zum erstenmal für möglich, dass sie ihre Drohung wahrmachte und ihn am nächsten Morgen verließ.
    Bei dem Gedanken zog sich ihm das Herz in der Brust zusammen und er starrte durch die Dunkelheit auf die Tür, hinter der Josie verschwunden war.
    Irgendwann fielen ihm schließlich die Augen zu, der Raum begann sich um ihn herum zu drehen und dann fand er sich plötzlich an einem unwirklichen Ort wieder, direkt neben sich seine Freundin, die ihn mit weitaufgerissenen Augen ansah.





    „Wo sind wir?“ flüsterte sie, doch ihre Stimme tönte durch die klare Nachtluft, als hätte sie in ein Mikrofon gesprochen.

    Er zuckte die Schultern. „Ich habe keine Ahnung! Das ist jedenfalls nicht unser Zuhause!“ Und sein Blick wanderte staunend über die Terassen des Gebäudes, vor dem sie standen. War es überhaupt ein Gebäude? Während rings umher absolute Dunkelheit herrschte, lag die Treppe vor ihnen eingetaucht in ein helles eigenartiges Licht. „Ehrlich gesagt, die Sache ist mir nicht geheuer!“ stieß er schließlich gepresst hervor.




    „Dazu besteht absolut kein Grund!“ ertönte eine sanfte, freundlich klingende Stimme direkt neben ihm, aber außer Josie konnte er niemanden entdecken. „Ihr müsst Euch nicht fürchten, Euch wird nichts geschehen,“ versicherte die Stimme. „Kommt zu mir!“

    „Wohin?“ fragte Josie stockend, nachdem sie sich von ihrem ersten Schrecken erholt hatte. „Wo bist du?“
    „Sieh nach oben, Josie, ganz nach oben!“
    Sie folgte der Aufforderung, ohne sich darüber zu wundern, dass die Stimme ihren Namen kannte, Matt tat es ihr gleich. Und tatsächlich. Auf der oberen Ebene stand eine Frau!





    „Ihr könnt getrost nach oben gehen!“ hörten sie die Stimme wieder direkt neben sich. „Oder wollt Ihr nicht erhalten, weswegen Ihr gekommen seid?“
    Josie sah zu Matt hinüber. „Verstehst du das?“ schienen ihre Augen zu fragen, doch er schüttelte nur den Kopf und meinte dann: „Was soll’s! Lass uns einfach nachsehen. Immer noch besser, als hier einfach nur rum zu stehen.“
    „Eine sehr weise Entscheidung!“ hörten sie die Stimme sagen und so machten sie sich auf den Weg nach oben. Hin und wieder warfen sie verstohlen einen Blick nach rechts und links auf die mit eigentümlichen Pflanzen bewachsenen Hänge und die hellen Säulen.




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    Oben angekommen, nickte ihnen die Frau freundlich zu, wandte sich um und begab sich auf das hinter liegende Podest.

    „Verzeiht mir die Theatralik! Doch es geschieht nicht mehr sehr oft, dass Menschen mich in meinem Reich besuchen. Sie verlieren den Glauben und die Fantasie, beides notwendige Schlüssel zu unserer Welt! Um so erfreuter bin ich, Euch hier zu sehen. Das lässt mich hoffen, dass auch andere wieder zu uns finden.
    Aber ich will Euch nicht langweilen! Schließlich seid Ihr für eine Geschichte gekommen. Und die sollt ihr auch bekommen!“
    „Eine Geschichte?“ wagte Josie vorsichtig einzuwerfen.
    „Aber ja, eine Geschichte.“ lachte die Frau. „Das ist meine Aufgabe. Ich bin die Bewahrerin und dies ist das Land der Träume. Es lebt von den Geschichten, und ich sorge dafür, dass sie nicht verloren gehen. Und nun folgt mir bitte! Ich möchte Euch etwas zeigen!
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  • Und weitergehts


    Seht Ihr das Mädchen dort unten am Teich?“ fragte die Bewahrerin, nachdem sie die beiden zu einer der unteren Terrassen geführt hatte. „Ihr Name ist Celia. Sie ist eine der Hauptpersonen meiner heutigen Geschichte!
    Natürlich ist nicht wirklich hier. In der realen Welt liegt sie in ihrem Bett und schläft. Sie träumt nur von diesem Ort. Früher kam sie oft hierher, denn ihr Glaube war stark, aber nun braucht sie meine Hilfe, um in meine Welt zu gelangen.




    Sehr glücklich sieht sie nicht gerade aus, nicht wahr? Das mag wohl daran liegen, dass ihr Leben zur Zeit gehörig aus den Fugen geraten ist.
    Celia hat nämlich ihr Gedächtnis verloren!
    Wie Ihr Euch vorstellen könnt, ist das allein für jeden Menschen schon ein großes Problem, aber für Celia und nicht nur für sie selbst ist dieser Verlust eine ausgesprochene Katastrophe!




    Oh verzeiht, ich sehe schon, ich verwirre Euch! Ich habe einfach zu selten das Vergnügen, Gäste zu begrüßen!

    Bitte, macht es Euch gemütlich, denn es wird eine lange Nacht!
    Ich werde also der Reihe nach erzählen!
    Es begann, nun - es war nicht wirklich der Anfang - aber ich denke, so ist es am besten, also .... es begann alles ....




    .... mit einem Unfall!
    An einem Sommerabend fuhr Dr. Nicolas Blandfort zur Nachtschicht in das Hospital von Ravensville.
    Er war noch jung, doch mit Leib und Seele Arzt, sehr zum Leidwesen seiner Mutter, die es lieber gesehen hätte, wenn er sich als Anwalt um die Verwaltung des Familienvermögens gekümmert hätte. Aber das lag ihm ganz und gar nicht, und da er schon immer genau wusste, was er wollte und einen mindestens ebenso starken Willen wie seine Mutter besaß, setzte er sich durch und studierte Medizin statt Jura. Die richtige Entscheidung, wie selbst seine Mutter neulich, wenn auch widerwillig zugeben musste, als man ihn trotz seiner Jugend zum stellvertretenden Leiter der Chirurgie ernannt hatte.
    Doch an diesem Abend wurde sein ganzes ruhiges und in geordneten Bahnen verlaufendes Leben auf den Kopf gestellt!
    Genau vor dem Hospital tauchte wie aus dem Nichts plötzlich eine Frau auf und lief ihm geradewegs vors Auto, ehe er noch anzuhalten vermochte. Bestürzt sprang er aus dem Wagen, um nach ihr zu sehen.





    Er eilte ins Hosital, rief nach einer Trage und brachte die Frau direkt in den OP, wo er nach einer gründlichen Untersuchung beruhigt feststellte, dass sie offensichtlich nicht schwer verletzt worden war.

    „“Sie müssen einen sehr guten Schutzengel haben!“ sagte er mit einem Lächeln der Erleichterung, als sie wieder zu sich kam, die Augen aufschlug und sich verwundert umsah.
    „Wo bin ich?“
    „Sie sind im St. Michael’s Hospital. Sie hatten einen Unfall, aber keine Angst, Sie haben sich weder etwas gebrochen, noch innere Verletzungen.“ versicherte er ihr, als er sah, wie sie erschrocken zusammenzuckte. „Nur eine große Beule und eine leichte Gehirnerschütterung von dem Aufprall!“

  • *




    Behutsam half er ihr vom Untersuchungstisch herunter. „Wir werden Sie vorsichtshalber zur Beobachtung hierbehalten, etwas Ruhe tut Ihnen sicher gut. Verraten Sie mir Ihren Namen?“
    „Meinen Namen?“ wiederholte sie verwirrt.
    „Ja! Wie heißen Sie?“
    „Ich...., ich weiß nicht, ich....“ Sie griff sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an den Kopf und stöhnte leise.
    „Schon gut!“ beruhigte er sie. „Das ist der Schock! Ich gebe Ihnen ein leichtes Beruhigungsmittel, dann werden sie gut schlafen und morgen sieht die Welt schon wieder viel besser aus!“
    „Nein,....das glaube ich nicht! Irgendetwas stimmt nicht mit mir!“ flüsterte sie vor sich hin, so dass er sie nicht verstehen konnte.





    Dann brach sie einfach zusammen und Nicolas konnte sie gerade noch auffangen. ‚Wie leicht sie ist’, wunderte er sich. Als man sie vorhin auf die Trage gelegt hatte, war ihm das gar nicht aufgefallen. Dabei war sie nicht gar nicht mager, sondern .... Nein, diese Gedanken gehörten sich nicht für einen Arzt. Aber er hätte lügen müssen, um zu behaupten, er hätte nicht bemerkt, dass seine Patientin ausgesprochen hübsch war und obendrein unglaublich strahlende Augen besaß, deren Farbe er nicht genau definieren konnte, sie lag irgendwo zwischen blau und grün. Sie erinnerten ihn an jemanden, doch ihm fiel im Augenblick einfach nicht ein, an wen. „Unwichtig!“ rief er sich selbst zur Ordnung und gab der inzwischen zurückgekehrten Schwester seine Anweisungen. Im Augenblick konnte er nichts weiter für sie tun.




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    [/B]Noch bevor Nick am nächsten Morgen nach Hause ging, zog es ihn noch einmal zu seiner mysteriösen Patientin. Weder das Schmerzmittel gegen die Kopfschmerzen, noch die Beruhigungsspritze schienen anzuschlagen und sie hatte die ganze Nacht wachgelegen, so hatte es die Schwester berichtet. Irgendwie fühlte er sich besonders verantwortlich für sie, auch wenn er an dem Unfall keine Schuld trug.
    Auf dem Flur traf er seine Kollegin, die Neurochirurgin Carla Winters, die gerade ihren Dienst antrat. Einer plötzlichen Idee folgend trat er an sie heran, erzählte ihr die Geschichte seines nächtlichen Abenteuers und bat sie, sein Unfallopfer noch einmal zu untersuchen.
    Gemeinsam betraten sie das Zimmer, Nick stellte der jungen Frau die Ärztin vor und diese begann mit der Untersuchung.




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    [/B]Aber auch Dr. Winters konnte sich danach nur seiner eigenen Meinung anschließen. Da organisch nichts festzustellen war, machte auch sie den Schock nach dem Unfall für die Amnesie verantwortlich.
    „Es sind ja noch nicht einmal 24 Stunden her. Geben Sie ihrem Körper die Chance, diesen Schock zu verarbeiten. Erholen Sie sich und grübeln sie nicht zu viel. Dann kommt ihr Gedächtnis von ganz allein zurück!“ meinte die Ärztin freundlich. „Und in der Zwischenzeit werden wir versuchen, herauszufinden, wer Sie sind. Irgendjemand vermisst sie sicher schon!“
    Sie konnte nicht wissen, wie recht sie damit hatte! Ebensowenig, dass dieser Jemand bereits anwesend war und sie alle misstrauisch und besorgt durch das Fenster beobachtete, ohne dass man sie im Zimmer bemerkte. Denn niemand vermochte sie zu sehen, solange sie selbst es nicht wünschte. Und im Augenblick wünschte sie sich nur eines, für ALLE unsichtbar sein zu können.





    Der Tag war ruhig vergangen und endlich hatte die Natur ihr Recht gefordert und die junge Frau war eingeschlafen. Dunkelheit lag über dem Zimmer, als plötzlich eine Frau im Zimmer erschien. Es war die gleiche Frau, die am Morgen die Untersuchung beobachtet hatte. Sie warf nur einen kurzen Blick in Richtung des Bettes, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die Balkontür. Dort leuchtete es plötzlich auf und aus dem Lichtball trat eine andere Frau, hochgewachsen, bleich und seltsam gekleidet.

    +++

  • ***





    Niemand öffnete ihr die Tür, noch tat sie es selbst, sie trat einfach durch sie hindurch, als wäre sie nicht vorhanden.
    Das Gesicht zu einer leichenblassen Maske erstarrt, leuchtete in ihren Augen ein unheilkündendes Feuer. Zaide war nicht einfach nur zornig, in ihr tobte ein wahrer Sturm widerstreitender, ungewohnt heftiger Gefühle, derer sie nur mit Mühe Herr zu bleiben vermochte.
    „Wie konnte das passieren, Semira?“ verlangte sie herrisch von der bereits anwesenden Frau zu wissen.
    „Ich kann es nicht erklären, Herrin!“ musste diese eingestehen, während sie beobachtete, wie sich das unheimliche Leuchten in Zaides Augen immer mehr verstärkte. „Sie ist ihre Runde gelaufen“, fuhr sie fast flüsternd fort. „...wie sonst auch, doch auf einmal rannte sie ohne ersichtlichen Grund auf die Straße. Ich konnte sie nicht aufhalten! Ich konnte es nicht!“
    „Was soll das heißen, du konntest nicht?“Täuschte sie sich, oder lag in der Stimme ihrer Herrin neben kaum gebändigtem Zorn noch ein unruhiger, wissender Ton der Sorge? „Du hast versagt, Semira“ warf Zaide ihr vor, während sie an ihr vorüber zum Kopfende des Bettes ging. „Deine einzige Aufgabe bestand darin, für ihre Sicherheit zu sorgen! Aber du hast versagt, und das wird Folgen haben, für uns alle!“





    Als wäre die Welle ihres Zorns plötzlich in sich zusammengebrochen, verschwand das Leuchten aus Zaides Augen, und zurück blieb nur ein Schatten tiefster Traurigkeit, der ihr Gesicht nicht mehr verlassen sollte.
    „Aber es hat doch niemand Verdacht geschöpft.“ Wandte Semira angesichts der Veränderung ihrer Herrin eifrig ein. „Als der Mann Hilfe holte, habe ich ihre Verletzungen geheilt, sodass er bei der Untersuchung nichts finden konnte. Ich veränderte ihre Blutproben, und ich habe sie seitdem keinen Moment aus den Augen gelassen. Ich bin sicher, niemand weiß oder vermutet auch nur irgendetwas! Unsere Welt ist nicht in Gefahr!“
    „Oh doch, das ist sie! Und nicht nur unsere. “
    „Das verstehe ich nicht! Wir nehmen sie mit uns, die Menschen werden sich kurz über ihr Verschwinden aufregen und es dann vergessen. Was kann daran so schlimm sein, dass es unsere Existenz bedroht?“
    „Törichtes Kind, das du noch immer bist.“ Beinahe zärtlich sagte ihre Herrin das. „Nach zweihundert Jahren solltest du doch wissen, dass es ihr in ihrem jetzigen Zustand unmöglich ist, unsere Welt zu betreten, noch können wir sie mitnehmen. Nur sie selbst kann sich verwandeln. Doch dazu fehlt ihr das Bewußtsein ihrer Existenz außerhalb dieser Welt.“
    „Dann lass sie uns woanders hinbringen, wo niemand sie kennt!“ wagte Semira einen letzten vergeblichen Vorschlag.





    „Hast du es denn immer noch nicht verstanden!“ rief Zaide, die durch ihre ungeheure Anspannung die Geduld verlor. „Das Risiko wäre viel zu groß! Sie hat mehr als nur ihr Gedächtnis verloren. Du kennst ihre Fähigkeiten, ahnst ihre Macht! Hätte sie die auch verloren, dann, .... Aber so ist es eine Katastrophe geworden. Versuche dir nur einmal vorzustellen, was geschieht, wenn sie die Kontrolle über etwas verliert, von dem sie nicht weiß, dass sie es besitzt!“ Semira senkte den Kopf, daran hatte sie nicht gedacht.
    „Vergib mir!“ bat sie nochmals, doch wenn sie glaubte, nicht noch mehr überrascht werden zu können, so sah sie sich getäuscht, denn Zaide winkte resigniert ab.
    „Nein, es war nicht dein Fehler. Ich habe das heraufbeschworen, schon vor sehr langer Zeit.“ Sie streifte das in tiefem Schlummer liegende Mädchen mit einem sanften, fast liebkosenden Blick, bevor sie sich gewaltsam von ihr losriss. „Wir müssen diesen Fehler korrigieren. Und zwar schnell, bevor es zu spät ist!“
    „Aber wie?“ fragte Semira. „Wir können doch gar nichts tun, das habt Ihr selbst gesagt!“
    „Wir nicht! Das stimmt! Wir benötigen Hilfe!“
    „Aber wer....“ Semira sah in das entschlossene Gesicht ihrer Herrin und verstand.
    „Sie ist die Einzige, die uns jetzt helfen kann.“ bestätigte Zaide ihre Vermutung, wandte sich ab und winkte Semira, ihr zu folgen. „Geh zurück in den Tempel und bereite mit Alyssa alles für ihre Ankunft vor. Wir haben nicht viel Zeit!“ Sie wartete die Antwort nicht mehr ab, sondern nickte Semira noch einmal zu, bevor sie verschwand. Nur Sekunden später löste sich auch die zweite Frau in einem Dunstschleier auf und ließ das Zimmer in tiefer Dunkelheit zurück.





    Habe ich Euch schon wieder verwirrt?“ fragte die Bewahrerin ihre Besucher und lächelte verlegen. „Ich fürchte, ich hatte einfach in letzter Zeit zu wenig Gelegenheit, meine Geschichten zu erzählen. Habt also bitte etwas Geduld mit mir!
    Vielleicht sollte ich Euch, bevor ich fortfahre, etwas über Zaide und ihr Volk erzählen. Dass sie keine Menschen sind, muss ich wohl nicht mehr extra erwähnen. Sie sind uralt, wie die Felsen, welche dieses Tal hier umgeben, und doch auch jung wie ein neugeborener Tag. Sie sind nicht unsterblich, zumindest nicht im Sinne Eures Menschenwortes. Denn ihre Lebensspanne ist um vieles, sehr vieles länger als die Eure. Doch wenn ihre Zeit gekommen ist, vergehen auch sie und werden eins mit dem Universum. Diese Wesen sind nicht allmächtig oder allwissend, auch wenn sie Fähigkeiten besitzen, die Ihr euch nicht einmal vorstellen könnt und über Wissen verfügen, das die Menschen sich niemals aneignen werden. Aber eines haben sie mit den sogenannten Sterblichen gemeinsam, sie sind nicht unfehlbar, wie Ihr bald sehen werdet.





    Zaide ist eine der Mächtigsten ihres Volkes, wenn auch nicht DIE EINE, deren Hilfe sie jetzt zu suchen gezwungen ist.
    Man nennt sie die Herrin der Seelen. Warum werdet Ihr noch herausfinden. Nur soviel für den Anfang. Sie bezieht ihre Macht aus den Geistern, den Seelen der Verstorbenen, über die sie gebietet. Ich weiß, Ihr betrachtet Euch als vernünftige und - wie nennt Ihr das – rationale (?) Menschen, die nicht an Spuk, Poltergeister und Übernatürliches glauben, aber tief im Innern habt Ihr Euch sicher schon die Frage gestellt, ob nicht doch ein Fünkchen Wahrheit in all diesen Erzählungen liegt. Ich versichere Euch, es ist mehr als nur ein Funke. Und immerhin, Ihr seid hier, nicht wahr?!
    Aber genug davon, ich denke, ich sollte jetzt fortfahren.
    Während Celia also ruhig und friedlich in ihrem Krankenbett schlief und nichts von all der Aufregung ahnte, die sie in beiden Welten verursachte,...





    ... lief eine einsame Gestalt auf dem Dach des Tempels der Ewigkeit hin und her und wartete auf die Rückkehr ihrer Herrin Zaide. Noch breitete die Nacht ihre dunklen Schwingen über alles, doch in der Ferne sah man schon die ersten Strahlen der Sonne über dem Horizont. Nicht dass der Wechsel von Tag und Nacht hier eine Rolle spielte, denn Schlaf benötigte Zaides Volk nicht wirklich. Aber man hatte sich durch den ständigen Kontakt mit den Menschen einfach an deren Rhythmus gewöhnt und auch einige ihrer Gewohnheiten übernommen. Zudem liebte die Herrin des Tempels die Dunkelheit mehr als das gleißende Licht des Tages.





    Es gab einen Grund, warum Alyssa, Zaides andere Dienerin und zugleich auch engste Vertraute ihre Pflichten vernachlässigte und stattdessen unruhig auf dem Dach herumwanderte, immer wieder die Hände rang und in die Nacht hinausstarrte. Noch niemals war sie so besorgt gewesen, hatte noch nie solche Angst verspürt, nicht einmal als sie noch lebte. Doch anders als Semira, die erst später von Zaide erwählt worden war, kannte sie das Geheimnis, das ihre Herrin mit sich trug, ja sie hatte ihr sogar geholfen, es zu bewahren. Und selbst wenn sich jetzt alles als ein schrecklicher Fehler herausstellen sollte, bereuen konnte sie es nicht, wenn sie daran dachte, wie verzweifelt Zaide gewesen war.
    Ein feiner Lichtstrahl, der sich über den Himmel zog und direkt auf sie zu zu kommen schien, ließ sie in ihrer Wanderung innehalten. Endlich! Nicht angewiesen auf Treppen, gelang es ihr in Sekundenschnelle nach unten zu kommen,...





    ....wo Semira ihr schon entgegenkam und ihr, viel zu langsam, viel zu ausführlich für ihre Ungeduld, alles erzählte. Sie wollte sie schon unterbrechen, als ihr plötzlich der Atem stockte.
    „Sie will was?“
    „Sie will Reshanne zu Hilfe rufen.“ wiederholte Semira geduldig und wunderte sich über Alyssas entsetztes Gesicht. Zwar besaß auch sie eine gewisse Scheu vor der Großen Gebieterin, die man nur selten zu Gesicht bekam, aber wenn die Situation auch nur halb so ernst war, wie Zaides Besorgnis vermuten ließ, dann war ihre Hilfe nicht nur wünschenswert, sondern dringend nötig.
    Doch in Alyssas Kopf überschlugen sich die Gedanken. Reshanne! Über zweihundert Jahre hatten die beiden sich nur im Rat der Fünf getroffen, nur das Nötigste miteinander gesprochen. Das konnte nur bedeuten, es war alles noch schlimmer, als sie befürchtet hatte, es bedeutete, dass Zaide ihr Geheimnis lüften musste. Aber wie würde Reshanne reagieren? Immerhin hatte Zaide sich einem direkten Befehl widersetzt und sie alle hinters Licht geführt, ihr ganzes Volk!
    „Hast du gehört, was ich gesagt habe, Lyssa?“ wurde sie von Semira aus ihrer Grübelei gerissen. „Wir müssen uns sputen. Die Sonne geht bald auf, dann sollten wir fertig sein.“
    Alyssa nickte. Semira hatte recht.



    +

  • *





    Nur wenig später, die große fensterlose Halle im Innern des Tempels erstrahlte nun im Licht zahlloser Kerzen, öffneten sich die schweren Flügeltüren am Eingang und Zaide kam herein. Alyysa warf einen raschen Seitenblick auf ihre Gefährtin. Bemerkte auch sie den dunklen Schatten auf dem Gesicht der Herrin? Spürte sie, was dieser Schritt die Herrin kostete? Ahnte sie, dass dies der Beginn einer großen Veränderung sein könnte, sein würde?
    Nein! Wie sollte sie auch! Schmetterling hatte Zaide sie genannt, als sie das Mädchen bei sich aufnahm. Und wie ein bunter wunderschöner Schmetterling hatte die lebhafte Semira wieder Freude und Lachen in den Tempel gebracht. Jetzt war sie nur zerknirscht und auch traurig, weil sie der Herrin mißfallen hatte und sich selbst für Celias Unfall verantwortlich machte.
    Zaide nickte den beiden Frauen zu und ging an ihnen vorbei in den hinteren Teil der Halle. Doch statt sich nun wie erforderlich diskret zu entfernen, eilte Alyssa ihr nach kurzem Zögern nach.





    „Herrin?“ Zaide wandte sich um.
    „Es tut mir so leid!“ flüsterte Alyssa. „Gibt es denn keinen anderen Weg?“
    „Nein, Lyssa. Wir können es nicht länger geheimhalten. Zuviel steht auf dem Spiel.“
    „Aber wird sie nicht fürchterlich zornig sein, wenn sie es erfährt?“
    „Das habe ich damals in Kauf genommen, und das werde ich auch jetzt. Beruhige dich, Reshanne mag zwar ehrfurchtgebietend sein, aber sie hat lange nicht mein aufbrausendes Gemüt. Und wir brauchen sie. Mit ihrer Hilfe gelingt uns vielleicht beides, Celia vor der Welt und die Welt vor Celia zu beschützen. Und jetzt geht! Beide!“ In ihrem Befehl lag ein solch bestimmender Ton, dass er weitere Einwände oder gar Widerspruch nicht mehr zuließ.





    „Komm Lyssa!“ Semira schob ihre Hand schüchtern in die der andern. „Wir können ja doch nichts weiter tun.“ Dies war eine völlig ungewohnte Situation für sie. Normalerweise war die sanfte, stille Alyssa die Stärkere von ihnen, strahlte Ruhe und Sicherheit aus. Niemals hätte Semira es für möglich gehalten, dass ausgerechnet sie einmal derart aus dem Gleichgewicht geraten würde. Irgendetwas ging hier vor, dass sie nicht verstand. Aber vielleicht war das auch besser so.
    Und während die beiden nun die Halle verließen, trat Zaide vor das Bild der Großen Mutter, der Schöpferin ihrer Welt, von der sie alle abstammten. Längst hatte diese den letzten Weg beschritten und sich mit dem Universum verbunden, doch ihr ganzes Volk bewahrte ihr ein ehrendes Gedenken.





    Sie kniete vor der Statue nieder, schloß die Augen und begann in Gedanken nach Reshanne zu rufen. Nichts. Wieder und wieder versuchte sie es, lauschte in die Stille, ohne Erfolg. Schließlich öffnete sie die Augen, riß den Kopf nach oben und rief mit lauter Stimme:
    „Reshanne!!! Ich weiß, dass du mich hörst. Ich weiß, ich habe dich gekränkt, mehr als das, aber bitte, komm zu mir! Ich brauche dich, ich brauche deine Hilfe. Wir alle brauchen deine Hilfe! Ich flehe dich an!“





    Schon glaubte sie, alles Bitten wäre vergebens gewesen, und ein Gefühl der Verzweiflung stieg in ihr hoch, als ein scharfer Luftzug durch die Halle fuhr und die Kerzen löschte. Und dann sah sie erleichtert die schemenhaften Umrisse einer Gestalt durch die Statue schreiten, senkte den Kopf und verharrte in dieser Haltung, in der Erwartung, angesprochen zu werden.





    „Du hast mich gerufen, Zaide. Hier bin ich!“ sagte eine tiefe aber wohlklingende Stimme.
    „Ich danke dir Gebieterin!“ erwiderte Zaide, richtete sich etwas auf, aber hielt den Blick weiterhin gesenkt, um der Großen Gebieterin, Führerin des Rates der Fünf und Herrscherin ihres Volkes den Respekt zu erweisen.
    „Seit wann bist du denn so förmlich?“ fragte die andere sarkastisch, ohne indes eine Antwort abzuwarten. „Es muss schon etwas Außergewöhnliches geschehen sein, dass du dich gezwungen siehst, MICH zu rufen, wo du doch immer noch einen so großen Groll gegen mich hegst. Und das, obwohl du damals doch bekommen hast, was du dir wünschtest.“
    „Genau deshalb habe ich dich hergebeten. Ich, ....“ sie stockte und Reshanne runzelte die Stirn. Zaides Verhalten war so ganz und gar untypisch, dass sie sich ernsthafte Sorgen zu machen begann.
    „Sprich!“ befahl sie. „Was ist hier los? Und was hat das mit unserem Streit zu tun?“





    +++

  • Auch heute wieder danke für's Karma, die Kommis und die PNs.
    Da sich hier keiner weiter über die Texte geäußert hat, nehme ich einfach mal an, dass diejenigen, die gelesen haben, nichts weiter zu bekritteln hatten. Und so mache ich es weiter, wie man sagt, frei Schnauze!

    Ich habe mich zunächst mal von Arcor verabschiedet, weil ich mit einem Verlust von 30kb einfach nicht leben wollte. Hoffentlich sind die Bilder jetzt wieder so, wie auf meinem Rechner.
    Ok, dann mal los.






    Reshanne nahm auf dem vergoldeten Stuhl Platz, der normalerweise der Herrin des Tempels vorbehalten war und gebot Zaide, es ihr gleich zu tun.
    „Nun setz dich schon!“ wiederholte sie ihre Aufforderung, als Zaide noch immer zögerte. „Ich habe nämlich das unbestimmte Gefühl, dass man sich das, was du mir zu sagen hast, besser im Sitzen anhören sollte.“ sagte sie mit einem leicht spöttischen Unterton.
    Doch statt ihr nun eine ebenso spöttische Antwort zu geben, wie sie es gewöhnt war, nickte ihr Gegenüber nur stumm, bevor sie sich niederließ.





    Zaide warf einen vorsichtigen Blick auf die Gebieterin. Noch war diese ganz ruhig, aber das würde sich in den nächsten Momenten mit Sicherheit ändern. Seit ihrer Rückkehr aus dem Krankenhaus hatte sie in ihren Gemächern hin und her überlegt, wie sie ihr die Wahrheit sagen sollte, doch jetzt fehlten ihr einfach die Worte.
    „Nun?“ hörte sie Reshanne schon ungeduldig fragen. „Wie lange soll ich noch warten? Worum handelt es sich denn nun?“
    Zaide holte tief Luft und räusperte sich.
    „Es geht um Celia.“
    „Das war zu vermuten. Immerhin war sie der Grund für unsere Auseinandersetzungen. Was ist mit ihr?“
    „Sie hatte einen Unfall.“




    „Einen Unfall?“ wiederholte Reshanne ungläubig. „Wie bitte darf ich das denn verstehen?“
    „Nun ja, sie hatte einen Zusammenstoß mit einem Auto, hat sich dabei den Kopf angeschlagen und ...“
    Sie kam nicht weiter, denn Reshanne unterbrach sie bereits unwirsch. „Ein Auto? Wie, um alles in der Welt konnte sie einen Zusammenstoß mit einem Auto haben? Willst du damit etwa andeuten, dass sie in der Menschenwelt war?“
    „Ja.“ sagte Zaide so leise, dass man es kaum hörte.
    „Ich denke, dann schuldest du mir eine Erklärung, was sie dort zu suchen hatte.“ konstatierte Reshanne ungehalten. „Sie ist noch viel zu jung dafür.“
    „Ich fürchte, das war noch nicht alles.“
    „Was denn noch? Ist sie verletzt? Kannst du sie nicht heilen?“




    „Nein, das bereitete Semira keine Schwierigkeiten. Aber Celia hat ihr Gedächtnis verloren.“
    „Und?“ Reshanne vermochte Zaides Problem beim besten Willen nicht nachzuvollziehen. „Warum hast du sie nicht in eines unserer sicheren Quartiere gebracht, wo sich Daria um sie kümmern kann, bis sie sich wieder erinnert?“ Immerhin gab es niemanden, der mehr über Krankheiten wußte, Verletzungen besser heilen konnte, als die Herrin der Erde, Beschützerin der Natur und Gebieterin über deren Geschöpfe, ihre größte Heilerin und wie sie beide, Mitglied im Rat.
    „Daria kann ihr nicht helfen.“ widersprach Zaide.
    „Und ich kann dir nicht folgen. Du sprichst in Rätseln. Willst du nicht endlich zur Sache kommen?“
    „Ich fürchte, ich muss dir viel mehr erklären, als nur den Unfall.“ gestand Zaide schließlich ein. „Ich habe dich wegen Celia belogen, dich und auch alle anderen.“ Sie ignorierte geflissentlich das irritierte Heben der Augenbrauen ihrer Gebieterin, denn wenn sie jetzt nicht weiter sprach, fürchtete sie, würde sie es gar nicht mehr tun.




    Als sie endlich innhielt, herrschte Stille in der Halle, fassungslose Stille, man hätte die sprichwörtliche Nadel zu Boden fallen hören können.
    „Ich kann einfach nicht glauben, dass du DAS getan hast!“ brach es erschüttert aus Reshanne heraus. „Ausgerechnet du! Ein Mitglied des Rates! Und du setzt dich einfach so über unsere Gesetze hinweg! Hast du denn nicht EINMAL an die Konsequenzen gedacht?“
    „Doch,“ flüsterte Zaide.
    „Und trotzdem bist du diesen Pakt eingegangen? Wie konntest du nur? Weißt du eigentlich, was du damit angerichtet hast? In welche Gefahr du uns alle gebracht hast?“




    „Ich weiß!“ rief Zaide schmerzerfüllt. „Aber was hätte ich denn tun sollen? Du hast dich doch geweigert, mir zu helfen!“
    „Und zwar aus gutem Grund! Oder was glaubst du, wozu die Gesetze der Großen Mutter da sind? Unsere Welten können nun mal nur auf diese Weise existieren, und das bedeutet, dass Sterbliche bei uns nichts zu suchen haben!“
    „Also hätte ich sie ihrem Schicksal überlassen sollen?“
    „Ja!“ sagte Reshanne mit der gleichen Kälte, mit der sie auch damals Zaides Bitte abgelehnt hatte. „Das Wohl eines einzigen Menschen kann, darf nicht über dem der beiden Welten stehen!“
    „Aber sie wäre gestorben!“




    „Wach auf, Zaide!“ rief Reshanne wütend und sprang von ihrem Stuhl auf. „Menschen sterben! Manche früher, manche später, das ist ihr Los, der Lauf der Dinge seit Anbeginn der Zeit. Und auch du hast das nie in Frage gestellt!“

    „Stimmt!“ Zaide war jetzt ebenfalls aufgesprungen. „Aber bei Celia musste ich es tun! Warum wäre ich sonst zu dir gekommen? Wen hätte ich sonst um Hilfe bitten können, als dich, .... meine Schwester!“ Zum allerersten Mal an diesem Tag sah sie der anderen Frau direkt in die Augen und streckte ihr, verzweifelt um Verständnis flehend, die Hand entgegen.




    „Ich war für Celia verantwortlich! Genau wie du! Aber du wolltest sie einfach im Stich lassen!“
    „Ich habe gehandelt, wie es die Gesetze vorschreiben. Ich bin nicht wie du, ich war es nie. Meine Pflicht gilt unserem Volk genauso wie den Menschen, allen Menschen! Nicht nur einem. Das hast du schon damals nicht verstanden. Stattdessen hast du dich schmollend wie ein Menschenkind in deinem Tempel vergraben. Selbst jetzt, wo du die Folgen deiner Uneinsichtigkeit vor Augen hast, machst du es mir immer noch zum Vorwurf. Sieh es endlich ein! Alles hat seinen Platz im Leben, und Celias Platz war bei den Menschen, nicht bei uns!“
    „Aber sie hatte doch niemanden mehr!“ wandte Zaide ohne Erfolg ein. „Es tut mir leid,“ flüsterte sie letzendlich tonlos. „Es mag ein Fehler gewesen sein, aber, ... nachdem du.... Ich wusste mir einfach keinen anderen Rat mehr. Ich wollte sie nicht verlieren.“



    +

  • *



    „Du wolltest sie nicht verlieren!“ höhnte Reshanne. „Aber genau das wirst du jetzt. Sie verlieren. Du hast einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, wie die Menschen sagen würden! Und wie recht sie hätten! Deine Verzweiflung hat er ausgenutzt und dich betrogen. Für ein einziges Menschenleben hast du die Vernichtung unserer beiden Welten einfach in Kauf genommen!“ Sie schüttelte den Kopf. „Und all die Jahre hast du kein Wort darüber verloren.“ Entschlossen richtete sie sich wieder auf. „Ich werde das vor den Rat bringen, und du wirst dich vor ihm verantworten, Zaide. Und inzwischen werde ich alles tun, was nötig ist, um den Schaden zu begrenzen. Und wenn ich alles sage, dann meine ich auch alles!“




    „Was hast du vor?“ rief Zaide ihr, erschrocken über den seltsamen Tonfall, nach, als sie sich abwandte. Aber Reshanne antwortete ihr nicht. „Du kannst jetzt nach unten kommen, Alyssa!“ sagte sie statttdessen, ohne die Stimme wieder zu erheben, und nur wenig später erschien das Mädchen auf der Treppe zur Galerie. „Komm her!“ befahl die Gebieterin. „Und du, Zaide, lässt uns allein! Sofort!“ fügte sie hinzu, um jede weitere Diskussion zu unterbinden.




    Ohne sich zu vergewissern, dass Zaide ihrem Befehl Folge leistete, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die inzwischen herbeigekommene Dienerin, die sich verlegen dafür entschuldigte, gelauscht zu haben.
    „Schon gut,“ wehrte Reshanne ab. „Ich schätze deine Loyalität, auch wenn sie in diesem Fall unangebracht gewesen ist.“
    „Ich habe aus Liebe gehandelt, genau wie meine Herrin!“ versuchte Alyssa eine Erklärung, wurde aber gleich wieder unterbrochen.
    „Vernunft wäre hierbei eher von Nutzen gewesen. Aber dich kann ich nicht dafür verantwortlich machen. Ich habe einen Auftrag für dich, den du umgehend ausführen wirst.“
    „Ich stehe zu Eurer Verfügung, Gebieterin. Was habe ich zu tun?“
    „Du sollst die Wächterin zu mir rufen!“
    „Die Wächterin?!“ Alyssa konnte nicht verhindern, dass die Frage eher einem Schrei glich, so erschrocken, wie sie war.
    „Ja, die Wächterin!“bestätigte Reshanne ungerührt.“Und du wirst mit niemandem darüber sprechen, auch nicht mit deiner Herrin, hast du mich verstanden?“
    Alyssa konnte nur noch nicken, bevor sie mit einer Handbewegung entlassen wurde.



    +++

  • ***




    Sehr viel früher an diesem Tag, die Sonne war noch nicht aufgegangen, saß Nicolas Blandfort in seinem Büro im St. Michael’s und schrieb noch an einigen Patientenakten. Er hasste diesen Schreibkram, selbst wenn er notwendig war. Aber heute lag eine anstrengende Nachtschicht hinter ihm und er wollte eigentlich nur noch auf dem schnellsten Weg in sein Bett. Aber auch das war unmöglich, denn seine Mutter erwartete ihn zum Frühstück im Familienstammsitz, wo sie beabsichtigte, die unterbrochene Diskussion vom vergangenen Abend fortzusetzen.
    Er war nur dort gewesen, um seine kleine Schwester Arabella mal wieder in Schutz zu nehmen, weil sie in letzter Zeit für alles Mögliche Interesse zeigte, außer natürlich für die Schule. Und seine Mutter war darüber verständlicherweise nicht gerade begeistert.




    Er hatte die Wogen geglättet und wollte gerade gehen, als seine Mutter ihn zurückhielt.
    „Weißt du, wer mich heute angerufen hat?“ fragte sie in einem Ton, der nichts Gutes verhieß, doch er antwortete ruhig:
    „Nein, aber ich vermute, du wirst es mir gleich sagen.“
    „Caroline!“
    Natürlich, das hätte er sich ja denken können. „Sollte mich das etwas angehen?“ fragte er so unbeteiligt es nur irgend ging. Caroline Vandermere war nämlich so ziemlich das Letzte, worüber er an diesem Abend hatte reden wollen. Bedauerlicherweise schien seine Mutter da anderer Meinung zu sein.
    „Sie hat sich beklagt, dass du das Thema Verlobung bei Eurem letzten Dinner wieder einmal sehr geschickt vermieden hast. Warum, Nicolas?“ Sie löste sich aus dem Türrahmen und kam zu ihm herüber.




    „Warum entschließt du dich nicht endlich zu heiraten? Caroline ist so ein reizendes Mädchen, hübsch, gebildet und aus bester Familie.“
    „Und darauf legst du natürlich besonderen Wert, nicht wahr, Mamà? Wirklich, ich habe deine Vorliebe für die sogenannte gute Gesellschaft noch nie verstanden.“
    „Und ich begreife deine Ignoranz nicht, mein Lieber. Natürlich ist es von Bedeutung, woher sie stammt. Sie muss sich doch in unseren Kreisen bewegen können. Und das lernt man eben nicht so einfach.“
    „Aber hältst du es denn nicht auch für weitaus wichtiger, Mamà, dass ich die Frau liebe, die ich einmal heirate? Und sie mich?“
    „Sicherlich! Aber das schließt eine gute Herkunft doch nicht aus!“
    „Nein, natürlich nicht.“ musste er zugeben und seine Mutter lächelte enzückt.
    „Na bitte. Und jetzt erzähl mir nicht, du würdest nichts empfinden für Caroline! Ich habe doch Augen im Kopf. Sie liebt dich jedenfalls sehr. Das hat sie mir selbst gesagt.“




    „Hat sie das?“ Nicolas begann sich zunehmend unwohl zu fühlen, denn seine Mutter begann ihn auf ihre ganz eigene forschende Art anzusehen. Man konnte ihr ja eine Menge nachsagen, aber dumm war sie keineswegs, und sie kannte ihren Sohn besser, als es manchmal den Anschein hatte.
    „Nun?“ hakte sie nach.
    „Ich weiß nicht, was ich für sie empfinde.“ gab er offen zu.
    „Wird es dann nicht langsam Zeit, dir über deine Gefühle klar zu werden, mein Sohn?“ Das war keine Frage, sondern ein wohlgemeinter, wenn auch nicht zum ersten Mal erteilter Rat. Er nickte ergeben und gab seiner Mutter einen Kuss.
    „Tut mir leid, Mamà, ich würde das Thema ja gern weiter erörtern, aber im Krankenhaus warten ein paar Patienten auf mich.“
    Leider war seine Mutter diesmal nicht gewillt, das Thema einfach so fallen zu lassen. Zwar gab sie ihm den Kuss zurück, jedoch nicht ohne ihn zum Frühstück am nächsten Morgen zu sich zu bestellen.




    „Wir haben noch so einiges zu bespechen!“ Dieser Satz klang ihm die ganze Nacht in den Ohren. Einiges! Dass er nicht lachte. Caroline Vandermere und seine Verlobung mit ihr waren das einzige Thema, abgesehen von Arabellas Eskapaden, das seine Mutter derzeit beschäftigte. Dabei hatte Nick doch wirklich wichtigere Probleme. Seine Amnesiepatientin, zum Beispiel. Sie hatte bereits geschlafen, als er seine Schicht antrat, aber Dr. Winters, die auf seine Bitte hin ihre Betreuung übernommen hatte, versicherte ihm, es ginge ihr den Umständen entsprechend gut.

    Dennoch, bevor er die Klinik verließ, wollte er lieber selbst nach ihr sehen.




    Celia war gerade aus einem tiefen, aber traumgequälten Schlaf erwacht. Seltsame, wirre Bilder hatten sich in rasender Folge in ihrem Kopf gedreht, Unklare Bilder, die sie nicht verstand, die ihr aber Angst machten.
    Einen Moment sah sie sich verwirrt in dem dunklen Zimmer um. Wo war sie hier? Durch das Fenster sah sie die langsam verblassenden Sterne. Fast automatisch griff sie nach dem Lichtschalter und sofort war der ganze Raum von Licht überflutet.




    Sie versuchte aufzustehen, musste sich aber gleich wieder setzen, weil sich in ihrem schmerzenden Kopf alles zu drehen begann. Ihr Hals brannte, ihr Körper fühlte sich an, als wäre sie gegen eine Mauer gelaufen. Was war nur mit ihr passiert? Ihr Blick wanderte über die kühle Einrichtung und blieb an einem Wandschränkchen hängen, auf dem ein großes rotes Kreuz prangte. Sie war in einem Krankenhaus! Und auf einmal fiel ihr der Unfall wieder ein. Sie war nicht gegen eine Mauer gelaufen, sondern direkt in ein Auto. Das hatte man ihr zumindest gesagt.





    Sobald sich der kreisende Wirbel in ihrem Kopf etwas beruhigt hatte, ging sie mit unsicheren Schritten zu dem Waschbecken an der gegenüberliegenden Wand, füllte das auf dem Rand stehende Glas mit Wasser und trank es in einem Zug aus. Als sie es wieder abgestellt hatte, fiel ihr Blick in den Spiegel. Große, fragende Augen leuchteten ihr entgegen
    „Wer bist du?“ fragte sie ihr Gegenüber.
    „Weißt du es nicht?“
    „Nein!“
    „Dann wirst du es herausfinden müssen, für uns beide!“ Ihr Spiegelbild schüttelte traurig den Kopf, oder war sie es selbst? Irritiert wandte sie sich ab, lief ein paar Schritte ziellos im Zimmer umher, um schließlich an der Terrassentür stehenzubleiben.


    +

  • *




    Wie lange stand er jetzt schon vor dieser Tür und starrte die Klinke an, zwei Minuten, fünf? Warum ging er nicht endlich hinein? Wenn Schwester Carol aus dem anderen Zimmer kam, wäre sie mit Sicherheit sehr erstaunt, ihn immer noch hier vorzufinden. Dabei gab es keinen Grund für sein Zögern. Er war Arzt, sie seine Patientin. Also was hielt ihn davon ab, hineinzugehen? War es dieses merkwürdige Gefühl, dass ihn nicht mehr losließ, seit sie im OP die Augen aufgeschlagen hatte? Oder fühlte er sich einfach unsicher, weil er sie angefahren hatte, obwohl ihn inzwischen selbst die Polizei von jeder Schuld freigesprochen hatte.
    Er hörte Schritte hinter der zweiten Tür. Schwester Carol kam zurück. Er gab sich einen Ruck und klopfte leise an.




    Das Zimmer war hell erleuchtet, das Bett leer. Das Mädchen stand am Fenster und wandte sich langsam um, als er eintrat.
    „Guten Morgen“, sagte er, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte und sah zu seiner Patientin hinüber. „Meine Schicht ist zu Ende, und ich wollte noch einmal nach Ihnen sehen. Wie geht es Ihnen?“ fragte er, ganz Arzt. „Haben Sie etwas schlafen können?“
    „Ja, danke, .... Doktor....?“ Ihre Frage war überdeutlich und so half er ihr auf die Sprünge.
    „Ich bin Nicolas Blandfort. Sie hatten einen Zusammenstoß mit meinem Auto.“
    „OH, das waren Sie?! Tut mir leid, aber im Augenblick herrscht in meinem Kopf eine riesige Lücke, fürchte ich. Und nicht nur da.“ Sie lächelte ihn verhalten an. Fasziniert beobachtete er, wie ihre Augen sofort zu strahlen begannen.
    „Wo denn noch?“ fragte er und lächelte zurück.
    „In meinem Magen. Es fühlt sich an, als hätte ich seit Tagen nichts mehr gegessen.“




    „Nun, dem kann man leicht abhelfen. Es ist zwar noch nicht Zeit für das Frühstück, aber es ist bestimmt schon jemand in der Küche.“ Bei dem nun folgenden Telefonat hatte Celia Gelegenheit, den jungen Arzt von seiner charmanten Seite kennenzulernen. Er musste gar nicht lange reden, ein paar freundliche Worte genügten, und Celia wusste, dass man ihm am anderen Ende der Leitung seine Bitte nicht abschlagen konnte.
    „Setzen Sie sich hin, ich bin gleich wieder da!“ sagte er, nachdem er aufgelegt hatte und verschwand durch die Tür.



    Als er zurückkam, trug einen dampfenden Teller in der Hand, der einen köstlichen Duft verströmte. „Tut mir leid, dass es doch etwas länger gedauert hat“ entschuldigte er sich, obwohl bestimmt nur ein paar Minuten vergangen waren. „Lassen Sie es sich schmecken. Und alles aufessen, Sie müssen wieder zu Kräften kommen. Anweisung des Arztes!“ Wer hätte diesem strahlenden, gewinnenden Lächeln widerstehen können, zumal das Hungergefühl immer stärker wurde.




    Celia jedenfalls ließ sich nicht lange bitten, dazu roch es zu verführerisch.
    „Und schmeckt’s?“ fragte Nicolas, nachdem sie den ersten Bissen zu sich genommen hatte.
    „OH JA! Ist das Essen hier immer so gut?“
    Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich esse nur selten mal in der Cafeteria. Zu wenig Zeit!“
    „Das ist aber bestimmt nicht gesund, oder, Doktor?“ Sie warf ihm unter ihren langen schwarzen Wimpern einen schelmenhaften Blick zu und Nicolas musste lachen. „Nein, bestimmt nicht.“ gab er ihr recht.
    Und dann bat sie ihn, sich doch für einen Moment zu ihr zu setzen.




    „Tun Sie das eigentlich öfter, Doktor Blandfort, ihren Patienten etwas zu essen zu besorgen?“ fragte sie ihn, nachdem er Platz genommen hatte.
    „Na ja. Ich kann sie ja schließlich nicht verhungern lassen, nicht wahr?“ erwiderte er scherzhaft. „Und warum die Nachtschwester bemühen, wenn ich sowieso gerade hier war. Apropos, Sie haben mir noch gar nicht gesagt, wie es Ihnen heute morgen geht. Noch immer Kopfschmerzen?“
    „Rasende! Sieht ganz so aus, als sollte ich mich in nächster Zeit von Autos fernhalten.“
    „Zumindest die Zusammenstöße mit ihnen sollten Sie vermeiden.“ ging er auf ihren leichten Ton ein, wurde aber gleich wieder ernst. „Sie hatten großes Glück. Wäre ich schneller gefahren, hätten Sie vermutlich schwere Verletzungen davongetragen.“



    [B]
    [/B]„Sie haben recht, aber nicht zu wissen, wer ich bin, reicht mir völlig.“
    „Sie werden sich wieder an alles erinnern. Sie müssen nur etwas Geduld haben.“
    „Das sagt sich so leicht. Als ich vorhin auf die Patientenkarte am Fuß des Bettes gesehen habe, stand da „Jane Doe“. Dieser Name gefällt mir überhaupt nicht. Wer ist nur auf diese Idee gekommen? Stellen Sie sich vor, wieviele Frauen für immer mit demselben Namen leben müssen. Das macht mir Angst.“
    „Das muss es nicht. Die Polizei wird bestimmt bald herausfinden, wer Sie sind. Wahrscheinlich wohnen Sie hier irgendwo in der Nähe. Immerhin können Sie nicht einfach vom Himmel gefallen sein, auch wenn es für einen Moment ganz so aussah. Und wenn wir erst mal Ihren Namen wissen und Sie sich wieder in ihrem gewohnten Umfeld befinden, werden Sie sich bald erinnern.“
    Seine sanft klingende Stimme flößte Vetrauen ein und so aß sie in Ruhe zu Ende.




    [B]
    [/B]„Und jetzt,“ sagte er, als sie fertig war, „sollten Sie sich noch etwas hinlegen. Was Sie vor allem brauchen, ist Ruhe. Und auf gar keinen Fall eine Erkältung.“ fügte er nach einem bedeutsamen Blick auf ihre nackten Füße hinzu und wandte sich zum Gehen.
    „Ich glaube, ich mag ihn!“ dachte sie bei sich, während sie ihm nachsah. Laut aber rief sie: „Danke, Doktor Blandfort.“
    Beinahe hätte er sich umgedreht und sie gebeten: „Nennen Sie mich Nicolas.“ Aber das wäre nun wirklich zu weit gegangen. Dafür war es noch viel zu früh. Zu früh? Was zur Hölle dachte er hier eigentlich? Sie war seine Patientin!


    +++

  • ***



    Da war sie also nun, dort am Ende der Halle stand Marhala, die Wächterin in aufrechter Haltung. Alyssa sah sich scheu aber auch neugierig um, denn sie war in den fast dreihundert Jahren, die sie Zaide nun schon diente, noch nie hier gewesen. Niemand betrat diesen Ort ohne ausdrückliche Zustimmung Reshannes. Würde es dennoch jemand wagen, so hätte er kaum noch Gelegenheit, es zu bereuen, denn der Zorn der Wächterin würde den Frevler allzu schnell ereilen. Sie sei, so hatte man Alyssa erzählt, eine der ältesten ihres Volkes, eine Vollstreckerin, die nur dem Willen der Herrscherin diente. Wurde sie nicht gebraucht, schlief sie in diesem Tempel und verlängerte auf diese Weise ihr ohnehin schon langes Leben. Es hieß, sie habe vor Reshanne bereits zwei anderen Herrscherinnen gedient. Das allein erfüllte Alyssa mit tiefer Ehrfurcht.



    [B]
    [/B]Ganz langsam und bemüht, keine Geräusche zu machen, obwohl ihr die Unsinnigkeit ihres Tuns durchaus bewusst war, ging sie auf die Wächterin zu, die still und reglos, einer Statue gleich auf ihrem Platz verharrte. Doch ihre Augen waren weit offen und starrten sie direkt an! Alyssa schrak zurück. Niemand hatte sie darauf vorbereitet. War Marhala etwa schon erwacht? Aber nein, weder veränderte sich ihr Blick, noch rührte sie sich, und trotzdem hatte Alyssa das untrügliche Gefühl, die Wächterin würde sehr wohl alles um sich herum wahrnehmen.
    Für einen winzigen Moment, der hier, an diesem unwirklichen Ort, aber wie eine Ewigkeit erschien, wagte es Alyssa tatsächlich, darüber nachzudenken, Reshannes Befehl nicht zu befolgen. Warum nur ausgerechnet die Wächterin? Was sollte sie für Reshanne tun? Wenn ihre Herrin das erfuhr, es würde sie keinesfalls beruhigen.



    [B]
    [/B]Ganz plötzlich verspürte sie einen Luftzug, der durch die Halle pfiff, obwohl alle Fenster und Türen geschlossen waren, als ob sie jemand an ihre Pflicht erinnern wollte. Alyssa hielt es für besser, sofort mit dem Erweckungsgebet zu beginnen, bevor, wer auch immer diesen Ort beschützte, sie für einen Eindringling hielt. Zunächst noch zaghaft, doch dann immer lauter sprach sie die Worte, welche Reshanne sie gelehrt hatte. Schon nach der ersten Zeile begann der Boden unter ihr zu vibrieren und sie vernahm ein erst fernes, aber stetig näher kommendes Grollen.
    Doch dann... mit einem Schlag war wieder alles still, beklemmend still. Und eine Stimme, die aus jeder Ecke der Halle und zudem direkt aus ihrem Kopf zu kommen schien, fragte ungehalten:
    „Wer bist du, und warum hast du mich geweckt?“


    [B]

    [B]
    [/B][/B]Der Klang der Stimme bereitete Alyssa große Schmerzen, die jedoch nur ein Vorgeschmack dessen waren, was sie erwartete, falls sie die falsche Antwort gäbe. Wie dankbar sie sein konnte, dass sie jetzt in der Lage war, mit ausgestreckten Händen und tief gesenktem Kopf Marhala das Siegel der Herrscherin zu präsentieren.
    „Mein Name ist Alyssa, oh große Wächterin! Ich komme im Auftrag Reshannes.“ Der Schmerz versiegte und als die Wächterin nun antwortete, klang ihre Stimme vollkommen normal und sogar angenehm.
    „Ich erkenne das Siegel an.“ sagte Marhala. „Wenn die Nacht hereinbricht, werde ich der Gebieterin meine Aufwartung machen.“ Alyssa wagte es endlich, den Kopf zu heben und sie anzusehen. Freundlich, beinahe wohlwollend sah die Wächterin auf sie herunter.
    „Verzeiht, aber ich sollte Euch noch sagen, dass sie zur Zeit ...“
    „Im Tempel der Ewigkeit ist, ich weiß.“ beendete die Wächterin ihren Satz. Alyssas Erstaunen schien sie zu amüsieren. „Zwischen der Herrscherin und mir besteht eine Verbindung. Sobald ich erwacht bin, weiß ich sofort, wo sie sich aufhält. Und nun geh und melde ihr meine Ankunft.“
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    [B]

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    [/B][/B]Alyssa kehrte in ihren eigenen Tempel zurück, zog sich um und wartete auf den Einbruch der Nacht. Ihre Herrin hatte sich, so erfuhr sie von Semira, in ihren Gemächern eingeschlossen. Wie verzweifelt sie sein musste, konnte sie trotz ihres Wissens nur erahnen. Was würde sie erst sagen, wenn sie von der Wächterin hörte?
    Marhala kam pünktlich, gerade als die letzten Sonnenstrahlen der Erde gleichsam einen warmen Abschied gaben. Alyssa betrat die Halle und begab sich zu Reshanne, die sie bereits erwartete.
    „Sie ist hier, Gebieterin.“ teilte sie ihr mit, während sie leicht den Kopf senkte.
    Reshanne atmete tief durch, bevor sie befahl: „Führe sie herein!“ Alyssa neigte, zum Zeichen, dass sie verstanden hatte, den Kopf und tat, wie ihr geheißen.
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    [/B][/B]
    Wie jeder andere auch, der sich der Herrscherin näherte, kniete die Wächterin vor Reshanne nieder.

    „Ich stehe zu deiner Verfügung, Gebieterin. Was befiehlst du mir zu tun?“
    Doch statt ihr zu antworten, gebot sie ihr lediglich, sich zu erheben und wandte sich zuerst an Alyssa.
    „Danke, ich brauche dich jetzt nicht. Warte vor der Halle auf meine weiteren Befehle.“ Alyssa verneigte sich und ging, wenn auch schweren Herzens.
    „Alyssa?“ wurde sie noch einmal zurückgerufen. „Diesmal wirst du nicht auf der Galerie bleiben und lauschen, hast du verstanden?“ Wieder verneigte sich das Mädchen und ging zur Tür. Sie hatte tatsächlich mit dem Gedanken gespielt, aber nach dieser eindeutigen Warnung wäre das Wahnsinn gewesen.
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    [/B][/B][/B][/B]„Ich habe einen sehr wichtigen Auftrag für dich, Marhala!“ begann Reshanne, während Alyssa sich entfernte. „Du darfst unter keinen Umständen versagen, unsere Welt und die der Menschen steht auf dem Spiel.“
    „Nun, um die Menschen wäre es sicher nicht schade.“ entgegnete Marhala verächtlich. „Sie sind durch und durch schlecht, verlogen, gierig, neidisch und boshaft.“
    „Ich kenne deine Meinung, und ich teile sie, aber du musst sie jetzt in deinem Innern begraben. Dein Urteilsvermögen und deine Wachsamkeit dürfen nicht durch Vorurteile beeinträchtigt werden. Oder du wirst scheitern!“
    „Darf ich fragen, worin mein Auftrag besteht?“
    „Du sollst in die Menschenwelt gehen und dort jemanden für mich im Auge behalten.“
    Marhala runzelte angewidert die Stirn. Die Menschen! Sie besaßen keine Achtung vor dem Leben, vor dem, was ihnen die Große Mutter in ihrer Güte beschert hatte. Sie brachten ihrer Welt nur Tod und Zerstörung, aber dass sie jetzt auch eine Gefahr für ihre eigene Welt sein sollten, vermochte sie nicht so recht zu glauben.
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    +
    [/B][/B][/B]

  • *




    „Von wem sprecht ihr, Gebieterin?“
    „Es geht um Celia!“ Wahrlich, nichts hätte Marhala in größeres Erstaunen versetzen können.
    „Celia ist bei den Menschen? Wieso das denn? Wie konnte Zaide das zulassen?“ Sie sah sich einen Moment suchend um. „Ist sie etwa auch dort?“
    Reshanne schüttelte den Kopf und erzählte der Wächterin auf die Schnelle, was sie ihrer Meinung nach wissen musste. Wie nicht anders zu erwarten war, zeigte sich auch Marhala entsetzt von Zaides Handeln.
    „Was genau erwartet Ihr jetzt von mir, Herrin?“
    Reshanne erhob sich und trat nah an sie heran.



    [B]
    [/B]„Ich möchte, dass du auf sie aufpasst. Nur du kannst sie aufhalten, sollten Ihre Kräfte plötzlich hervorbrechen. Aber du sollst noch mehr tun. Ich möchte, dass du dafür sorgst, dass sie sich sowenig wie möglich an unsere Welt erinnert. Sie soll Gefallen am Leben der Menschen finden. Ich möchte, dass sie sich ein solches Leben wünscht. Nur dann wird sie sich aus freien Stücken dafür entscheiden.“
    „Das verstehe ich nicht. Wäre es nicht besser, ihr Gedächtnis wiederherzustellen, damit sie mit mir zurückkehren kann?“
    „Nein!“ wehrte Reshanne entschieden ab. „Das darf nicht geschehen! Unter keinen Umständen darf sie unsere Welt wieder betreten. Sie muss sich für die Menschen entscheiden!“
    „Verzeiht meine Frage, Gebieterin, aber wieso?“
    „Weil sie nur dann ihre Kräfte verliert. Sie MUSS darauf verzichten. Sie MUSS! Hast du verstanden?“



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    [/B]
    [/B]Marhala nickte. Noch nie hatte sie Reshanne derart besorgt erlebt, ja sie schien regelrecht Angst zu haben, Angst vor einem kleinen Mädchen, das mit seinen zweihundertsechsunddreißig Jahren gerade erst der Kinderstube entwachsen war!
    „So kannst du nicht gehen.“ konstatierte Reshanne nach einem kritischen Blick. “Auch wenn es dir nicht behagt, aber du wirst wenigstens nach außen hin eine etwas menschlichere Gestalt annehmen müssen.“
    Sie wartete Marhalas Zustimmung gar nicht erst ab, sondern hüllte sie in einen leuchtenden Nebel ein, der sie bald gänzlich umschloß, für einen Moment in die Luft emportrug und verwandelt wieder absetzte.
    „Und nun mach dich auf den Weg und enttäusche mich nicht!“
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    [/B][/B]„Wer ist das?“
    Reshanne, die sich gerade von Marhala verabschiedet hatte, schrak zusammen. „Was machst du hier?“ fragte sie ungnädig. „Ich hatte dir doch wohl deutlich zu verstehen gegeben, dass du hier nichts zu suchen hast im Augenblick?“
    „Das ist immer noch mein Tempel, ... Schwester!“ Gerade das letzte Wort hatte Zaide besonders betont, als sie aus dem Schatten ins Licht trat.
    „Du hast mich nicht als Schwester gerufen, Zaide!“ erwiderte Reshanne äußerst reserviert. „Und ich bin nicht als Schwester gekommen, sondern als deine Gebieterin. Es wäre sicher angebracht, wenn du dich daran erinnern würdest!“
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    [/B]
    [/B]
    [/B]Zaide ließ sich nicht beirren.
    „Ich habe dich gefragt, wer da eben weggegangen ist, Reshanne. Und lüge mich nicht an. Ich bitte dich!“
    „Ich denke nicht daran, dir irgendetwas zu sagen!“
    „Warum nicht? Wen, wenn nicht mich, ginge es etwas an, was du vorhast?“
    „Dich am allerwenigsten! Du hast mit deiner Unvernunft ausreichend bewiesen, wie wenig du in der Lage bist, Situationen wie diese zu meistern!“
    „Warum willst du es denn nicht verstehen, dass ich nicht anders konnte? Was hättest du denn an meiner Stelle getan?“
    „Das Richtige! Ich hätte das Richtige getan und sie dort gelassen, wo sie hingehörte.Aber du, DU hast dich von deinen Gefühlen leiten lassen!“
    „Was ist so falsch daran? Wir erlauben uns viel zu selten, unseren Gefühlen nachzugeben. Und was haben wir davon? Wir erstarren langsam, unsere Herzen gefrieren, wir sehen weder Freud noch Leid der anderen, es interessiert uns nicht mehr! Wie können wir dann noch für die Welten sorgen?“
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    [/B]„Zaide, hör auf!“ verlangte Reshanne. „Ich werde jetzt auf gar keinen Fall eine Diskussion über unsere Existenz mit dir führen, vor allem nicht nach dem, was du getan hast. Im übrigen wäre ich dir dankbar, wenn ich jetzt ein wenig allein sein könnte! Bitte geh!“ Obwohl ihre Stimme sich etwas müde anhörte, glich diese Bitte eher einem Befehl. Und mit Befehlen hatte Zaide seit jeher große Probleme.
    „Ich werde nicht gehen, Reshanne.“ sagte sie entschlossen. „Ich lasse nicht zu, dass du mich einfach ausschließt.“
    „Wieso sollte ich das nicht tun?“ fragte ihre Schwester gereizt. „Immerhin bist du schuld an dieser....“ sie suchte nach dem richtigen Wort, „... dieser dermaßen verfahrenen Geschichte, dass nicht einmal ich sie allein aus der Welt schaffen kann!“
    Zaide zuckte zusammen. „Was soll denn das heißen?“ Doch Reshanne antwortete nicht, sondern hüllte sich stattdessen selbst in den gleichen leuchtenden Nebel ein, wie zuvor Marhala und ihre Flügel verschwanden. Dann wandte sie sich einfach um.
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    [/B]„Zum letzten Mal, Zaide.“ sagte sie, während sie davonging. „Du wirst dich von jetzt ab aus der Sache heraushalten!“
    Für einen Moment blieb Zaide wie betäubt stehen. Reshannes Worte konnten im Grunde nur eines bedeuten, sie hatte noch jemanden in ihr Geheimnis eingeweiht, jemand, dem sie absolut vertraute, der ihr helfen sollte. Und da kam eigentlich nur eine in Frage. Doch diese Vorstellung erfüllte sie regelrecht mit Entsetzen.
    „Das hast du nicht getan!“ rief sie der Schwester nach und eilte ihr durch die Halle hinterher. „Reshanne! Du hast doch nicht Marhala gerufen, doch nicht sie! Was hast du vor? Was hast du ihr aufgetragen? Reshanne!“
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  • ***




    Zaide lief an ihr vorbei, die Stufen hinunter und baute sich vor ihr auf. „Warum ausgerechnet Marhala? Jede andere hätte sich genauso um Celia kümmern können!“ rief sie. Reshanne blieb stehen und sah mit unbewegter Miene über sie hinweg, als überlege sie, ob sie die Schwester überhaupt noch einer Antwort würdigen sollte.
    „Eben nicht!“ meinte sie schließlich.
    „Wieso nicht? Sie ist doch nur ein unschuldiges junges Mädchen?“
    „Ein Mädchen? Ja, aber eines, dessen Macht sich immerhin als stark genug erwiesen hat, um die Barierren zu überwinden, mit denen du sie hier festgehalten hast! Sieh es ein, du kannst sie nicht mehr vor ihm beschützen. Sie ist jetzt schon stärker als DU! Du weißt es, oder weshalb hast du mich gerufen? Und jetzt verlangst du, ich solle tatenlos dabei zusehen, wie ihre Kräfte weiterwachsen, bis niemand sie mehr kontrollieren kann?“
    „Nein, natürlich nicht! Aber ich dachte, du würdest ihr helfen, statt sie zu vernichten!“ Erschöpft wandte sich Zaide ab.





    „Ich will sie nicht vernichten!“ Reshanne verlor die Geduld. „Ich will, ich muss nur verhindern, dass sie ihm in die Hände fällt! Hättest du ihr die Wahrheit gesagt, oder irgendeinem von uns, wäre sie nicht weggelaufen. Hier, auf unserem eigenen Territorium hätten wir sie beschützen können, aber in der Menschenwelt ist sie eine leichte Beute für ihn.“ Ganz bewusst verschwieg sie der Schwester ihre Befürchtung, dass er sie womöglich bereits gefunden hatte, dass dieser Unfall, so wie Zaide ihn geschildert hatte, womöglich auf sein Konto gegangen war.
    „Und was willst du dagegen tun?“ fragte ihre Schwester aufgebracht.
    „Alles was nötig ist, das sagte ich bereits.“
    „Was nötig ist, oder was du willst?“ Das war schon keine Frage mehr, sondern eine offene Beleidigung.
    „Du wirst ungerecht, Zaide!“entgegnete sie im Bemühen, ruhig zu bleiben. „Ich liebe sie genauso wie du!“
    Doch Zaide lachte bitter auf. „Und deshalb schickst du ihr Marhala hinterher? Um sie zu töten?“
    „Nur wenn ich keine andere Wahl habe! Und nur weil du damals nicht fähig warst und es auch heute noch nicht bist, muss ich diese Wahl für dich treffen!“ Reshanne sah auf ihre Schwester hinunter, aber die weigerte sich noch immer, sie anzusehen. „Auch gut!“ meinte die Herrscherin nach einigem Schweigen und wandte sich zum gehen. „Du weißt, wo du mich findest. Und wage es nicht, die Menschenwelt zu betreten!“




    Bevor Reshanne den Tempel verließ, suchte sie noch einmal die beiden Dienerinnen auf, die in einem kleinen Pavillon unruhig ihrer Herrin harrten. Um Semira machte sie sich weniger Gedanken. Zaides Schmetterling hatte viel zu viel Respekt vor ihr, als dass sie etwas gegen ihren Willen tun würde. Bei Alyssa hingegen sah die Sache anders aus. Es war nicht üblich, einen Menschen länger als dreihundert Jahre in seinen Diensten zu lassen, aber Zaide behielt das Mädchen bei sich, mehr als Freundin, denn als Untergebene. Was immer ihre Herrin verlangen würde, Alyssa würde jede Regel brechen, sollte es nötig sein. Und dem galt es jetzt einen Riegel vorzuschieben.
    „Ich möchte dich noch einmal an deine Anweisungen erinnern!“ sagte sie, nachdem sie Semiras respektvollen Gruß mit einem gnädigen Kopfnicken zur Kenntnis genommen hatte. „Celias Schicksal liegt nicht länger in den Händen deiner Herrin. Diesmal wirst du dich daran halten, wenn du deinen Platz im Licht nicht aufs Spiel setzen willst. Du weißt selbst am besten, was mit den verdammten Seelen geschieht. Also zwing mich nicht dazu, dich zu verstoßen. Das täte mir leid!“
    Alyssa sagte nichts, senkte nur den Kopf zum Zeichen, dass sie verstanden habe. Und Reshanne ließ es dabei bewenden.




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    [/B]Nur wenig später, Reshanne hatte den Tempel gerade verlassen, kam Zaide zu den beiden Mädchen. Besorgt und tieftraurig ließ sie sich auf dem Schemel im Pavillon nieder.
    „Ihr wisst es also!“ Ein Blick in das Gesicht ihrer Herrin genügte Alyssa, um das zu erkennen. „Es tut mir leid, dass ich Euch nicht vorwarnen konnte, aber sie hatte es mir verboten.“
    Zaide winkte ab. „Schon gut. Du hast richtig gehandelt. Es reicht, wenn ich mir ihren Zorn zuziehe.“
    Nun erzählte ihr Alyssa von Reshannes Anweisung.
    „Sie hat ihr offen gedroht!“ flüsterte Semira, noch immer sowohl erschrocken als auch seltsam empört, und warf sich Zaide zu Füßen. „Aber das ist uns egal. Wir werden Euch helfen, wo immer wir können!“
    Alyssa und Zaide sahen sie beide gleichermaßen überrascht an. Selbst Semira schien ihr eigener plötzlicher Mut zu erstaunen. Ihr Mund verzog sich zu einem verlegenen Lächeln. „Also? Sollen wir uns auf den Weg machen?“
    „Nein!“ lehnte Zaide ihr Angebot ab. „Es hätte wenig Sinn. Denk an den Unfall. Ihr könntet sie zwar beobachten, doch das würde nicht reichen.“
    „Aber....“
    „Ich weiß, Ihr meint es gut, und ich bin Euch beiden sehr dankbar. Aber Ihr seid beide tot. Nur meine Kraft hält Euch in dieser Welt, nur hier könnt ihr Gestalt annehmen. In der anderen Welt seid ihr kaum mehr als Geister. Ihr könnt sie als meine Boten betreten aber nicht mehr als Menschen. Das hier ist etwas, dass ich allein in Ordnung bringen muss!“
    „Können wir denn gar nichts tun?“ fragte Alyssa beinahe verzweifelt.
    „Doch! Erfüllt eure Aufgaben, als wäre nichts geschehen. Und seid blind und taub für alles andere!“






    +

  • ***




    Nicolas kam müde und erschöpft aus der Klinik. Man hatte ihm gesagt, seine Mutter wäre noch nicht nach unten gekommen. Na ja, es war ja auch noch sehr früh. Also beschloß er, sich noch einen ruhigen Moment in der Bibliothek zu gönnen, bevor er sich der Auseinandersetzung mit seiner Mutter stellte.
    Ginge es nach ihm, würde er stehenden Fußes umkehren und sich in sein Bett werfen. Immerhin musste er schon am Nachmittag wieder in der Klinik sein. Aber wenn er jetzt das Haus verließ, bevor seine Mutter die Gelegenheit bekam, ihre Wünsche kundzutun, würde sie ihm das nie verzeihen. Noch in zehn Jahren müßte er sich ihre leisen aber genau gezielten Spitzen deswegen anhören. Dann brachte er es doch lieber gleich hinter sich.
    Er zündete den Kamin an und sah zu, wie die Flammen sich langsam am Holz entlangzüngelten.



    [B]
    [/B]Er liebte den hellen Schein der tanzenden Flammen, der die dunklen Bücherschränke in einem warmen Licht erstrahlen ließ. Er liebte diesen Raum, mehr als jeden anderen in diesem Haus. Schon immer hatte er sich hierher zurückgezogen, um nachzudenken, zu lesen oder, wie jetzt, einfach nur den Flammen zuzuschauen.
    Hier konnte er seinen Gedanken ganz besonders gut freien Lauf lassen, sie ordnen, sich selbst sammeln. Und heute war das nötiger denn je. Denn im Augenblick beschäftigte ihn vor allem eines, seine namenlose Patientin.
    War es klug gewesen, sie heute früh schon zu besuchen? Jedesmal wenn er mit ihr zusammentraf, spürte er diese merkwürdige Unruhe in sich aufsteigen. Er wurde nicht müde, sie anzusehen. Und ja, er hätte sie vorhin beinahe gebeten, ihn mit seinem Vornamen anzusprechen. So etwas war ihm noch nie passiert. Warum jetzt?




    [B]
    [/B]„Wie findest du das, Grandma Cressi?“ fragte er das Porträt von Lady Cressida Blandfort, das über dem Kamin hing, während er weiterhin dem Feuer zusah. Vielleicht mochte er diesen Raum ja auch deshalb, weil er schon als Kind fasziniert von ihr gewesen war und ihr schon damals von all seinen Problemen erzählt hatte. Im Gegensatz zu seiner Mutter hatte sie immer ein offenes Ohr für ihn gehabt.
    Natürlich war Cressida nicht wirklich seine Großmutter, vielmehr seine Ururururgroßmutter. Da fehlten mit Sicherheit noch ein paar Urs, deshalb kürzte er es seit jeher ab.
    Seine standesbewußte Mutter, der ihre Familie über alles ging (manchmal zu sehr, wie sein Vater kurz vor seinem Tod zu ihm gesagt hatte, obwohl er es nie bereut hatte, ihren Namen angenommen zu haben), sie hatte ihm irgendwann einmal erzählt, dass alle Mädchen der Blandforts ihre Augen von Lady Cressida erbten. Nur bei ihm und seiner Schwester war es genau umgekehrt. Er bekam Cressidas Augen, Arabella hingegen die ihres Sohnes Adrian, sehr zum Leidwesen seiner Mutter.
    Endlich prasselte das Feuer lustig vor sich hin, er streckte die Finger aus, die sich ein wenig klamm anfühlten, um sich zu wärmen, da hörte er plötzlich eine Stimme direkt neben ihm.




    [B]
    [/B]„Ich finde, dass du sehr vorsichtig sein solltest!“
    Keineswegs überrascht, sah er auf und drehte sich zu der Frau um, welche im Sessel neben dem Kamin saß.
    „Guten Morgen, Grandma!“ begrüßte er sie lächelnd, als sei es völlig normal. Und nicht zum erstenmal fiel ihm auf, wie unangebracht es doch war, sie angesichts ihres jugendlichen Aussehens als Großmutter zu bezeichnen. „Warum soll ich vorsichtig sein?“
    „Nun, du kennst das Mädchen doch gar nicht!“
    „Ich würde sagen, sie kennt sich selbst noch weniger.“ entgegnete er. „Aber es wird bestimmt nicht lange dauern, und wir finden ihren Namen heraus!“
    „Was bedeutet schon ein Name? Was weißt du sonst von ihr, von ihrer Persönlichkeit, ihrem Charakter?“
    „Ich hatte ja noch nicht viel Gelegenheit, aber ich fühle doch, dass sie mich berührt, auf eine ganz besondere Art.“ Er starrte einen Moment ins Feuer. „Es sind ihre Augen, glaube ich. Sie sind .... ungewöhnlich!“
    „Ungewöhnlich?“ fragte Cressida, stand auf und kam zu ihm herüber. „Was meinst du mit ungewöhnlich?“



    [B]

    [B]
    [/B]
    [/B]„Ich weiß auch nicht. Ich glaube, ich habe noch nie solche Augen gesehen! Sie leuchten mit einem solchen Feuer, man meint die Weiten des Himmels und die Tiefen des Meeres gleichzeitig in ihnen zu erkennen.“
    „Du wirst ja richtig poetisch!“ neckte sie ihn, aber er ging nicht darauf ein.
    „Ich weiß ehrlich nicht, was ich tun soll, Grannie. Ich sollte mehr Abstand zu ihr halten, stattdessen zieht es mich immer wieder zu ihr hin. Aber sie ist meine Patientin!“
    „Ja, das ist sie, im Moment! Aber das wird sie vermutlich nicht für immer bleiben, nicht wahr?“
    Diesmal musste er doch lachen.
    „Nein, natürlich nicht! Aber...“
    „Aber was? Ist es so schlimm, sich in ein Mädchen zu verlieben?“
    „Liebe?“ Entgeistert sah er Cressida an. Soweit hatte er noch gar nicht gedacht. Nein, soweit konnte das unmöglich gehen!
    „Und warum nicht?“ fragte sie ihn, als hätte sie seine Gedanken gelesen. „Liebe ist etwas sehr schönes. Und ich spreche nicht von jener oberflächlichen Beziehung, wie du sie zu Caroline hast, sondern von weitaus tieferen Gefühlen. Hast du nicht gestern selbst davon gesprochen, gegenüber deiner Mutter?“
    [B]


    [B]
    [/B][/B]Sie nahm ihn einfach in ihre Arme, wie sie es schon getan hatte, als er noch ein kleiner Junge war, und flüsterte ihm dabei ins Ohr. „Du bist so schrecklich erwachsen geworden, so ernst und nur auf deine Arbeit konzentriert. Es wird Zeit, dass du anfängst, das Leben zu entdecken, all die Wunder, die es für dich bereit hält, bevor du deine letzte Reise antrittst. Wenn du glaubst, etwas für dieses Mädchen zu empfinden, dann finde heraus, was es ist. Lass dich nicht von falschen Bedenken davon abhalten! Und vor allem, übereile nichts, lass dir Zeit, mit ihr, aber auch mit Caroline. Wenn sie dich wirklich liebt, wie sie deiner Mutter sagt, kann sie auf dich warten. “
    Er schloß die Augen und genoß die Geborgenheit, die er in ihren Armen stets verspürte.
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    [/B]
    [/B]
    [/B]Als er sie wieder öffnete, war sie verschwunden. Aber auch das beunruhigte ihn nicht. Er war daran gewöhnt, dass sie kam und ging, wie es ihr beliebte. Selbst wenn er sich in einer so ungewöhnlichen Haltung befand.
    Glücklicherweise kam in diesem Augenblick niemand zur Tür herein. Er wäre in arge Erklärungsnöte gekommen. Vor allem bei dem Gedanken, er müsse seiner Mutter etwas von Lady Cressida erzählen, wurde ihm schlecht. Catherine Blandfort würde ihn vermutlich umgehend zum nächsten Psychiater schicken. Nicht dass er an Geister oder ähnliches glaubte. Nein, Lady Cressida war ein Spiegel seiner eigenen Gedanken, eine heimliche, wenn man so wollte, imaginäre Freundin, die er mit niemandem teilen musste. Darum hatte er nie auch nur einer Menschenseele etwas von ihr erzählt.
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    [/B]Und daran würde sich auch in Zukunft nichts ändern! Das Zwie- oder vielmehr Selbstgespräch hatte ihm gut getan. Er straffte die Schultern und wappnete sich innerlich gegen die kommende Diskussion am Frühstückstisch. Einzig der Gedanke an Lucys wunderbare Omelette machte das Ganze erträglicher. Lucy war ein Schatz, für seine Mutter vor allem, weil sie als Hausmädchen und Köchin kaum zu ersetzen war, für ihn zählte es mehr, dass sie ein fröhlicher aufgeschlossener Mensch war, der sich, obwohl es nicht ihre Aufgabe war, auch um Arabella kümmerte und ihm Nachricht zukommen ließ, sobald es Schwierigkeiten gab. Zu seinem Leidwesen war er in der Klinik sehr eingespannt, sodass er nicht mehr soviel Zeit mit Arabella verbringen konnte wie früher. Außerdem gingen ihre Interessen mittlerweile sehr auseinander. Trotzdem, nach dem gestrigen Streit musste er sich etwas einfallen lassen! Wenigstens in diesem Punkt waren sie sich alle einig, so konnte es nicht weitergehen!
    Gut, bis zum Frühstück blieb immer noch etwas Zeit, statt also weiter hier rum zu sitzen – nichts täte er lieber – konnte er genauso gut nachsehen, ob Arabella bereits fertig war. Also verließ er mit einem letzten bedauernden Blick auf das warme Feuer die Bibliothek.
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  • *




    Sie war fertig und ausgesprochen schlechter Laune, wie er schnell feststellen konnte, als er ihr Zimmer betrat. Missmutig lag sie auf der Chaise und starrte Löcher in die Luft.
    Auf sein „Guten Morgen!“ reagierte sie nicht.
    „Heh, heh, sonst kriegt dein großer Bruder wenigstens eine Umarmung als Begrüßung!“ Als sie immer noch nicht hochsah, beugte er sich herunter, winkte mit der Hand vor ihrem Gesicht hin und her und grinste sie an. „Erde an Bella! Erde an Bella! Könntest du bitte auf Empfang gehen?“ Ein eher unverständliches Grummeln war die einzige Antwort. Offenbar schien sie heute nicht auf die übliche Masche anzuspringen. Also tippte er sie sanft auf die Schulter. „Nun komm schon, Bella, rück ein Stück und lass uns reden!“




    Vermutlich mehr in dem Bewusstsein, ihn ohnehin nicht los zu werden, als dass sie wirklich Lust auf eine Unterhaltung (oder sollte man lieber Standpauke sagen?)verspürte, kam sie schließlich hoch und machte ihm Platz. Um der befürchteten Predigt zuvorzukommen, begann sie, kaum dass er sich hingesetzt hatte, zu reden wie ein Wasserfall. Dass sie doch gar nichts unmögliches verlange, dass sie doch nur mehr Freiheiten haben wollte, dass sie überhaupt Freiheiten haben wollte, dass alle ihre Freunde es besser hatten, selbst wenn deren Eltern nicht ganz so reich waren, dass sie es satt hatte, immer nur unter der Kontrollsucht ihrer Mutter zu leben,....
    „Nun mal langsam!“ unterbrach er schließlich ihren Redeschwall. Das hörte sich ganz anders an, als gestern abend. „Worum geht’s dir eigentlich? Was genau passt dir denn nicht?“
    „Was?“ Arabellas Arm drehte eine Runde über die Wände ihres Zimmers. „Sieh dich doch mal um! Siehst du hier irgendetwas von mir? Das ist mein Zimmer, aber Mamà verbietet mir sogar, ein paar Bilder an die Wand zu hängen. Ich könnte ja die Wandbespannung beschädigen.“
    Er nickte. Das kam ihm bekannt vor. Vor vielen Jahren hatte er mit seiner Mutter die gleiche Diskussion geführt.




    „Weißt du,“ machte er wenigstens den Versuch einer Erklärung. „Mamà hängt halt sehr an diesem alten Kasten. Sie hat ihr ganzes Leben hier zugebracht, abgesehen von der Zeit nach ihrer Heirat bis zu deiner Geburt. Für sie gehört das Haus quasi zur Familie!“
    „Aber wir sind ihre Familie, nicht dieses Museum! Du hast es gut, du hast dein eigenes Haus und kannst darin machen, was immer du willst. Und ich? Ich ersticke in all dem altertümlichen Kram langsam. Sieh dir die Lampe an!“ Er drehte sich um und betrachtete die alte Ballon-Stehlampe neben der Chaise. „Sei ehrlich!“ forderte sie ihn auf. „Das Ding würde in das Zimmer unserer Urgroßmutter passen. Ich bin 15, Nick, keine 90!“
    Er gab ihr ja recht, es gab sicher geeignetere Einrichtungsstücke für das Zimmer eines Teenies. Er hatte sich damit arrangiert, weil er ohnehin nicht viel Zeit im Haus verbracht hatte und wenn, dann meist in der Bibliothek, aber für Bella schien sich das ganze zu einem riesigen Problem auszuwachsen.




    „Ich weiß nicht, was ich machen soll.“ klagte sie weiter. „Ich versuche ja, mit ihr zu reden, aber sie hört einfach nicht zu. Ich bin doch kein kleines Kind mehr. Ich möchte auch mal abends ausgehen, mit meinen Freunden etwas unternehmen. Stattdessen muss ich mir den lieben langen Tag anhören, dass meine Noten zu schlecht sind und ich meine Zeit lieber mit Lernen verbringen soll. Sie interessiert sich überhaupt nicht dafür, was ich will.“ Sie sah ihn an, seufzte leise und er hatte das unangenehme Gefühl, dass sie jetzt gleich die Katze aus dem Sack lassen würde. Er sollte sich nicht getäuscht haben.
    „Kann ich nicht bei dir wohnen?“ fragte sie vorsichtig und rückte ein Stück näher an ihn heran.
    „Bei mir? Das würde Mamà nie erlauben. Ich bin die meiste Zeit in der Klinik, es wäre niemand da, der sich um dich kümmern könnte.“
    „Aber ich will ja gar nicht, dass man sich ständig um mich kümmert, als wäre ich ein Baby. Ich möchte einfach nur mal ich sein, und das kann ich hier nicht!“
    „Du musst es einfach immer wieder versuchen!“ Tja, das hätte er wohl besser nicht gesagt!
    Denn Arabella maß ihn mit einem vernichtenden Blick, der eindeutig zu sagen schien: du hast ja keine Ahnung!




    Sie rannte in den Alkoven und zeigte auf das reichgeschnitzte Bett. „Da, siehst du das? Nur weil SIE früher in diesem Bett geschlafen hat, nur weil SIE es mag, muss ich ebenfalls darin schlafen. Obwohl ich ihr wieder und wieder gesagt habe, ich möchte etwas Moderneres. Weißt du, was sie geantwortet hat? Ich sollte mich glücklich schätzen, dass ich es habe. Andere würden alles dafür geben, könnten sie an meiner Stelle sein!“
    „Vielleicht hat sie damit gar nicht so unrecht. Möchte nicht jedes Mädchen einmal eine Prinzessin sein, wie eine Prinzessin wohnen, essen, schlafen?“
    „Ja, klar. Einmal! Und nicht mein ganzes Leben. Ich komme mir vor wie eine Puppe, herausgeputzt und verhätschelt. Irgendwann stellt sie jemanden ein, der mir die Schnürsenkel zubindet, oder schlimmeres....“ Wider Willen musste sie lachen, denn sie wussten beide, wovon sie sprach.




    „Ok!“ gab er sich geschlagen. Vielleicht war das ja doch keine so schlechte Idee. Arabella fiel ihm sofort um den Hals.

    „Schon gut, schon gut. Ich rede mit ihr. Aber ich kann dir nichts versprechen. Und wenn sie ja sagt....“ beeilte er sich, ihre Euphorie zu dämpfen. „Wenn sie ja sagt, wirst du dich auf den Hosenboden setzen und pauken. Wenn die Noten schlecht bleiben, bleibst du zuhause. Nichts mit weggehen! Und keine Parties bei mir zuhause, wenn ich nicht da bin, klar?“
    Sie grinste ihn an. „Klar doch! Und das mit der Schule ist kein Problem! Ist ja nicht so, als könnte ich’s nicht. Ich mag nur nicht. Es ist langweilig, und außerdem bin ich für Mum nie gut genug.“
    „Dann wirst du es in Zukunft eben weniger langweilig finden müssen, sonst schick ich dich postwendend zurück! Und jetzt werden wir tapfer in den Kampf ziehen und entweder siegen oder glorreich untergehen!“
    Er gab seiner Schwester einen freundschaftlichen Nasenstüber, schob seinen Arm unter den ihren und zog sie mit sich aus dem Zimmer, bevor er seine Entscheidung, sie vielleicht bei sich aufzunehmen, noch bereute.

    Das Frühstück, ein sehr unangenehmes Frühstück wartete auf sie beide!




    +++

  • ***




    „Ihr seid recht spät dran!“ wurden sie von Catherine Blandfort ungehalten begrüßt, als sie beide das Speisezimmer betraten. Ihre Verstimmung war leicht zu erklären, sie hasste Unpünktlichkeit, denn sie hasste es, zu warten.
    „Verzeih, Mamà!“ bat Arabella, bevor sie sich herunter beugte, ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange gab und ihr einen guten Morgen wünschte. Mit leicht säuerlicher Miene erwiderte diese den Gruß und hieß sie, sich endlich zu setzen, bevor sie sich zu ihrem Sohn umwandte.




    „Also wirklich, Nicolas!“ Ihr Blick wanderte in deutlicher Missbilligung über sein legeres Äußeres. „Hättest du dir nicht etwas Passenderes anziehen können? Das ist doch kein Bistro hier!“
    Ihr Vorwurf traf ihn nicht. „Tut mir leid, Mamà. Aber wie du sehr wohl weißt, komme ich direkt aus der Klinik. Ich hatte keine Zeit mehr, nach Hause zu fahren und mich umzuziehen.“
    „Ich verstehe sowieso nicht, warum du unbedingt in dieser schrecklich modernen Monstrosität wohnen musst. Hier ist das Zuhause unserer Familie und du hattest hier doch alles, was du brauchst.“
    „Diese Monstrosität, wie du es nennst, war Vaters Zuhause, und auch deins für eine gewisse Zeit. Damit kann es so schrecklich modern gar nicht sein. Ich mag es einfach, es ist komfortabel und liegt nicht weit von der Klinik entfernt.“
    „Aber es ist viel zu groß für dich allein!“



    [B]
    [/B]„Da hast du vollkommen recht!“ gab er unumwunden zu. Das lief besser als er gedacht hatte. Jetzt, wo seine Mutter selbst das Gespräch darauf gebracht hatte, ..... Aber man sollte sich niemals zu früh freuen, wie er schnell feststellen musste.
    „Siehst du!“ sagte sie in höchst erfreutem Ton gerade. Von ihrer Verstimmung war ganz plötzlich nichts mehr zu bemerken. „Deshalb wird es Zeit, dass du endlich ans Heiraten denkst!“
    Er stöhnte innerlich auf. „Nicht schon wieder, Mutter, das hatten wir doch gestern schon geklärt!“ Er versuchte, so energisch wie möglich zu wirken, aber sie ließ sich dadurch nicht beeindrucken.
    „Geklärt haben wir gar nichts. Es ist mir unbegreiflich, warum ein Mann in deinem Alter, beruflich und finanziell abgesichert, sich weigert, eine Familie zu gründen.“
    „Ich weigere mich doch gar nicht.“ Es hätte ihn warnen müssen, dass seine Mutter ihn auf einmal mit einem Ausdruck ansah, der an eine Katze erinnerte, die um den Sahnetopf herumschlich. Und doch traf es ihn unvorbereitet wie ein Schlag.
    „Bestens!“verkündete Catherine nämlich. „Dann hast du doch sicher nichts dagegen, wenn wir auf der Dinnerparty nächste Woche Samstag deine Verlobung mit Caroline endlich bekanntgeben. Es wartet ohnehin schon jeder darauf.“




    [B][B]
    [/B][/B]Für einen Moment verschlug es Nicolas die Sprache. Auch Arabella sah ihn überrascht und ein wenig ratlos an. Das war Mutters besondere Spezialität! Sie manipulierte die Menschen ihrer Umgebung, indem sie sie einfach überfuhr, sie vor vollendete Tatsachen stellte. Doch wenn Nicolas sich mit Caroline tatsächlich verlobte, dann war es aus mit ihrem Traum, bei ihm zu wohnen. Caroline würde niemals einen Teenager in „ihrem“ Haus dulden, und sie erst recht nicht.
    „Du sagst ja gar nichts.“ Man sollte meinen, seine Reaktion sollte Catherine wenigstens etwas verunsichern. Aber keine Spur. Honigsüß fuhr sie fort. „Ich weiß, du bist ein wenig schüchtern, mein Junge. Das hast du von deinem Vater. Hätte ich ihn nicht vor vollendete Tatsachen gestellt, hätte er mir vermutlich auch nie einen Antrag gemacht.“ Arabella riß die Augen auf und starrte atemlos auf ihren Bruder, der noch immer mit gesenktem Kopf einfach nur dasaß und, aber das merkte niemand, in Gedanken wieder und wieder bis zehn zählte, die Hände fest auf die Knie gepresst, um sich zu beruhigen. Er hatte in der Vergangenheit ihr zuliebe vieles getan, was er eigentlich nicht wollte. Auch wenn sie es einem nicht immer leicht machte, aber er liebte sie trotzdem. Nur diesmal ging sie eindeutig zu weit!
    [B]



    [B][B]
    [/B][/B][/B]Er hob den Kopf und sah seine Mutter an. Sie hätte ihm gar nicht zuhören müssen, ein Blick in sein Gesicht, indem seine Ablehnung klar zu lesen stand, hätte genügt.
    „Laß es mich ein letztes Mal, und in aller Deutlichkeit sagen, Mamá. Ich habe zur Zeit nicht die Absicht, mich zu verloben, weder mit Caroline, noch mit einer anderen Frau. Wenn es einmal soweit ist, werde ich es dir mitteilen und alles andere selbst in die Hand nehmen. Ich kann dir versichern, ich fühle mich durchaus dazu in der Lage. Ich möchte dich also dringend bitten, dich nicht weiter in mein Leben einzumischen.“
    Arabella unterdrückte nur mit Mühe einen Aufschrei. Wow, dachte sie stattdessen. So hatte sie ihren Bruder noch nie mit der Mutter reden gehört. Denn im Grunde war er ein sehr gutmütiger Mensch, den es nach Harmonie und Frieden verlangte. Und das hatte Catherine Blandfort bis jetzt stets zu nutzen gewusst.
    Seltsam war nur, dass ihre Mutter seine Zurechtweisung und mehr noch seine Ablehnung einfach so hinnahm. Statt jetzt aufzufahren und ihn des Undanks zu bezichtigen, wie sie es so gerne tat in den seltenen Fällen, in denen man ihr widersprach, presste sie nur kurz die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, musterte ihn mit einem undefinierbaren Blick unter ihren langen Wimpern hervor, bevor sie sich einfach an Arabella wandte, um sie nach der letzten Arbeit zu fragen.
    [B][B]



    +

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    [/B]

  • *



    Unterdessen begann Lucy, das Frühstück zu servieren. Sie schenkte den Geschwistern ein strahlendes Lächeln und Nicolas ein freundliches „Guten Morgen.“, das er nach dem abrupten Themenwechsel seiner Mutter dankbar erwiderte. Im Gegensatz zu Arabella wunderte er sich nicht darüber, denn auch das gehörte zu Catherine’s Art.
    Wenn es nicht nach ihrem Kopf ging, brach sie ein Gespräch ab, nur um es später ohne Vorwarnung fortzuführen. In den meisten Fällen gelang es ihr so, doch noch ihren Willen durchzusetzen. Aber in diesem Fall gedachte er, ähnlich wie bei seinem Berufswunsch, nicht nachzugeben. Tja, und wenn er sich seine Schwester so ansah, die sich zum wiederholten Male einen Vortrag über den Wert einer guten Ausbildung anhören musste, dann würde seine Mutter vermutlich gleich die nächste Überraschung erleben. Hoffentlich verkraftete sie das.
    „Du bist ein intelligentes Mädchen, alle Blandforts waren das, dir fehlt nur die Disziplin und ETWAS mehr Fleiß, junge Dame!“
    „So schlecht bin ich ja nun auch wieder nicht.“ maulte Arabella. „Ob ich nun mit einem D oder einem B nach Hause komme, das ist dir doch ganz egal. Niemals bin ich gut genug!“
    „Von einem Mädchen deiner Herkunft erwartet man eben mehr!“ wurde sie von Catherine in strengem Ton belehrt. „Noch nie hat eine Blandfort derart schlechte Noten erhalten, wie du. Das ist inakzeptabel!“




    [B]
    [/B]„Vielleicht bin ich ja keine Blandfort!“ sagte Arabella trotzig, ohne dem warnenden Kopfschütteln ihres Bruders Beachtung zu schenken. „Ich habe die falschen Augen, die falschen Haare, alles an mir ist falsch. Warum also nicht auch falsche Zensuren! Ich kann dir doch sowieso nichts recht machen, egal, was ich tue, du....“
    „Ich muss doch sehr bitten. Mäßige deinen Ton, junge Dame!“ schnitt die Mutter ihr das Wort ab. „Solange du in diesem Haus wohnst, wirst du dich an das halten, was ich dir sage!“
    „Vielleicht liegt genau hier das Problem, Mamà!“ warf Nicolas schnell ein, bevor Arabella, die gerade tief Luft holte, weiter aufbegehren konnte.
    „Was meinst du?“ fragte Catherine erstaunt.
    „Ich meine, es wäre vielleicht gut, wenn Bella eine Zeitlang bei mir wohnen würde!“




    [B]
    [/B]Klirrend landete Catherines Gabel auf dem Teller.
    „Wie bitte? Was hast du gesagt?“
    „Ich glaube, es wäre gut, wenn....“ wiederholte er, doch sie winkte ab.
    „Ich habe dich schon verstanden, ich kann nur nicht glauben, dass du das ernst meinst.“
    „Wieso nicht?“
    „Weil es überhaupt nicht in Frage kommt!“ Es geschah nur sehr selten, dass Catherine die Beherrschung verlor, aber im Augenblick hatte es ganz den Anschein, als würde sie jeden Moment explodieren.
    „Warum denn nicht?“ fragte er dennoch ganz ruhig.
    „Weil ....,“ sie war von seinem Vorschlag dermaßen überrascht, dass ihr doch tatsächlich die Argumente fehlten. „Weil meine Tochter auch in meinem Hause wohnt. Was würden denn die Leute von uns denken, dass ich nicht in der Lage bin, mich um mein eigenes Kind zu kümmern?!“
    Sie warf ihre Serviette in hohem Bogen auf den Tisch, sprang in völlig ungewohnter Heftigkeit von ihrem Stuhl auf, der krachend zu Boden stürzte. „Ich weiß nicht, was Euch beiden da in den Sinn gekommen ist, aber schlagt es Euch gleich wieder aus dem Kopf!“
    Und damit stürmte sie aus dem Zimmer.




    [B]
    [/B]Nicolas bedeutete Arabella, sitzen zu bleiben und in Ruhe zu Ende zu essen. „Ich regele das schon, aber mach dir nicht zu viele Hoffnungen.“ riet er ihr, bevor er der Mutter nachging. Wohin sie so schnell gegangen war, ließ sich unschwer erraten, denn er hatte das Speisezimmer kaum verlassen, als er auch schon Beethovens Musik aus dem Salon vernahm.
    Wann immer sich Catherine über etwas aufregte, setzte sie sich ans Klavier und spielte solange Stücke ihres Lieblingskomponisten Beethoven, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
    Nach der Art zu urteilen, wie sie auf die Tasten hämmerte, konnte das heute durchaus eine ganze Weile dauern.
    Leise trat er hinter sie.
    „Mamà?“
    Sie reagierte nicht.



    +

  • *



    „Nun komm schon, Mamà! Lass uns in Ruhe darüber reden!“
    Von Ruhe konnte keine Rede sein, stattdessen schlug ihre Hand mit solcher Gewalt auf die Tasten, dass er sie zusammenzucken sah. Trotzdem spielte sie ununterbrochen weiter.
    „Warum willst du es denn partout nicht einsehen? Bella ist 15, sie möchte ausgehen, ihre Freundinnen zu sich einladen, und vor allem möchte sie ein Zimmer, wie es ihr gefällt, nicht nach deinen Vorstellungen!“
    Rums. Wenn sie das Klavier weiter so bearbeitete, würden ihr irgendwann die Tasten um die Ohren fliegen.
    „Mamà!“
    „Ich denke nur daran, was gut für sie ist!“ sagte sie schließlich, ohne mit dem Spielen aufzuhören.
    „Das weiß ich doch.“ suchte er sie zu beschwichtigen. „Aber was ist mit ihren Wünschen? Die kennst du doch gar nicht?“




    Diesmal griffen ihre Finger daneben, die Dissonanz ließ sie das Gesicht verziehen. „Aber DU kennst ihre Wünsche, nehme ich an!“

    „Ich rede jedenfalls mit ihr und ich höre ihr zu. Wann hast du sie das letzte Mal gefragt, ob sie glücklich ist? Wann hast du sie das letzte Mal gefragt, warum ihre Leistungen in der Schule so schlecht geworden sind?“
    „Vor ein paar Minuten, wenn ich mich nicht irre!“
    „Und? Hast du ihr zugehört, hast du verstanden, was sie dir zu sagen versucht?“
    „Ich bin weder taub, noch fehlt mir der Verstand.“
    „Nein, nur das Verständnis für ihre Situation!“ Er hatte es leise, fast nur für sich gesagt, aber sie hörte es dennoch und diesmal spielte sie nicht weiter. Mit einem lauten Knall warf sie den Deckel des Klaviers zu und drehte sich auf der Bank zu ihm herum.




    „So, mir fehlt also das Verständnis?“ fuhr sie ihn an. „Was muss ich denn verstehen? Dass sie keine Lust hat zu lernen, dass sie sich mit Jungs herumtreiben will, statt ihre Aufgaben zu erledigen? Dass sie diese schreckliche Musik hören will, statt endlich Klavier spielen zu lernen? Dass sie keinerlei Respekt oder Sinn für Tradition besitzt? Muss ich DAS verstehen?“
    „Ja!“ sagte er schlicht. „Ich glaube, das musst du wohl. Die Zeiten ändern sich, Mamà, sie ändern sich so schnell, dass du nicht einmal Vergleiche zwischen meiner Zeit als Teenager und ihrer ziehen kannst. Ich bin ja auch nicht gerade begeistert von ihren Noten, das weißt du, aber du wirst nichts daran ändern, wenn du sie den ganzen Tag in ihrem Zimmer über den Büchern brüten lässt. Damit erreichst du nur das Gegenteil!“ Er hob die Hand, als er sah, dass sie wieder auffahren wollte und fuhr fort: „Du solltest wirklich darüber nachdenken, ob du sie nicht wenigstens bis zum Ende des Schuljahres zu mir ziehen lässt. Ich weiß, ich habe nicht soviel Zeit, wie du, aber ich denke trotzdem, dass ihr die Veränderung gut tun würde. So schön dieses Haus hier auch ist, aber für einen Teenager in ihrem Alter wirkt es tatsächlich eher wie ein Museum als ein Heim.“
    Er beugte sich zu ihr hinunter, doch da sie sich abwandte, verzichtete er diesmal auf den Abschiedskuss und ging nur mit einem leise gemurmelten: „Auf Wiedersehen!“



    [B]
    [/B]Ein paar Minuten später versuchte Catherine verzweifelt, sich mit ihrem morgendlichen Kreuzworträtsel zu beruhigen, zum Klavierspielen zitterten ihr zu sehr die Hände. Da kam Arabella ins Zimmer, in den Händen ein Heft.
    „Was gibt es?“ fragte Catherine nicht gerade freundlich.
    Arabella warf das Heft vor sich auf den kleinen Tisch.
    „Hier, du wolltest die letzte Arbeit sehen. B+. Ich erspar dir den nächsten Vortrag, ja, ich könnte besser sein. Ja, ich sollte mehr lernen.“
    „Ja, dann muss ich ja nicht mehr viel sagen, oder?“ Sie wandte sich wieder ihrem Rätsel zu, aber Arabella blieb stehen. „Ja?“
    „Darf ich dich mal was fragen?“
    Catherine nickte. „Bitte!“
    „Warum kannst du mich nicht einfach so nehmen, wie ich bin, Mum?“ Ein erstaunter Blick war die einzige Antwort, also winkte sie ab. „Ach vergiß es!“ und lief aus dem Salon.



    [B]
    [/B]Es gelang Catherine nicht, sich auf das Rätsel zu konzentrieren. Immer wieder schweiften ihre Gedanken zu dem ab, was Nicolas ihr gesagt hatte. Aber auch zu Bellas Augen, die verräterisch geglänzt hatten, als sie weggelaufen war. Also legte sie den Stift weg und blätterte die Zeitung durch.
    „Bin ich wirklich eine so schlechte Mutter?“ fragte sie sich selber, ohne zu bemerken, dass sie laut gesprochen hatte. Sie wunderte sich daher nicht wenig, als sie plötzlich eine Antwort bekam.
    „Sind sie nicht!“ sagte Lucy, die ihr gerade eine Tasse Kaffee gebracht hatte. Im ersten Moment wollte Catherine die junge Frau auf ihren Platz verweisen, was gingen sie die Probleme der Familie an, aber dann entschied sie sich doch dagegen. „Glauben Sie, Lucy?“
    „Aber sicher, Mrs Blandfort. Sie lieben ihre Kinder, das wissen sie auch.“
    „Aber?“
    „Nun ja....“ Lucy zögerte, bis Catherine sie ermutigte, weiter zu sprechen. „Es ist nur so, Miss Arabella scheint sich hier nicht besonders wohl zu fühlen. Mädchen in ihrem Alter haben halt ihre eigenen Vorstellungen vom Leben. Und sie ist immer so allein. Sie hat noch nie eine Schulfreundin mit hierher gebracht.“
    „Danke Lucy. Nehmen Sie den Kaffee wieder mit in die Küche. Ich mag im Augenblick nichts trinken.“


    +++

  • ***


    Am Nachmittag des gleichen Tages saß Nicolas wieder in seinem Büro in der Klinik und grübelte vor sich hin. Das Frühstück war noch schlimmer verlaufen, als er befürchtet hatte. Wegen Caroline machte er sich weniger Sorgen, doch seine Mutter davon zu überzeugen, Bella bei sich wohnen zu lassen, das würde wohl ein gehöriges Stück Arbeit bedeuten. Und das nicht mal aus vernünftigen Gründen, jedenfalls nicht aus seiner Sicht.



    „Dr. Blandfort?“
    Die Stimme riß ihn aus seiner Grübelei. Als er aufblickte, sah er eine junge Frau auf sich zu kommen. Der erste Gedanke, der ihm bei ihrem Anblick durch den Kopf schoß, war, dass er sich fragte, wie sie so plötzlich hatte auftauchen können. Er konnte doch nicht derart versunken gewesen sein, dass er die seit Ewigkeiten knarrende Tür seines Büros oder gar das Klopfen überhört hatte.
    „Sie sind doch Dr. Nicolas Blandfort?“ fragte sie, als er nicht gleich antwortete und er nickte mechanisch.
    „Verzeihen Sie, die Tür war offen und da Sie nicht reagierten....“ sagte sie mit einem Lächeln auf den Lippen, das ihre Augen aber nicht erreichte. Er schüttelte den Kopf und bat sie, Platz zu nehmen.



    [B]
    [/B]„Was kann ich für Sie tun, Miss...?“
    „Ich bin Mara Banning. Ich vermisse meine Freundin, und man sagte mir, Sie hätten eine Patientin, deren Beschreibung auf meine Freundin zutrifft. Sie ist zweiundzwanzig, hat kurze aber im Nacken schulterlanges braunes Haar mit einem leichten Violettton und blaugrüne, intensiv leuchtende Augen.“
    „Wir haben tatsächlich eine Patientin hier, die nach einem Unfall unter Amnesie leidet, und ihre Beschreibung scheint zu stimmen.“ sagte er merkwürdig gepresst und verstand sich selbst nicht mehr. Er hätte sich freuen müssen, dass „seine“ Jane Doe endlich ihren richtigen Namen zurückerhielt. Doch es gelang ihm nicht.
    „Wissen Sie, wir wohnen zwar zusammen, aber ich bin leider viel unterwegs. Deshalb komme ich auch erst jetzt.“ sprach sie weiter, als wäre ihr seine Einsilbigkeit nicht aufgefallen.




    [B][B]
    [/B][/B]“Ich war für zwei Wochen im Ausland und als ich gestern Abend zurückkam, war sie verschwunden. Die Polizei hat mich dann zu Ihnen geschickt.“
    Jetzt wusste er, was ihn dermaßen störte. Ihre Ruhe!
    Nicolas hätte angenommen, jemand, dessen Freundin verschwunden war, befände sich in heller Aufregung, wäre zumindest etwas nervös bei dem Gedanken, sie vielleicht gefunden zu haben, denn immerhin bestand ja trotzdem die Möglichkeit, dass sie es gar nicht war.
    Doch nicht ein Muskel in dem durchaus anziehenden Gesicht seiner Besucherin rührte sich. Ein verbindliches, aber nichtssagendes Lächeln, eine kerzengrade Haltung und.... merkwürdig kalt wirkende grüne Augen, die ihn - irrte er sich - mit einer gewissen Ablehnung musterten.
    Vielleicht sollte er ihre Angaben doch überprüfen lassen, nur zur Sicherheit.
    [B]



    [B]
    [/B][/B]„Das wirst du nicht!“ hörte er eine Stimme in seinem Kopf sagen. Ihre Stimme und doch auch wieder nicht. Diese war mächtig, befehlend und einschmeichelnd zugleich. Ihre Augen hielten seinen Blick gefangen, nicht mehr grün, sondern tiefrot, mit einem blitzenden Funkeln, dass sich in seine Seele zu brennen schien. Ein grausam stechender Schmerz durchzuckte seinen Körper, ließ ihn erstarren, nur um ihn gleich darauf wieder freizugeben. Er fühlte eine wunderbare Leichtigkeit in sich, alles Mißtrauen war verschwunden. Ein verzücktes, aber hätte er in den Spiegel gesehen, ziemlich dümmlich wirkendes Grinsen hatte sich über sein Gesicht gelegt, als er Miss Banning um den Namen Ihrer Freundin bat, für die Akten natürlich.
    Das Leuchten in ihren Augen verschwand, als sie ihm sichtlich zufrieden antwortete.
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    [B][B]
    [/B][/B][/B]Noch immer lächelnd, vielmehr grinsend, bat er sie, ihm zu folgen. Er würde sie zu seiner Patientin bringen. Ganz selbstverständlich hatte er ihre Geschichte und den Namen, den sie ihm genannt hatte, akzeptiert. Unterwegs informierte er Miss Banning in knappen Worten über den Unfallhergang, den Gesundheitszustand ihrer Freundin und was sie seiner Meinung nach noch wissen musste. Allerdings glaubte er zu bemerken, wenn er sie von der Seite ansah, dass sie ihm gar nicht wirklich zuhörte. Doch im gleichen Moment, als er begann, sich darüber zu wundern, spürte er wieder den gleichen Schmerz in seinem Kopf wie vorher im Büro und der Gedanke verschwand mit dem Schmerz.
    „Ich werde erst einmal allein hineingehen und sie darauf vorbereiten, wenn es Ihnen recht ist.“ schlug er vor, wartete ihre Zustimmung aber nicht ab, sondern betrat das Zimmer seiner Patientin.
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    [/B][/B][/B]„Dr. Blandfort!“ begrüßte sie ihn erfreut. „Sie kommen gerade recht.“
    „Wieso? Schon wieder ein leerer Magen? Muss ich wieder telefonieren? “ Ihr perlendes Lachen gefiel ihm.
    „Nein, keine Sorge. Das Mittagessen war ausreichend. Es ist etwas anderes. Ich würde so gerne raus aus diesem Zimmer. Ich fühl mich gut, aber Schwester Carol lässt mich nicht mal auf den Balkon hinaus. Können Sie nicht mit ihr reden?“ Wer würde diesen Augen widerstehen, noch dazu, wenn sie einen so flehend ansahen.
    „Es spricht nichts dagegen, wenn sie etwas frische Luft schnappen. Sie können auch für eine halbe Stunde in den Garten, aber nicht länger für den Anfang. Versprochen?!“ Sie nickte erleichtert. „Und jetzt habe ich noch eine Überraschung für Sie.“
    „Eine Überraschung? Was denn?“
    „Wir wissen jetzt, wer Sie sind. Ich sagte Ihnen doch, dass wir es herausfinden.“
    „Keine Jane Doe mehr?“
    „Keine.“
    „Wie... haben Sie...?“
    „Ihre Freundin hat uns alles erzählt, sie ist draußen, wenn Sie sich dem gewachsen fühlen, hole ich sie herein.“
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    +
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  • *




    Nach nur kurzem aber wohl verständlichem Zögern hatte Celia zugestimmt und Nicolas bat die Freundin ins Zimmer. Deren Aufmerksamkeit richtete sich sofort auf das Mädchen im Bett.
    „Darf ich vorstellen, Mara Banning und dies ist unsere Patientin und, wenn Sie sich nicht geirrt haben, ihre Freundin!“
    Zwei Augenpaare richteten sich erwartungsvoll auf die Frau. Die Spannung im Raum wuchs beinahe ins Unermeßliche und wieder ertappte sich Nicolas für den Bruchteil einer Sekunde bei dem Wunsch, die Besucherin würde den Kopf schütteln. Stattdessen nickte sie. „Das ist sie, das ist Celia Moreau!“
    Sie horchte in sich hinein, der Name klang tatsächlich irgendwie vertraut. Celia! Ganz tief in ihrem Innern wusste sie, dass man sie schon oft so gerufen hatte. Nur wer das gewesen war und wo, dass lag noch immer hinter einem dichten Schleier verborgen.




    [B]
    [/B]Trotzdem tauschte sie erleichtert einen Blick mit dem Arzt, der ihr daraufhin aufmunternd zunickte und meinte, er werde die Damen jetzt allein lassen, denn sicher gäbe es nun eine Menge zu besprechen. Er rückte Miss Banning einen Stuhl ans Bett und wandte sich zum Gehen, nicht ohne sie zu bitten, den Besuch im Interesse der Patientin nicht zu lange auszudehnen.
    „Du hast mir einen schönen Schrecken eingejagt!“ hörte er sie sagen, nachdem sie sich gesetzt hatte. Irritiert runzelte er die Stirn. Ihre Worte und ihr Tonfall passten überhaupt nicht zusammen. In ihrer Stimme war nicht eine Spur von diesem angeblichen Schrecken zu hören, keine Sorge, nichts. Nur vollkommene Ruhe, eine Gleichmut, die er in einer vergleichbaren Situation niemals aufbringen könnte. Oder doch? Er hatte sich die Frage gerade erst gestellt, als sie auch schon wieder verschwand. Er wusste nicht einmal mehr, woran er gerade gedacht hatte. Kopfschüttelnd ging er hinaus.




    [B]
    [/B]„Wir sind also Freunde?“ fragte Celia vorsichtig, nachdem der Arzt das Zimmer verlassen hatte. Mara nickte.
    „Das könnte man so sagen. Wir teilen uns ein Haus, seit etwa einem halben Jahr.“
    „Und woher kennen wir uns? Entschuldige, dass ich frage, aber ich kann mich leider an gar nichts mehr erinnern.“ Mara winkte ab.
    „Das macht nichts. Der Doktor hat mir das schon erzählt. Wir haben uns bei einem Vortrag über altägyptische Kunst an der Universität kennengelernt und festgestellt, dass wir nicht nur ähnliche Interessen haben, sondern uns bei unseren Problemen auch noch helfen konnten. Ich bin Archäologin, weißt du und deshalb nur wenig zuhause. Ich brauchte jemanden, der sich um mein Haus kümmert, wenn ich nicht da bin. Und du warst gerade auf der Suche nach einer neuen Bleibe, wo du genügend Platz für deine Bilder hast. Du bist Malerin, und eine ziemlich gute noch dazu.“




    Malerin? Und auch noch gut? Irgendwie konnte Celia sich das gar nicht vorstellen. Aber hatte sie sich nicht schon am ersten Tag im Krankenhaus recht intensiv mit den Bildern beschäftigt, die über ihrem Bett hingen? Zwei ausgesprochen hübsche Landschaften, perfekt gezeichnet, nur die Farben war ihr einfach zu blass, nicht stimmungsvoll genug gewesen. Und sie hatte den unglücklichen Platz bedauert, an dem man sie aufgehängt hatte. Zu wenig Licht, hatte sie Schwester Carol gesagt. Lag das alles tatsächlich daran, dass sie selbst malte?

    Celia sah die junge Frau nachdenklich an. Sie erschien ihr nicht unsympathisch und genau wie ihr Name seltsam vertraut. Und es gab absolut keinen Grund, an ihren Worten zu zweifeln.
    Mara ließ ihr aber auch kaum Gelegenheit dazu.


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    [/B][/B]„Ich werde dir jetzt nicht deine ganze Lebensgeschichte erzählen.“ meinte sie gerade. „Dazu haben wir später noch genug Zeit. Ich fahre jetzt schnell nach Hause und hole dir ein paar andere Sachen. Dieser Schlafanzug ist eine Zumutung.“
    Zum erstenmal lachten sowohl ihr Mund als auch ihre Augen und Celia stimmte in das Lachen mit ein. Wo sie recht hatte,....
    Mara stellte den Stuhl wieder an den Tisch zurück, beugte sich zu Celia herunter und drückte sie leicht, aber, wie Celia bemerkte, mit etwas Abstand, bevor sie zur Tür ging.
    „Ich komme so schnell wie möglich zurück, damit du aus diesem unmöglichen Zeug herauskommst! Und mach dir keine Sorgen, es wird alles wieder gut!“


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    [/B][/B]Der letzte Satz elektrisierte Celia förmlich. Ganz plötzlich und mit absoluter Gewissheit wusste sie, dass sie genau dieselben Worte schon einmal gehört hatte und zwar vor nicht allzu langer Zeit. Aber nicht von Mara, auch dessen war sie sich sicher.
    Mara spürte die fragenden Blicke in ihrem Rücken. Aber anders als bei Nicolas, konnte sie Celias Gedanken nicht einfach auslöschen. Was hatte Reshanne ihr geraten? Vorsicht, absolute Vorsicht, denn ganz gleich, was mit ihr geschehen war, Celia war noch immer intelligent genug, um alles in Frage zu stellen, das ihr nicht logisch schien und ihre Kräfte schlummerten zwar, aber sie waren stärker als jemals zuvor. Das hatte sie gespürt, kaum dass sie sich ihr genähert hatte.


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    [/B][/B][/B]Vor der Tür wartete der Arzt auf sie.
    „Und?“ fragte er.
    „Und was?“ fragte sie verständnislos zurück.
    „Hatte die Begegnung mit Ihnen irgendeinen Effekt?“
    „Oh?! Sie meinen, ob sie sich wieder erinnert? Nein, aber das haben Sie doch nicht wirklich erwartet?“
    „Erwartet? Nein! Aber vielleicht gehofft. Sie leidet so sehr darunter.“
    „Nun, das ist verständlich, aber nicht sooo tragisch. Jetzt ist sie ja nicht mehr allein.“
    „Sicher, aber Sie müssen bedenken, welch großem körperlichen, nicht nur seelischem Streß sie ausgesetzt ist. Sollte es also in ihrem Leben etwas geben, dass diesen Streß noch vergrößert, dann sollten sie sie dem nicht aussetzen. Vermeiden Sie jede Aufregung! Gibt es eigentlich, ich meine, hat sie einen....“
    „Einen Mann? Freund?“ Warum nur klang es in seinen Ohren, als wäre das gänzlich undenkbar? Und warum fühlte er sich beinahe glücklich, als die Frau es sehr bestimmt verneinte?

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    [/B][/B][/B][/B]„Was gibt es da groß zu fragen?“ Matt verzog das Gesicht. „Also ich versteh den Mann nicht. Er kennt sie nicht, er weiß absolut gar nichts über sie. Und er verliebt sich?“
    „Also das ist wieder mal so was von typisch. Du bist sooooo unsensibel! Was verstehst du schon von Liebe!“ ereiferte sich Josie. „Ich hab auch nichts von dir gewusst, und hab trotzdem sofort....“ Sie schlug sich auf den Mund und presste die Lippen zusammen. Matt hätte zwar liebend gerne nachgebohrt, was sie hatte sagen wollen, aber er wusste genau, um nichts in der Welt hätte Josie ihm den Gefallen getan, nicht jetzt!
    „Was mich viel mehr interessiert!“ meinte er stattdessen. „Was hat Marhala, das war sie doch nicht wahr? Also was hat sie mit Nick gemacht?“
    „War das nicht offensichtlich?“ fragte die Bewahrerin. „Diese Art von Hypnose ist eine besondere Fähigkeit von ihr. Allerdings, das wird sie bald feststellen, funktioniert es bei ihm nicht ganz so, wie sie sich das vorstellt.“
    „Und warum?“
    „Das müsst ihr schon selbst herausfinden. Einen Hinweis habt Ihr möglicherweise schon übersehen.“
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    +++

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  • ***



    Was für ein ereignisreicher Tag!
    Es war bereits weit nach Mitternacht, als Celia, endlich in einem eigenen Schlafanzug, immer noch wach in ihrem Bett lag und über die Ereignisse des Tages nachgrübelte. Wenn sie gehofft hatte, ihre Unsicherheit würde sich zumindest etwas legen, nachdem sie ihren Namen erfahren hatte, so sah sie sich jetzt getäuscht. Denn im Grunde wusste sie immer noch so gut wie gar nichts über sich. Wer war diese Celia Moreau? Woher kam sie, war sie ganz allein auf der Welt? Wo waren ihre Eltern, Geschwister, Freunde? Gab es in ihrem Leben wirklich nur Mara?
    Die Unterhaltung mit ihr, nachdem sie mit den Sachen zurückgekehrt war, war recht einseitig geblieben. Mara hatte ihr ein paar Dinge aus ihrem Leben erzählt, aber in ihren Ohren war es nichts weiter als eine Geschichte gewesen, eine Geschichte über eine Fremde. Nur der Name und Maras forschender Blick, der sie hin und wieder beinahe unmerklich streifte, waren ihr vertraut.





    Wie von einem heftigen Windstoß aufgerissen, flog die Terrassentür plötzlich auf, helles funkelndes Licht zerriß die Dunkelheit und aus dem Licht trat langsam und gemessen eine unbekannte Frau. Celia stockte der Atem. Träumte sie? Das konnte doch unmöglich real sein! „Ich habe Wahnvorstellungen!“ dachte sie. „Es kann nicht anders sein.“ Doch ganz gleich, wie oft sie die Augen schloß und wieder öffnete, die Frau verschwand nicht.



    [B]
    [/B]Im Gegenteil! Atemlos und mit weitaufgerissenen Augen sah sie zu der Frau hinüber, die für einen Moment stehengeblieben war, während sich die Tür ohne das geringste Geräusch wieder schloß. Wer war diese Frau? Was wollte sie von ihr? Und wie zur Hölle kam sie so ohne weiteres in ihr Zimmer? Das Ganze wirkte zwar vollkommen absurd, aber Celia fühlte die Angst in sich aufsteigen. Sie dachte an Flucht. Doch zu ihrem nicht geringen Entsetzen vermochte sie sich nicht zu rühren. Eisige Kälte, die sie selbst unter der Decke erzittern ließ, erfüllte den Raum. Hilflos beobachtete sie, wie die Frau mit fast gleitenden Schritten auf sie zu kam.




    [B][B]
    [/B][/B]Obwohl das Funkeln verschwunden war, umgab sie noch immer ein seltsames Strahlen, das ihre Haut deutlich von der sie umgebenden Finsternis abhob. Ihr prachtvoll besticktes Kleid ähnelte nicht einmal ansatzweise dem, was Celia während ihres Krankenhausaufenthaltes an den Frauen hier zu sehen bekommen hatte. Sie wagte kaum noch zu Atem, doch dann....
    „Merkwürdig!“ dachte Celia, während ihr Kopf, von einer angenehmen Schwere erfüllt, auf das Kissen zurück sank. Auf einmal war die Angst verschwunden. Die Dunkelheit und mit ihr die Kälte begann aus dem Zimmer zu weichen, je näher die Frau kam. Ein warmes Licht, das von ihr ausging, hüllte sie beide nach und nach ein wie eine Decke.
    [B]




    [B][B]
    [/B][/B][/B]Sie erwartete Strenge, Bosheit oder Unheil in den Augen der Frau zu sehen, doch stattdessen sahen sie, blaßgrau und klar wie das Wasser in einem Glas, voller Güte auf sie herunter, als sie sich über sie beugte und ihr sacht über die Wangen strich. Ihre Lippen lächelten und obwohl sie sich gar nicht bewegten, meinte Celia deutlich ihre Stimme zu hören.
    „Fürchte dich nicht! Dir geschieht nichts.“ Immer schwerer wurden ihre Glieder. Die Augen fielen ihr zu, obwohl sie sich mit aller Macht dagegen zu wehren versuchte. Doch die sanfte Gewalt, die von der leisen, beschwörenden Stimme der Frau ausging, erwies sich als stärker.
    „Schlaf!“ befahl sie. „Schlaf und hab keine Furcht! Ich werde über dich wachen.“
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    [B][B]
    [/B][/B][/B][/B]Zufrieden beobachtete Zaide, wie das Mädchen die Augen schloß, der angestrengte Ausdruck von ihrem Gesicht verschwand und ihr ganzer Körper sich entspannte, während sie einschlief.
    „So ist es gut!“ sagte sie leise. „Ich werde nicht zulassen, dass sie dir ein Leid zufügen. Und niemand wird dir nehmen, was dir von Geburt an zusteht. Du sollst deine eigene Wahl treffen, doch dafür musst du beide Seiten kennen. Und nun wird es Zeit für dich. Heute, morgen, jede Nacht sollst du wandeln auf den Pfaden, die ich dir bereite.“ Sie hauchte dem schlafenden Mädchen noch einen Kuss auf die Stirn, bevor das Licht erlosch und sie im Dunkel der Nacht verschwand.
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