Die beiden Frauen schwiegen sich lange an, keine der beiden wollte über Männer sprechen und Tendra Inell wusste nicht, worüber sie mit Kyla reden sollte, sie hatte keinerlei Erfahrung mit einer jugendlichen Tochter, sie hatte sie doch vor sechs Jahren weggegeben, an Lucas Bishop, der dafür sorgen sollte, dass Kyla fern von den Intrigen der Chuve aufwuchs. Seitdem hatte sie Kyla nur einmal im Jahr gesehen, wenn sie im Sommer nach Hause kam und auch dann hatte Tendra Inell nur wenig Zeit, die sie mit ihrer Tochter verbringen konnte. Das ist der Fluch der Königin Mutter, sagte sie sich oft, aber es nützte nichts. Sie wusste, dass sie Kyla nicht bei sich behalten konnte, dass die Gefahr, dass ihr etwas zustoßen könnte, zu hoch wäre und das konnte Tendra Inell keinesfalls riskieren.
Kyla fielen fast die Augen zu. Sie hatte doch nicht genug Schlaf bekommen, aber jetzt war es vollkommen ausgeschlossen, in ihr Zimmer zurückzukehren und den benötigten Schlaf nachzuholen.
„Tenna“, durchbrach Tendra Inells Stimme die Stille.
Kyla hob den Kopf und öffnete mit Mühe die Augen ganz.
„Du bist müde. Geh ins Bett.“
Kyla wollte widersprechen, wurde aber durch ein lautes Gähnen gehindert.
„Los, Schatz, geh schon ich muss mich auch ausruhen, sonst bringt Alfred mich um und dann wird es für den Attentat, zu dem er so viele rätselhafte Ungereimtheiten gefunden hat, einen Täter geben, nur leider den falschen.“
Kyla stand auf, zog ihr Kleid zurecht und sah ihre Mutter ein wenig böse an, bevor sie sich die grauen Augen mit der Hand zuhielt.
„Es liegt an der Zeitverschiebung“, versuchte die Königin Mutter ihrer Tochter zu erklären, doch die hörte ihr nicht zu. Selbst der britische Adel hatte mit pubertierenden Kindern zu kämpfen, die nicht auf ihre Eltern hören wollten.
„Ich kommandiere dich nie herum, wenn ich dir also einmal einen gutgemeinten Rat gebe, dann befolg ihn doch bitte“, seufzte Tendra Inell.
Sie wusste, dass sie selbst Schuld daran war, dass Kyla nicht auf sie hörte, von klein an hatte sie ihrer Tochter beigebracht, nie jemanden für sich denken zu lassen, wodurch die Probleme, die Patricia mit Kyla hatte begonnen hatten.
Nachdem sie beiden Frauen einander einige Minuten lang schweigend angesehen hatten, Tendra Inell hatte schon fast aufgeben wollen, drehte Kyla Tenna ihrer Mutter den Rücken zu und mit ihren leisen Schritten verließ sie das Zimmer, ihre Mutter dort drin alleine zurücklassend.
Tendra Inell musste feststellen, dass Kyla sich in den letzten Jahren nicht unbedingt so entwickelt hatte, wie sie es sich gewünscht hatte, sie war etwas geworden, was Tendra Inell nie für möglich gehalten hatte, zu unabhängig. Jetzt war es zu spät, um das zu ändern. Kyla Tenna war und blieb die Erbin des Hauses der Chuve und Tendra Inell wusste, eines Tages würde Kyla aufhören, sich zu wehren und dann würde sie die neue Königin Mutter werden, die wohl unabhängigste, die es je geben würde, die würde nie zulassen, dass ein Mann Einfluss auf sie ausübte.
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Mal sehen, ob Tendra Inell mit ihrer Theorie, was Kyla anbelangt, Recht hat. Im nächsten Teil werfen wir aber einen Blick auf die (finsteren) Machenschaften einer anderen Person.