Stammbaum in Post #12
Kapitel 1
Schatten der Vergangenheit
I face the world with a smile
No one knows what is hidden inside
They see only happiness
They can’t see the tears I’ve cried
Farah Zala & Khawar Jawad “Bandya”
Ein kräftiger Stoß von George, und Suzanne ging über Bord.
Sie fühlte, wie das kalte Wasser über ihr zusammenschlug. Fühlte die Wellen, die sie fort trugen. Den Sog, der an ihrer Kleidung zerrte. Suzanne rang nach Luft, hustete und spuckte Wasser aus. Überall nur Wasser.
Und das Boot natürlich, auf dem George stand und ihr nachschaute. Obwohl die Wellen sie inzwischen zu weit fort getragen hatten, um wirklich etwas zu erkennen, glaubte sie ein triumphierendes Grinsen auf seinem Gesicht erkennen zu können.
Er hatte es geschafft.
Suzanne war so gut wie tot.
Schweißgebadet wachte Suzanne Hartman auf. Ihr Atem ging heftig und ihr Herz pochte wie wild. Diese Albträume ließen ihr einfach keine Ruhe.
Sie sah hinüber zu Donald, der jedoch noch tief und fest schlief. Gut. Dieses Mal hatte sie ihn nicht geweckt. Leise zog ihren Morgenmantel an, stand auf, schlich sich aus dem gemeinsamen Schlafzimmer und ging nach unten, um sich mit einem Glas Wein vor dem Fernseher zu entspannen.
Das hatte bisher fast immer geholfen. Meistens wurde sie schnell müde und konnte wieder schlafen gehen. Manchmal schlief sie auch direkt auf der Couch ein.
Heute nicht.
Die billige Sitcom, die über den Bildschirm flimmerte, lenkte Suzanne nicht im Geringsten ab. Der Alkohol beruhigte sie nur minimal. Erneut kehrten ihre Erinnerungen an den Traum wieder. Er war so realistisch gewesen, dass sie noch nach dem Aufwachen geglaubt hatte das Salzwasser zu schmecken.
Fast zehn Jahre waren seit den schrecklichen Ereignissen vergangen. Mehrere Jahre Therapie, viel Liebe und Geduld von Donald und ihren Kindern waren nötig gewesen, damit Suzanne das alles hinter sich lassen konnte.
Sie hatte jedenfalls geglaubt, sie hätte es hinter sich. Doch nun begannen die Albträume wieder.
Ohne dass sie es wollte, wanderten ihre Gedanken zu dem Tag zurück, als Suzanne erkannte, dass ihr Ehemann ihr nach dem Leben trachtete. Als es schon zu spät war – beinahe.
Sie wusste, dass sie mehr Glück als Verstand gehabt hatte, heute noch am Leben zu sein. Dass sie es einer schicksalhaften Fügung zu verdanken hatte, hier sitzen zu können statt seit 10 Jahren irgendwo auf dem Meeresgrund zu liegen.
Und dass ein anderer Mensch dafür verantwortlich war, dass George jetzt auf einem Friedhof lag und sich nicht seit Jahren dank Suzannes Reichtum ein schönes Leben machte.
Suzanne riss sich mit Gewalt aus ihren düsteren Erinnerungen und schaltete den Fernseher aus, der sie sowieso nicht ablenken konnte. Sie sah auf die Uhr. Zwei Uhr nachts.
Somit blieben noch 10 Stunden, bis sich die Gefängnistore öffnen sollten, um eine Gefangene freizugeben, die über neun Jahre hinter Gittern gesessen hatte.
Noch 10 Stunden, bis Jacqueline Simon, genannt Jackie, wieder ein freier Mensch sein würde.
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„Guten Morgen, Schatz“, begrüßte Donald Suzanne fröhlich. Sie sah von ihrem Laptop auf und lächelte ihn an. „Morgen.“
„Bist du schon lange auf?“ wollte ihr Ehemann wissen und ließ sich ihr gegenüber am Schreibtisch nieder. „Seit einer Stunde.“ Suzanne war zwar noch einmal ins Bett gegangen, hatte aber einen unruhigen und wenig erholsamen Schlaf hinter sich. Um sechs Uhr dann war sie endlich aufgestanden und hatte sich an ihren Schreibtisch gesetzt. „Mich hat einfach nichts mehr im Bett gehalten.“
Donald schenkte ihr einen überrascht-amüsierten Blick. „Na vielen Dank auch.“
„Das war nicht persönlich gemeint“, erklärte Suzanne ihm schmunzelnd, und er lächelte zurück.
Sie brauchten nicht viele Worte, um einander zu verstehen, und das war eines der Dinge, die Suzanne so an Donald liebte. Er war ein ruhiger, ausgeglichener und liebevoller Mann – das genaue Gegenteil von George. Nichtsdestotrotz hatte Suzanne eine ganze Weile gebraucht, bis sie ihm vertrauen konnte.
Aber Donald hatte ihr alle Zeit gegeben, die sie brauchte, und das war ein weiterer Beweis für sie gewesen, dass er der Richtige war. Zugegeben – dass er als Anwalt mit eigener Kanzlei sehr gut verdiente und somit nicht auf ihr Geld angewiesen war, war auch nicht unbedingt ein Nachteil. Damit war er so gut wie über jeden Zweifel erhaben, nur hinter ihrem Reichtum her zu sein.
Donald betrachtete seine Frau eingehend und bemerkte ihre unterschwellige Nervosität. Er wusste sehr gut, welcher Tag heute war und was das für sie bedeutete.
„Du hattest sicher keine gute Nacht“, stellte er fest und fügte überflüssigerweise hinzu: „Wegen Jackie.“ Sie seufzte und warf ihrem Mann einen wehmütigen Blick zu. „Ist das ein Wunder? Meinetwegen hat sie mehr als neun Jahre im Gefängnis verbracht, und jetzt…“
„Nicht deinetwegen, Sue“, widersprach Donald. „Sondern wegen dem, was sie getan hat. Sie ist dabei noch gut weggekommen, weil sie dich… mehr oder weniger vor George gerettet hat.“ Suzanne wusste, dass er Recht hatte, und doch konnte sie ihre Schuldgefühle nicht einfach beiseite schieben. „Trotzdem. Ich hoffe, sie kann mir irgendwann verzeihen.“
Nie würde Suzanne das letzte Mal vergessen, als sie Jackie gesehen hatte. Dieser verzweifelte Blick, der sie anflehte, Jackie vor Gericht zu helfen…
Suzanne schüttelte den Kopf, als ob sie damit die Erinnerungen vertreiben könnte. Verdammt, sie wurde schon wieder von der Vergangenheit eingeholt.
„Jackie sollte eher darauf hoffen, dass du ihr irgendwann verzeihen kannst“, meinte Donald nachdrücklich, schaute auf seine Uhr und beugte sich vor, um Suzanne einen flüchtigen Abschiedskuss zu geben. „Ich muss in die Kanzlei. Bis heute Abend.“
Suzanne hielt ihn noch zurück. „Hab ich dir schon gesagt, dass Stella und David heute zum Abendessen kommen?“
Ihre Kinder waren erst vor kurzem ausgezogen, und doch vermisste sie die zwei schon so sehr, dass Suzanne ständig eine Gelegenheit suchte, sie wieder nach Hause zu locken.
„Erst fünf oder sechs Mal“, antwortete Donald grinsend, winkte ihr noch einmal zu und verließ das Haus.
Auch Suzanne sollte sich so langsam auf den Weg in die Firma machen. Dass einem das Unternehmen gehörte, bedeutete ja nicht, dass man kommen und gehen konnte, wie man wollte. Doch… eigentlich schon, aber Suzanne Hartman hatte immer ein Vorbild für ihre Angestellten sein wollen. Noch ein tiefer Seufzer, und sie klappte den Laptop zu. Vielleicht würden das Büro und die Anwesenheit von anderen Menschen sie ja von ihren Grübeleien ablenken.
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„Und, wie läuft die Einarbeitung bei HD?“ wollte Donald von David wissen, als die Familie beim Abendessen saß. „Gut“, erwiderte dieser nur und widmete seine Aufmerksamkeit gleich wieder seinem Teller.
„HD“ war die Abkürzung für Heavenly Designs, die Modefirma, die Suzanne von ihrem Vater geerbt hatte und nun seit einigen Jahren selbst leitete. Zum Hartman-Imperium gehörten noch einige weitere Firmen aus verschiedenen Branchen, bei den meisten bestand jedoch nur eine Teilhaberschaft. Aber an diesem Modeunternehmen hing Suzannes Herz besonders, und wann immer von „der Firma“, „dem Unternehmen“ oder einfach „HD“ die Rede war, war eigentlich Heavenly Designs gemeint.
Suzanne und Donald wechselten bedeutungsvolle Blicke. Davids Einsilbigkeit hatte nichts damit zu tun, dass er eventuell etwas verschwieg oder dass seine kürzlich aufgenommene Tätigkeit in der Firma seiner Mutter vielleicht doch nicht so reibungslos klappte. Es war ganz einfach seine reservierte Haltung Donald gegenüber, die dafür sorgte, dass Gespräche zwischen den beiden nie so richtig in Gang kamen.
Also entschloss sich Suzanne, nachzuhaken. „Kommst du also gut zurecht? Bist du auch nett zu allen?“ Sie hatte absichtlich ihren Sohn in eine Abteilung gesteckt, mit der sie selbst kaum direkt zu tun hatte. So hoffte sie, dass David sich mehr engagierte – weil er es musste, um vorwärts zu kommen, und sich nicht darauf verließ, dass seine Mutter ihn schon irgendwie an die Spitze hieven würde. Denn dort wollte er zweifellos hin: ganz nach oben.
David warf Suzanne einen beinahe vorwurfsvollen Blick zu. „Warum fragst du nicht, ob alle nett zu mir sind?“ „Weil ich deine Mutter bin, und niemand es wagen würde, den Sohn der Chefin schlecht zu behandeln. Und weil ich dich lange genug kenne, mein Schatz“, erwiderte Suzanne mit einem fröhlichen Augenzwinkern. Sie hatte versucht, ihre Kinder trotz allen Reichtums zur Bescheidenheit zu erziehen, und doch neigte vor allem ihr Sohn manchmal zur Arroganz.
Jetzt sah David wirklich gekränkt aus. „Hast du etwa Beschwerden gehört?“
„Bis jetzt nicht, nein“, musste sie zugeben.
„Na also“, entgegnete David zufrieden. „Ich sag doch, ich komm mit allen bestens aus.“
„Vor allem mit Cynthia, nicht wahr?“ meldete sich Stella grinsend zu Wort.
Halb amüsiert, halb alarmiert zog Suzanne die Augenbrauen hoch, während David seine Zwillingsschwester böse anfunkelte. Ehe seine Mutter reagieren konnte, klingelte jedoch das Telefon.
Einen Moment lang war Suzanne versucht, das Klingeln zu überhören und sich das Abendessen nicht verderben zu lassen, doch dann erhob sie sich widerwillig von ihrem Platz. Es könnte ja wichtig sein.
„Entschuldigt mich bitte“, bat sie und ging zum Telefon.
„Mit allen Kollegen, wie gesagt“, betonte David nochmals und seine Blicke sprachen Bände. Sie ermahnten Stella, den Mund zu halten. Aber die dachte ja gar nicht daran.
„Na ja, genau genommen ist sie deine Vorgesetzte, glaube ich“, stichelte sie weiter. Normalerweise war Stella nicht gemein, schon gar nicht zu ihrem Bruder, den sie über alles liebte, doch heute hatte sie richtig Spaß daran ihn zu triezen.
David schnaufte genervt. Zum Glück war seine Mutter hinausgegangen, aber es war ja auch nicht nötig, dass Donald das mitbekam. „Und wer sagt, dass man sich mit seiner Vorgesetzten nicht gut verstehen darf?“ fragte er Stella herausfordernd.
Diese zuckte mit den Schultern und versuchte sich an einem unschuldigen Augenaufschlag. „Niemand. Ist nur ’ne komische Vorstellung, dass mein Bruder sich nach oben…“
„Hey, pass auf, was du sagst“, unterbrach David sie gerade noch rechtzeitig.
Dann richteten sich die Augenpaare der Zwillinge gleichzeitig auf Donald, der sich bisher gut unterhalten gefühlt hatte von dem Wortgefecht seiner Stiefkinder. Er hob abwehrend die Hände.
„Meine Lippen sind versiegelt“, versicherte er. „Ich werde eurer Mutter nichts erzählen.“
„Da gibt’s ja auch nichts zu erzählen“, erklärte David schroff, und damit war das Thema für ihn beendet.
Währenddessen hatte Suzanne den Hörer abgehoben und sich mit einem nicht ganz freundlichen „Hartman“ gemeldet. Doch gleich darauf wich ihre Verärgerung über die Störung der Betroffenheit, die einen zwangsläufig befällt, wenn man unverhofft schlechte Neuigkeiten erhält.
Als sie das Gespräch beendet hatte, starrte sie noch einige Sekunden auf den Telefonhörer. Dann fing sie sich und ging zurück ins Esszimmer.
Ihr Mann und ihre Kinder sahen fast gleichzeitig auf. Donald bemerkte ihre ernste Miene und runzelte besorgt die Stirn. „Stimmt etwas nicht?“
Suzanne schluckte, strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und teilte ihrer Familie schließlich mit gedämpfter Stimme mit: „Victor ist tot.“