Die Autistin [abgeschlossen]

  • Sie hockte auf dem Boden. Die Augen auf einen Punkt gerichtet. Seit Stunden schon starrte sie auf die Wand. Sie war kalt und leer. Das wollte sie ändern. Sie ließ ihre Gedanken weiter durch den Kopf ziehen, als ihr dann endlich das ersehnte Bild erschien, auf welches sie diese Stunden gewartet hatte.
    Sie griff nach einem Farbtopf, den Blick von der weißen Fläche nicht abwendent. Sie wusste genau, wo die Farbe lag, denn sie lag nie woanders. Es war ein Zwang. Alles musste immer an der gleichen Stelle liegen, alles andere würde sie nicht ertragen. Der Bildschirm ihres Computers erleuchtete die wand mit einem grellen, blauen Licht. Sie ist wie eine Leimwand, die nur darauf wartete, sich durch ihre Hand in eine Geschichte zu verwandeln. Ihre Finger tunkte sie in die Farbe und brachte diese auf die Wand. Es war, als ob ihre Hand durch etwas geführt wurde. Sie wusste auch was es war. Alle Emotionen, die sie durch sich selbst oder ihrer Familie nicht verarbeiten kann. Jeder Farbton und jeder Strich des Gemäldes würde am Ende irgendetwas über sie erzählen. Der Schmerz, der sich all die Tage aufgestaut hatte, trat aus ihr heraus. Endlich hatte sie jemanden, den sie alles anvertrauen konnte und selbst bei den Dingen, die für sie am Schmerzvollsten waren, nicht lachen würde. Er war einfach nur da und hörte zu. Er setzte sie nicht unter Druck und forderte nicht von ihr fröhlich zu sein oder eleganter zu gehen. Ihre Eltern hatten ihre Krankheit nie akzeptiert.
    Sie glaubten, dass sie diese Depressionen hatte, weil sie nie akzeptieren konnte, dass ihre damalige beste Freundin wegzog. Damals ist der Kontakt abgebrochen. Aber das war jetzt schon fast zehn Jahre her. Besonders ihre Mutter hatte nie verstehen können, dass sie eine Krankheit hat. Eine Krankheit, die sie ihr ganzes Leben lang quälen würde. Bis es enden würde, oder sie es selbst beenden könnte. Sie hatte es schon oft genug versucht, doch nie hatte sie den Mut gefasst, sie und diesen stechenden Schmerz endlich zu ersticken. Nach Auswegen hatte sie schon lange genug gesucht, doch nie hatte sie auch nur eine gefunden.
    Sie griff zu einem weiteren Farbtopf, die Farbe kälter und dunkler als die vorige, tunkte ihre Finger in die Farbe und brachte sie an die Wand. Es waren nicht ein mal fünf Minuten vergangen, dennoch war schon etwas zu erkennen.
    Selbst außerhalb der Familie hatte sie niemanden, der sie verstand. Ihre Klassenkameraden verstanden nie, warum sie so „anders“ war. Oftmals wurde sie herumgeschubst oder geschlagen. Ihr wurde schon mehrmals etwas gebrochen. Bei jeder Gelegenheit wurde sie niedergemacht, ausgelacht und geschlagen. Sie konnte sich nicht wehren, denn oftmals waren sie in großen Gruppen. Einer gegen viele. So war es immer. Es war zwar normal für sie, aber dennoch tat es weh. Alles tat weh. Mit jedem Mal immer mehr. So geht das schon seit zehn Jahren indem der Schmerz sie kontrollierte. Einmal da geschah es, dass sie die Kontrolle über sich verlor. Sie schlug einen Jungen drei Zähne aus, einem anderen Brach sie den Arm. Sie fühlte sich nicht schuldig, sondern ein Stück weit erlöst. Denn jetzt ließen sie wenigstens diese Leute in Ruhe.
    Sie griff wieder zu einem Farbtopf, die Farbe kälter und dunkler als die vorigen beiden, tunkte die Finger in die Farbe und brachte sie auf die Wand. Vielleicht hätte sie jemand verstehen können, wenn sie sprechen könnte. Sie konnte aber nichts sagen. Nicht einmal, wie sie sich fühlte, wie es ihr ging oder welche Schmerzen sie hatte. Nicht einmal, wie sehr sie ihr Leben hasste, wie sehr der Schmerz von Tag zu Tag größer wurde und wie sie sie zerfraßen und ihre Seele zertrümmerten. Das war viel schlimmer als die körperlichen Schmerzen, die ihr jeden Tag zugefügt worden. Viel schlimmer, als die ganze Ignoranz und Unakzeptanz um sie herum.
    Sie griff nach der letzten Farbe, die plötzlich viel wärmer war als all die anderen. Sie dachte an einen Jungen. Jemand, der genau so war wie sie. Jemand, der sie verstand, jemand, der ihr ein Lächeln schenkte, Er war das einzige, worauf sie sich beim aufwachen freute. Es war die einzige Wärme, die sie am Tag verspürte. Das einzige Mal, das Gefühl zu haben, liebenswert zu sein.
    Als die Wand keine einzige weiße Stelle aufwies, taumelte sie ein paar Schritte zurück und sah das Bild an.

    (c) sherry-nancy
    16.03.2009