Und gleich noch eins.
Freunde...?
Mio blieb neben der Tür zum Wohnzimmer stehen und beobachtete, wie Christina ihr helles Haar mit einer energischen Kopfbewegung über ihre Schulter zurückwarf und mit hoch gehobenem Kinn in Richtung Eingangshalle stolzierte. Ein amüsiertes Lächeln bildete sich um seinen Mund, welches er jedoch schnell wieder verschwinden ließ, als Christina sich plötzlich schwungvoll umdrehte und ihn zornig ansah.
„Was ist eigentlich mit meinem Traum von vorhin?“ Wollte sie wissen.
„Ich sage dir bescheid, wenn wir darüber sprechen können. Ich möchte vorher noch jemanden dazu bitten.“ Erklärte Mio.
„Wozu?“
Warum war sie eigentlich so sauer? Er hatte ihr schließlich nicht wirklich etwas getan. „Das erkläre ich dir dann.“
Die Tür zur Eingangshalle fiel heftiger, als notwendig hinter Christina ins Schloss und Mio schüttelte leicht den Kopf. Er hatte soetwas von Anfang an geahnt.
Wieder machte er sich klar, dass er an dieser Situation nicht ändern konnte und es schon irgendeinen Sinn haben würde, dass ausgerechnet diese Frau auserwählt wurde.
Er ging hinüber zu der Bar, die hinter einer verzierten Schranktür verborgen war, und schenkte sich einen doppelten Whiskey ein. Zwar war er nicht auf irgendeine zusätzliche Flüssigkeit neben Blut angewiesen und auch der Alkohol hatte bei ihm kaum eine Wirkung, doch er wusste den Geschmack zu schätzen und nahm so einen kräftigen Schluck.
Er ahnte, dass Christina nicht nur über die Behandlung, die sie in der vergangenen Stunde über sich hatte ergehen lassen müssen, verärgert war. Er hatte genug in ihrem Kopf gesehen, um zu erahnen, dass irgendetwas an ihm oder besser gesagt, ihre Reaktion auf ihn sie verärgerte. Ihm selbst ging es kaum anders. Auch ihm war wieder Bewusst geworden, was passierte, wenn er ihre Haut berührte. Schon kurz nachdem sie aufgewacht war und er ihren Traum gesehen hatte, hatte er es wieder gespürt. Noch deutlicher war es eben gerade gewesen. Und ihm gefiel das ebenso wenig, wie es Christina zu gefallen schien. Doch er war stärker als das, was dort passierte. Dass es ausgerechnet zwischen einer Frau, wie Christina und ihm geschah, machte die ganze Sache nicht gerade leichter und erfüllte nicht gerade den Zweck, zu welchem diese Verbindung eigentlich vorgesehen war, aber er würde es einfach nicht an sich heran lassen. Darin hatte er schon einige Jahre Übung und es würde kein beachtenswertes Problem darstellen.
Mit diesem Gedanken nahm Mio einen weiteren Schluck aus dem Glas und verließ dann das Wohnzimmer, um seiner Arbeit nachzugehen.
Einige Stunden später schreckte Christina hoch, als sie hörte, dass ihre Zimmertür geöffnet wurde. Verschlafen starrte sie Anais an, die eintrat und sie entschuldigend ansah.
„Es tut mir leid, dass ich störe, aber der Herr erwartet uns in seinem Büro.“ Sprach sie leise.
Christina sah jetzt zu den Fenstern herüber, durch die das dämmrige Morgenlicht ins Zimmer fiel. Sie hatte schon wieder geschlafen. Das konnte doch nicht wahr sein, sie war vorhin nicht einmal zwei Stunden auf den Beinen gewesen, bevor sie sich wieder ins Bett gelegt hatte. Und eigentlich hatte sie sich nur einen kleinen Moment ausruhen wollen.
„Ich komme sofort.“ Sagte sie und warf die Bettdecke beiseite.
Sie trug noch immer diese breite Hose mit den vielen Taschen und das schwarze Shirt. Schnell ging sie hinüber zu ihren Koffern und suchte ein paar Kleidungsstücke heraus, die eher ihrem Geschmack entsprachen.
Nachdem sie schnell im angrenzenden Bad geduscht und sich etwas anderes angezogen hatte, während Anais auf dem Flur gewartet hatte, gingen beide durch die Flure des Hauses. Anais führte sie in den östlichen Flügel, wo sie eine Treppe herauf in den dritten Stock stiegen und dort noch einmal einen langen Flur heruntergingen, bevor das Mädchen vor einer der vielen Türen stehen blieb und leise anklopfte.
Mios Stimme ertönte und bat sie herein. Als sie eintraten stand er von einem breiten Schreibtisch auf, an dem er offenbar gearbeitet hatte und deutete auf eine kleine Sitzgruppe.
Anais und Christina setzten sich, Mio jedoch blieb vor ihnen stehen. „Erzähl Anais von deinem Traum.“ Sagte er zu Christina.
Diese blickte nun Anais an. Was hatte sie denn damit zu tun? Doch Anais blickte Christina mit einem leichten Lächeln erwatungsvoll an, als wäre es das selbstverständlichste der Welt, sich einen albernen Albtraum anzuhören.
Nach kurzem Zögern begann sie zu erzählen, an was sie sich noch erinnern konnte und sie kam sich von Minute zu Minute alberner vor, denn Anais Blick wurde immer nachdenklicher, zeitweise fast finster.
Nachdem sie ihre Erzählung beendet hatte, ergänzte Mio noch einige Details, die er offenbar in ihren Gedanken gesehen hatte und die sie inzwischen wieder vergessen hatte.
Nun setzte er sich ihnen doch gegenüber. „Also, was sagst du?“ Fragte er Anais.
Diese senkte den Blick auf ihre Knie und sagte eine Weile gar nichts. Sie schien angestrengt nachzudenken.
Christina war gespannt, was sie zu sagen hatte und hoffte, dass sich endlich klären würde, warum Mio unbedingt mit ihr darüber sprechen wollte. Mio hingegen schien immer unruhiger zu werden. Er ließ es sich nicht in seiner Körperhaltung, seiner Miene oder eine nervösen Regung anmerken, doch Christina glaubte zu spüren, dass Anais seine Geduld durch ihr Schweigen fast ausreizte.
Endlich hob das Mädchen den Kopf und sah Mio fast schüchtern an. „Ich denke, wir werden Besuch bekommen.“ Sagte sie und hielt einen Moment inne, als würde sie eine Reaktion von Mio oder Christina erwarten. Doch, als Christina sie nur weiterhin ratlos ansah und Mio mit unbewegter Miene dasaß, sprach sie weiter. „Und ich denke, es wird kein Besuch sein, über den wir uns freuen sollten. Jemand weiß, wo wir sind, oder besser gesagt, wo Christina ist. Und sie wollen sie zu sich holen.“
„Sie?“ Fragte Christina.
„De’Fellinis Leute.“ Antwortete Mio.
„Woher weißt du das?“
„Weil sonst niemand in Frage kommt.“ Erklärte er.
„Aber, was ist, wenn nicht De’Fellini dahinter steckt? Vielleicht suchen doch meine Freunde nach mir.“ In Christinas Stimme schwang eindeutig eine große Portion Hoffnung mit.
„Nein.“ Widersprach diesmal Anais. „Es sind keine Freunde.“
Mio stand auf. „Okay, ich hatte es bereits vermutet. Danke für deine Hilfe, Anais.“ Sagte er und das Mädchen stand auf und verließ mit einem Knicks den Raum.
Auch Christina erhob sich. „Und jetzt? Was tun wir jetzt?“
„Nichts.“ Lautete die einfache Antwort.
Christina sah Mio verständnislos an.
„Es ist vollkommen unmöglich. Sie können dich nicht einfach hier wegholen. Es gibt keine Möglichkeit für sie, hier herein zu kommen.“
„Es dürfte nicht allzu schwer für sie sein, ein paar Fenster einzuschlagen, oder einfach die Tür aufzubrechen.“ Äußerte Christina unsicher.
„Denkst du wirklich, dieses Haus ist komplett schutzlos?“ Fragte Mio, wartete aber keine Antwort ab. „Mach dir darüber keine Gedanken.“
Christina seufzte und blickte sich nun etwas genauer in dem Büro um. Auf dem Schreibtisch lag ein großer Haufen Papiere und Schriftstücke.
Doch bevor sie etwas Genaueres erkennen konnte, stellte der Dunkelhaarige sich wie zufällig in ihr Sichtfeld. „Du hast geschlafen, als Anais dich holen kam?“ fragte er und sah ihr nun aufmerksam ins Gesicht.
Christina wich wieder einmal seinen grünen Augen aus, obwohl sie selbst nicht wusste, warum es ihr so schwer fiel, ihn direkt anzusehen. Sie nickte nur.
„Bist du noch müde?“
„Ich bin seit Tagen ständig müde.“ Sagte sie und fragte sich, warum ihn das interessierte.
„Hast du Hunger?“ Fragte er nun.
Christina zuckte die Schultern. „Ich könnte wohl etwas essen.“
Er ging zur Tür und bedeutete ihr, ihm zu folgen.
Kurze Zeit später betraten beide die Küche im Keller des Hauses, nachdem Mio mit ihr zügig durch die Flure gegangen war, wobei er den vom Tageslicht erhellten Bereichen geschickt ausgewichen war.
Marali begrüßte die beiden herzlich. Sie ließ ihre Arbeit kurz liegen, verfrachtete Mio auf einen der Stühle am Tisch und strich ihm noch einmal mütterlich über die Schultern, bevor sie sich Christina vornahm und auch ihr einen Platz zuwies.
Christina war ein bisschen verwundert, über die Art und Weise, wie die Köchin mit Mio umging, behandelten ihn alle anderen doch mit einer gehörigen Portion Respekt, doch sie hatte keine Zeit, sich weiter Gedanken darüber zu machen, denn schon landete ein Teller mit Rührei vor ihr auf dem Tisch.
„Mio?“ fragte Marali mit einem leicht ironischen Unterton und hatte schon einen zweiten Teller in der Hand, den sie gerade ebenfalls mit Rührei befüllen wollte.
Doch der Angesprochene schüttelte den Kopf und widmete sich wieder Christina.
Er saß ihr gegenüber und sah sie mit seinen auffallend grünen Augen aufmerksam an. Christina wich wieder einmal seinem Blick aus und konzentrierte sich voll und ganz auf ihren Teller, obwohl sie eher lustlos mit der Gabel in dem Ei herumstocherte. Es ärgerte sie, dass sie sich von ihm so einschüchtern ließ, denn für gewöhnlich ließ sie sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen.
„Iss.“ Forderte er sie auf und Christina gehorchte automatisch, was ihren unterschwelligen Ärger weiter schürte, denn eigentlich mochte sie plötzlich gar nichts mehr essen.
Sie kaute widerwillig auf dem Rührei herum und eigentlich schmeckte es wirklich gut, doch ihr Appetit war vergangen, sobald sie den Teller vor sich gehabt hatte. Drei weitere Bisschen schaffte sie, bevor sie die Gabel zurück auf den Teller sinken ließ.
Also sie ihren Blick wieder hob, begegnete sie Mios nachdenklicher Miene.
„Ich habe wohl doch keinen Hunger.“ Sagte sie und kam sich albern vor, sich ihm erklären zu wollen.
„Hast du Durst?“ Fragte er.
„Nein.“ Lautete ihre Antwort. „Ich bin ziemlich müde.“ Am liebsten hätte sie sich auf die Zunge gebissen.
„Geh schlafen.“ Mio stand auf. „Ich möchte, dass du weiter übst, was wir heute Nacht begonnen haben, wenn du dich ausgeruht hast.“ Damit verließ er den Raum.
Christina blickte ihm mit gerunzelter Stirn nach. Erst verprügelte er sie mehr oder weniger und nun behandelte er sie wie ein Kind, dem man sagen musste, wann es zu essen, zu trinken oder zu schlafen hatte. Das wurde ja immer schöner.
Marali setzte sich zu ihr an den Tisch. „Einen Penny für deine Gedanken.“
Christina lächelte. „Ich zerbreche mir den Kopf darüber, was hinter ihm steckt. Was hinter dem Ganzen hier steckt.“ Gab sie zu.
„Lass dir von mir einen Rat geben, Christina.“ Ein nachdenkliches Lächeln spielte auch um ihre Lippen. „Versuch gar nicht erst ihn zu verstehen, oder was hier vor sich geht. Ich habe in der Zeit, die ich nun hier bin, gelernt, dass ich glücklicher bin, wenn ich so wenig, wie möglich, von dem, was hier passiert, weiß.“
„Wie lang bist du schon bei Ihm und Cosmin?“ Fragte Christina.
„Ich habe bei 100 Jahren aufgehört zu zählen.“ Verriet sie mit einem Augenzwinkern.
„Was ist das Geheimnis?“ Hakte Christina nach. „Warum sehen Cosmin, Anais und du so jung aus?“
„Gesunde Ernährung, viel Bewegung, frische Luft und ausreichend Schlaf.“ Schmunzelte Marali.
Christina sah ihr Gegenüber etwas enttäuscht an.
„Das wichtigste ist in unserem Fall wohl die Ernährung.“ Gab Marali einen Hinweis. „Wie du dir vielleicht schon denken konntest, stamme ich aus Afrika, geboren und aufgewachsen bin ich in einem winzigen Dorf, weit ab von der Moderne. In meinem Stamm wurde viel altes und sehr nützliches Wissen von Alt an Jung vermittelt und dieses Wissen nutze ich, um Cosmin und Anais zu helfen, das zu erledigen, wozu sie sich verpflichtet fühlen.“
Marali erhob sich und räumte Christinas Teller vom Tisch, was für sie das Zeichen war, dass dieses Gespräch beendet war.
Mio betrat nachdenklich sein Büro, dessen Fenster zu dieser Tageszeit abgedunkelt waren und so das Licht vollständig aussperrten. Im stockfinsteren ging er zielsicher zu seinem Schreibtisch und ließ sich auf dem breiten Lederstuhl nieder. Nachdenklich starrte auf das Telefon, nahm es aber gar nicht wahr. Offensichtlich hatte sich nur das Aufeinandertreffen zwischen ihm und Christina um einige Jahre vorverlegt. Wenn er sich nicht täuschte, würden noch weitere Ereignisse folgen, die eigentlich noch einige Jahre auf sich warten lassen sollten.
Eigentlich dürfte ihn das schon gar nicht mehr wundern, in Anbetracht der vergangenen Tage. Das Problem war nur, dass er sich offenbar mit einigen Dingen früher auseinandersetzen musste, als es ihm lieb war.
Genervt drehte er den Kopf von einer Seite zu anderen, um die Verspannungen in seinem Nacken zu lösen und machte sich anschließend daran, die Dinge, die nötig waren, vorzubereiten.
Einige Stunden später, kurz nachdem die Sonne untergegangen war, betrat Christina die Trainingshalle und war überrascht, als sie neben Mio auch Cosmin wartend vorfand. Während Cosmin sie mit einem freundlichen Lächeln begrüßte, wirkte Mio leicht ungeduldig. Christina fragte sich kurz, ob sie zu spät dran war, doch hatten sie keine genaue Uhrzeit für die Fortsetzung ihres Trainings festgesetzt. Also trat sie Mio mit erhobenem Kinn entgegen und erwartete schon eine Zurechtweisung über den Zeitpunkt ihres Erscheinens.
Doch stattdessen erklärte dieser nur, dass sie heute direkt weiter versuchen würden, ihren inneren Blick zu trainieren und dass Cosmin ihnen dabei helfen würde.
Christinas Motivation sank weiter gen Nullpunkt, denn sie hatte absolut kein Verlangen danach, sich ein weiteres Mal in den Kopf schauen zu lassen.
Cosmin stellte sich Christina gegenüber und Mio positionierte sich, wie schon am Abend vorher, dicht neben ihr. Doch diesmal schien es aufgrund der Anwesenheit einer weiteren Person nicht so intim auf sie, wie zuvor.
„Schließ die Augen.“ Sprach Mio nun leise und diesmal fiel es Christina leichter, dem nachzukommen. „Versuch alle unwichtigen Gedanken aus deinem Kopf zu entfernen. Konzentrier dich ganz auf deine Umgebung.“
Christina würde das leichter fallen, wenn er ihr nicht so nahe wäre. Denn seine Stimme erklang direkt neben ihrem Ohr und sie konnte seine Anwesenheit förmlich spüren. Sie atmete tief durch, hielt die Augen fest geschlossen und versuchte ihn einfach zu ignorieren, versuchte sich von seinem leisen Atem, seinem Geruch und der Anziehungskraft, die erneut von ihm ausging, abzuschirmen. In Gedanken stellte sie sich Cosmins Gesicht vor, seine freundlichen Augen und die buschigen Brauen, seine Nase, seinen Mund und die Falten, die sich darum bildeten, wenn er lächelte. Sie versuchte seine genaue Position vor sich zu erspüren, versuchte zu erahnen, ob er sich ansah. Sie hatte bald ein ziemlich genaues Bild von ihm in ihrem Kopf, doch sah sie keinerlei Nebel oder Schimmer um ihn herum. Es bildeten sich leichte Falten auf ihrer Stirn, als sie mit aller Konzentration, die sie aufbringen konnte, versuchte irgendetwas zu sehen.
Mio rührte sich neben ihr, was das Bild in ihrem Kopf sofort ungenauer werden ließ. „Ich versuche dir zu helfen.“ Erklärte er leise. „Ich zeige dir, wie es aussieht.“
Als nächstes fühlte sie, wie schon am vorherigen Abend, seine Hand auf ihrem Arm. Sie widerstand dem Drang, wegzuzucken und versuchte jetzt auch, den Drang, ihm näher zu sein, von sich zu schieben. Sie würde sich besser fühlen, klang es kurz durch ihren Kopf. Sie würde wieder die perfekte Vollkommenheit spüren können. Christina drehte das Gesicht leicht in die andere Richtung, zwang sich zur Konzentration.
Dann tauchte in ihrem Kopf ein Bild von Cosmin auf. Sie sah ihn, als hätte sie die Augen geöffnet und würde ihn direkt anschauen. Jedes Detail stimmte und auch alles andere um ihn herum entsprach zu hundert Prozent der Realität. Dann plötzlich wurde sie von einem hellen Leuchten geblendet. Wie dunstiger Nebel waberte ein grelles Licht von Kopf bis Fuß um den älteren Mann herum. Mio murmelte etwas, was sie nicht verstand, da ihr kompletter Verstand mit dem Bild in ihrem Kopf beschäftigt war. Cosmin begann leicht seine Hände zu bewegen und tatsächlich ging jeder Bewegung seines Körpers eine leichte Bewegung des Lichtnebels voraus.
Ein kleiner Laut des Erstaunens kam über Christinas Lippen und automatisch öffnete sie ihre Augen, um zu sehen, ob dieser Nebel wirklich dort war. Doch Cosmin stand noch immer mit einem leichten Lächeln vor ihr und sah sie geduldig an, von dem Nebel war nun nichts mehr zu sehen.
„Jetzt versuch es allein.“ Sagte Mio und nahm seine Hand von ihrem Arm.
Christina schloss erneut die Augen, baute erneut das Bild in ihrem Geiste auf, doch wieder sah sie bei aller Konzentration und Anstrengung keinen Nebel.
„Versuche zu erahnen, was er gerade tut.“ Murmelte Mio leise.
Cosmin tat etwas? In ihrer Vorstellung stand er einfach mit seinem immer freundlichen Lächeln vor ihr. Doch sie hörte Stoff rascheln, also musste er sich bewegen. Nur hatte sie keine Ahnung, wie er sich bewegte.
Frustriert öffnete Christina nach einer halben Ewigkeit, wie es ihr schien, die Augen und seufzte. „Ich kann nichts sehen.“ Sagte sie.
„Ich hatte nicht erwartet, dass es auf Anhieb funktionieren würde.“ Sagte Mio. „Wir werden weiter üben müssen.“ Er wusste schließlich, dass es nicht mehr allzu lang dauern dürfte, bis sie tatsächlich in der Lage war, die Kraftfelder um sich herum zu erspüren. „Da wir mit der Verteidigung nicht besonders viel erreichen, solang du nicht sehen kannst, werden wir mit Ausdauer- und Krafttraining weitermachen.“
Christina unterdrückte ein weiteres Seufzen. Sie hatte bereits leichte Kopfschmerzen und nun sollte sie sich auch noch durch die Gegend scheuchen lassen.
Doch sie biss die Zähne zusammen und befolgte Mios Anweisungen. Erst wärmte sie sich durch lockeres Laufen rund um die Halle auf, bevor Mio ihr zeigte, wie sie mit den verschiedenen Geräten umzugehen hatte. Er machte ihr die Handhabung an jedem Gerät kurz vor, bevor sie es selbst versuchte, während er ihre Haltung korrigiert. Schon nach einer knappen Stunde war sie fix und fertig, obwohl Mio sie lediglich ein leichtes Training zum Einstieg durchlaufen ließ, wie er ihr erklärt hatte. Bei ihm sah Alles auch so wahnsinnig einfach aus, es kostete ihn nicht die kleinste sichtbare Anstrengung, obwohl bei seinen Demonstrationen meist noch dreimal so viel Gewicht an den Geräten hing, bevor er es für Christina anpasste. Während er locker neben ihr stand und sie beaufsichtigte, fühlte Christina jeden Pulsschlag in ihrem puterroten Kopf und beanspruchte Muskeln, von deren Existenz sie bisher keine Ahnung gehabt hatte. Ihr Herz hämmerte in ihrem Brustkorb und ihr Atmen pumpte deutlich hörbar in ihre Lungen und wieder heraus.
Jedesmal, wenn Mio sie endlich von einem der Geräte erlöste, flammte Hoffnung in ihr auf, dass es endlich genug war. Doch viele Male wurde ihre Hoffnung dadurch zunichte gemacht, dass Mio direkt ans nächste Gerät ging, um ihr auch dieses so erklären.
Es war ihr unangenehm, wenn er ihr in den Rücken fasste, um zu vermeiden, dass sie ihre Wirbelsäule krumm machte, denn sie fühlte sich von Schweiß gebadet und sie versuchte ihm nicht direkt ins Gesicht zu keuchen, wenn er sich vor sie beugte, um die Haltung ihrer Beine oder Füße zu überprüfen. Allerdings war ihr bewusst, dass er ganz genau wusste, dass ihr Körper mehr als auf Hochtouren lief. Und es ärgerte sie, dass er sie weiter antrieb, obwohl ganz offensichtlich war, dass sie kurz vor einem Zusammenbruch stand.
Nach unzähligen Wiederholungen an der Beinpresse ließ Christina ihre Füße auf den Boden fallen und legte den Kopf zurück, um Mio wütend anzufunkeln.
„Ich mach nicht mehr weiter.“ Schnaubte sie. „Ich kann nicht mehr.“
„Du kannst noch sehr viel weiter.“ Meinte Mio überzeugt.
Doch Christina stand mit zittrigen Beinen auf und ihre Muskeln protestieren. „Nein, ich bin am Ende.“
„Also gut, wenn du meinst. Morgen geht es weiter.“ Stimmte Mio schließlich zu, doch er ließ Christina durch seinen Blick mehr als deutlich spüren, dass er mit ihrer Leistung nicht wirklich zufrieden war.
Christina war das gerade ziemlich egal. Sie ging mit letzter Kraft, wie sie glaubte, in Richtung Tür und überlegte für einen kurzen Moment sogar, ob es eine Option wäre, auf allen Vieren in ihr Badezimmer zu kriechen.
Und auch in den kommenden Wochen schonte Mio sie nicht. Jeden Abend versuchte er, sie dazu zu bringen, Kraftfelder sehen zu können und jeden Abend scheiterte Christina an dieser Aufgabe. Jeden Abend starrte sie irgendwelche bescheuerten Dinge oder Cosmin mit fest zugekniffenen Augen an, nur um am Ende doch aufgeben zu müssen. Und jeden Abend scheuchte Mio sie daraufhin durch die Trainingshalle und einmal über sämtliche Geräte, als wolle er sie für ihr Scheitern bestrafen. Zumindest rede Christina sich das nach einigen Tagen ein, was ihre Stimmung nicht gerade steigerte. Von Tag zu Tag baute sich immer mehr Frust in ihr auf. Sie war sogar selbst unzufrieden mit ihrer Leistung, obwohl sie bei jedem Training sportlich mehr leistete, als in ihrem gesamten bisherigen Leben.
Wenn sie nicht trainierte, schlief sie fast ausschließlich. Immerhin hatte die körperliche Erschöpfung den Vorteil, dass ihr Schlaf fest und traumlos war. Und trotzdem fühlte sie sich ständig unausgeruht und körperlich erschöpft. Außerdem langweilte sie sich, wenn sie gerade nicht schlief oder trainierte, denn alle im Haus gingen ihren üblichen Aufgaben nach, Mio sah sie außerhalb ihrer Trainingsstunde so gut wie nie und wenn, dann nur zufällig im Vorbeigehen.
Nach einigen Wochen war sie so sehr in der Unzufriedenheit über sich selbst und in der Erschöpfung versunken, dass sie nicht einmal mehr merkte, wie sie sich veränderte. Sie aß nur noch wenig, ihre Kleidung war ihr inzwischen mehr, als nur eine Nummer zu groß, ihre Haut wirkte fahl, ihre Augen waren gerötet und schwer.
Sie hatte die Schnauze gestrichen voll, von allem hier. Sie wollte sich nicht mehr durch das Training quälen, wollte nicht mehr ihre freie Zeit sinnlos vertrödeln oder dicke alte Bücher wälzen und sie wollte sich nicht mehr ausgelaugt und kränklich fühlen, obwohl sie mehr als die Hälfte der Tage verschlief. Dass Marali sie immer häufiger nach ihren Lieblingsgerichten fragte und so versuchte, sie dazu zu bringen, mehr zu essen, änderte daran auch nichts, denn Christina musste sich bei jeder Mahlzeit zwingen, ihren Teller zu leeren. Und auch, dass Anais immer wieder überraschend an irgendwelchen Ecken im Haus auftauchte oder kurz bei Christina vorbeischaute, um sie mit einem freundlichen Gespräch und einem aufmunternden Lächeln bedachte, konnte die Situation nicht besser machen.
Christina war kurz davor, die ganze Sache über den Haufen zu werfen und zu streiken.
Ziemlich genau drei Wochen nach ihrer ersten Trainingsstunde, wachte Christina das erste Mal wieder mit rasendem Herzen und schwirrendem Kopf aus einem Albtraum auf, der so schrecklich war, wie nie zuvor einer gewesen war. Sie erlaubte sich nicht, darüber nachzudenken, was sie gerade im Schlaf erlebt hatte.
Es war stockfinster im Zimmer, denn es war tief in der Nacht. Heftig blinzelnd starrte sie in die Dunkelheit. Dann drang ein klopfendes Geräusch in ihr Bewusstsein.
Schnell griff sie nach dem Lichtschalter der Nachttischlampe und schon eine Sekunde später erfüllte gedämpftes Licht das Zimmer.
Christina zog ihre Decke bis an ihr Kinn und sah sich auf der Suche nach der Ursache für das Geräusch ratlos um.
Erst als ihre Augen ein drittes Mal zu den Fenstern huschten, entdeckte sie eine Person draußen auf dem Balkon. Dunkle Augen sahen sie durch das Glas hindurch an, während schmale Finger leise dagegen klopfen.
Christinas Herz drohte vor Schreck auszusetzen, doch in einem kleinen Winkel ihres Bewusstseins tauchte das Gefühl des Widererkennens auf. Sie blinzelte ein weiteres Mal heftig, dann endlich erkannte sie die Person auf der anderen Seite des Fensters. Da draußen stand Marc.
Ein schluchzender Laut der Erleichterung drang über Christinas Lippen und sie sprang aus dem Bett. Sie war so glücklich, ihn wiederzusehen, so froh darüber, mit seiner Hilfe vielleicht endlich von hier verschwinden zu können, dass sie ohne einen weiteren Gedanken zur Balkontür lief, um ihn hereinzulassen.
Schwungvoll riss sie die Tür auf und schmiss sich ihrem guten Freund mit einem aufgekratzten Lachen in die Arme.
„Was machst du hier? Wie hast du mich gefunden? Wie bist du unbemerkt hier herein gekommen?“ Christinas Stimme überschlug sich fast vor Aufregung, das Gesicht hatte sie fest an seine Schulter gepresst. „Bitte, hol mich hier raus!“
„Genau das habe ich vor.“ Murmelte Marc leise. „Ich bin hier, um dich hier weg zu bringen.“ Fest hatte er seine Arme um sie gelegt, hob sie bereits leicht von den Füßen und begann sich zur Balustrade des Balkons umzudrehen.
Doch plötzlich fühlte Christina sich gefangen. Seine Arme lagen zu fest um ihren Körper, mit der Hand presste er ihr Gesicht jetzt dicht an seinen Hals. Sie konnte kaum Atmen, denn ein unangenehmer Geruch schnürte ihr die Kehle zu. Und seine Stimme war anders. Sie hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem warmen, freundlichen Brummen, welches sie von ihm kannte. Ein eiskalter Schauer des Entsetzens jagte über ihren Rücken, als sie versuchte sich von ihm loszumachen und er sie stattdessen noch fester gegen seinen harten Körper presste.
„Lass mich runter! Lass mich los!“ Schrie sie, plötzlich von heller Panik ergriffen.
„Sei still!“ Fauchte er zurück. Doch er ließ sie runter, als sie begann wild mit den Beinen zu strampeln und gegen seine Beine trat.
Christina machte sich komplett aus seinem viel zu festen Griff frei und starrte geschockt in das vertraute, aber plötzlich auch so fremde Gesicht. Dunkle Augen, die rein gar nichts von der gewohnten Wärme ausstrahlten, beobachteten jede ihrer Bewegungen aufmerksam. Ein berechnendes Grinsen spielte um Marcs Lippen und Christinas Herz dröhnte in ihren Ohren.
„Was ist los?“ Schnarrte eine plötzlich komplett fremde Stimme. „Freust du dich gar nicht, deinen besten Freund zu sehen?“
Christina stolperte über ihre eigenen Füße, als sie so schnell, wie möglich von ihm weg laufen wollte. Sie wusste nicht, wer oder was da vor ihr stand, aber es war nicht der Marc, den sie kannte.
Hart schlug sie auf den Holzboden in ihrem Zimmer auf, ein stechender Schmerz raste durch ihre Schulter und machte sie einen Moment lang bewegungsunfähig.
Diesen Moment nutzte der Fremde, um sie erneut zu packen und ihr diesmal fest den Mund zuzudrücken, doch nicht, bevor Christina es schaffte einen gellenden Schrei auszustoßen, der in ihren eigenen Ohren wehtat.
Die andere Hand packte ihre verletzte Schulter und im nächsten Augenblick wurde sie daran hochgerissen, was sie einen erstickten Schmerzensschrei ausstießen ließ.
Sie wurde von hinten umklammert, die Hand lag immer noch fest auf ihrem Mund und ihr Kopf war so weit nach hinten gestreckt, dass sie nur schwer atmen konnte. Die Erinnerung an den Abend ihrer Entführung schoss durch ihren Kopf und sie war wie gelähmt vor Angst, dass sie wieder zu den Kaputzentypen und De’Fellini gebracht wurde. Die Angst ließ ihren Blick verschwimmen und ihren Körper taub werden. Doch dann fiel ihr auf, dass der Angreifer sie fast so festhielt, wie Mio es bei ihrem ersten Training getan hatte. Nur dieses Mal waren ihre Arme nicht hinter ihrem Rücken eingeklemmt. Der feste Bariton von Mios Stimme hallte leise in ihren Ohren, sie hörte noch einmal, wie er ihr erklärte, welche Abwehrmöglichkeiten sie hatte. Plötzlich war in ihrem Kopf nichts anderes mehr, als die Erinnerung an seine Stimme und die Bewegungsabläufe, die er ihr gezeigt hatte. Das und auch das Adrenalin, welches durch ihren Körper pumpte, half ihr, die Angststarre abzuschütteln und sie rammte ihren Arm so fest sie konnte nach hinten. Sie spürte, wie ihr spitzer Ellenbogen auf die Rippen ihres Angreifers prallte. Eigentlich hatte sie ihn tiefer treffen wollen, doch auch dieser Treffer ließ ihn einen überraschten und schmerzlichen Laut ausstoßen. Den Schmerz in ihrer verletzten Schulter ignorierend setze Christina mit dem anderen Arm noch einmal nach und diesmal traf sie nicht auf harte Knochen, sondern fühlte, wie Organe sich im Körper des Anderen unter der Wucht des Aufpralls verschoben. Der Griff um ihren Körper und ihren Hals lockerte sich und Christina schaffte es, sich zu befreien. Sie saugte frischen Sauerstoff tief in ihre Lungen, endlich konnte sie auch wieder klar sehen. Und sie sah, wie ihre Zimmertür aufgestoßen wurde und ihr Tutore mit einem mörderischen Blick hereingestürmt kam.
So das nächste Kapitel muss ich erst noch Forumstauglich machen und darum kann es vielleicht wieder ein bisschen dauern, bis es weitergeht. Muss mal sehen, wann ich Zeit habe, den Text zu entschärfen, ohne die komplette Spannung zu vernichten.
Wünsche euch noch einen schönen Abend und noch einen viel schöneren vierten Advent (mein Gott, nur noch ein paar Tage bis Weihnachten :rollauge )
Gruß
DieMarry