Für Elise - Erinnerungen an meinen Tod





  • Hallo liebe Leser!




    Nachdem 'Gefangen' jetzt beendet ist, habe ich genug Luft, eine neue FS zu starten und
    begrüße euch recht herzlich zu der Geschichte eines jungen Mannes, dem alles genommen wurde
    - seine Heimat, seine Familie, seine Freuden, seine Identität - sein Leben.


    Allein die Erinnerungen, die Liebe zur Musik und seine Träume hindern ihn daran, zugrunde zu gehen
    und so tut er das, was er vorher nicht für möglich gehalten hatte - er lebt weiter - der Träume wegen.




    Ich hoffe, dass "Für Elise" euch gefällt und freue mich wie immer über jegliche Art von Kommentaren.
    Für diese besteht natürlich absolut kein Zwang und auch stille Leser sind herzlich willkommen!


  • How many roads must a man walk down,
    before you can call him a man?


    How many years can some people exist,
    before they're allowed to be free?
    Yes, and how many times can a man turn his head,
    and pretend that he just doesn't see?


    The answer my friend is blowing in the wind,
    the answer is blowing in the wind.


    How many times must a man look up,
    before he can see the sky?
    Yes, and how many deaths will it take till we know,
    that too many people have died?


    The answer my friend is blowing in the wind,
    the answer is blowing in the wind.


    (Bob Dylan – Blowing in the wind)










  • Ha, ich bin aber stolz dass ich so schnell raushatte, dass er tot ist. Gut, vielleicht weil es zu offensichtlich war. Aber wo ist er, und wer ist er, wer ist Elise? Wie sieht es aus, in dem Jenseits, indem er sich befindet? Du verblüffst einen ziemlich mit dieser Intro. Bin sehr gespannt, was einen erwartet. Und ich hatte die ganze Zeit die "Für Elise" im Kopf beim Lesen!

    [CENTER][SIZE="1"][COLOR="#a0522d"]life is what happens when you're busy making other plans.[/COLOR][/SIZE][/CENTER]

  • Schöne Fotostory, mal ganz was anderes als deine bisherigen! Aber Abwechslung und unerwartete Wendungen ist man ja von dir gewohnt^^
    Nachdem ich Gefangen gelesen habe und Lia - aus dem Leben einer Hure auch noch verfolge, sind meine Erwartungen dementsprechend hoch x)
    Zu den Bildern her kann ich nur sagen, es sieht aus, als würdest du dich mit jeder Fotostory verbessern! Die sind super geworden, obwohl ja eigentlich nicht viel passiert.
    Der Text gefällt mir auch gut. Irgendwie sehr philosophisch. Das ist zwar auch in deinen anderen Fotostorys schon ein bisschen durchgekommen, aber hier regt der Text schon extrem zum Nachdenken an, allein wegen der ganzen eingebauten Sprichwörter. Studierst du Philosophie oder so? Die neue Textart sieht auch recht gut aus, allerdings ist es meiner Meinung nach auf Dauer schon sehr anstrengend zum lesen. Du hast dir wahrscheinlich recht viel Mühe damit geben, deshalb hoffe ich das enttäuscht dich jetzt nicht zu sehr, aber die ganz normale Standartschriftart wäre mir schon fast lieber. Vielleicht könntest du die Schrift ja zumindest etwas dunkler machen oder so, damit es besser geht.
    Sooo und jetzt mal zum Inhalt: Ob der Mann wirklich gestorben ist, bezweifle ich ehrlich gesagt. Der letzte Text deutet zwar sehr darauf hin, aber der Einleitungstext weist ehr darauf hin, dass er vielleicht nur irgendwo anders ist, aus irgendwelchen Gründen flüchten oder untertauchen musste... Vielleicht liegt es aber auch nur daran, dass das Jenseits in meiner Vorstellung ganz anders aussieht, als in deiner Story.
    Bin auf jeden Fall gespannt, wie es weiter geht und werde mitlesen!


    ähh sry doppelpost. Wollte eigentlich nur was ändern und bin dabei aus Versehen auf zitieren gekommen. Vielleicht könnten die Mods diesen Post bei Gelegnheit löschen.

  • Kommibeantwortung



    Erstmal danke für eure Kommentare und die Klicks! Ich freue mich, dass ihr den Anfang dieser Story verfolgt habt! J

    Zum Titel:
    „Für Elise“ ist natürlich auf das gleichnamige Stück von Beethoven bezogen, welches übrigens auch einer meiner Lieblings Klassik-Stücke ist (und das Einzige, das ich halbwegs spielen kann :-D ) und die Grundidee für die Story kam mir, während ich das Stück gehört habe. Das Werk wird natürlich auch einen Bezug zu der Story kriegen und so hat der Titel zwei Bedeutungen, zum einen eben den Titel von Beethovens Werk, zum anderen ist er natürlich bezogen auf die Briefe, die der Mann für jemanden namens Elise verfasst. (Und noch mehr, was im Laufe der FS deutlich werden wird, worauf ich an dieser Stelle noch nicht eingehen möchte)

    Der Untertitel – und wie er gemeint ist – wird natürlich noch näher dargelegt werden.


    Zur Schrift:
    Ich muss sagen, dass ich mit einer negativen Reaktion vollkommen gerechnet habe, denn grade in diesem Forum auf blau ist sie echt nicht so gut zu lesen, wie ich es mir erhofft hatte. Ich persönlich habe in anderen Foren überhaupt keine Probleme, die Schrift zu lesen – sie heißt übrigens Brickley Script – denke es ist auch echt Gewöhnungssache. Wenn ihr etwas partout nicht lesen könnt, könnt ihr natürlich gerne nachfragen. Ich hoffe natürlich echt, dass nicht jemand wegen der Schrift sagt: „Nä zu antrengend, das lese ich nicht“…. Dann sagt bitte Bescheid, dann überleg ich mir was :D
    Aber ansonsten stört es mich persönlich nicht, wenn sie nicht so gut lesbar ist, wie Arial o.ä. – es soll ja auch eine HANDschrift darstellen, und wenn diese nicht immer auf den ersten Blick entzifferbar ist, wirkt das ja nur authentisch :D
    Ihr braucht aber echt keine Angst haben, es werden natürlich nur die Briefe in dieser Schrift verfasst werden, die Erzählung drum herum kopiere ich als ganz normalen Text – und sooo viele Briefe wird es auch nicht geben ;) Nur als Intro fand ich es schon mal ganz schön J


    Zu den Bildern:
    Vielen lieben Dank für das Lob, ich habe mich total gefreut, dass die Bilder gut ankamen, obwohl sie ja doch eintönig sind, es geschieht ja nichts, er schreibt die ganze Zeit. Ich bin echt beruhigt :D


    Zum Text:
    Es freut mich soooo, dass er euch so gut gefällt! Danke danke danke! Echt super, dass die Gefühle rüberkommen, denn das ist bei dem Brief natürlich sehr wichtig. Danke für die Rückmeldung!
    Und ja, der junge Mann denkt zum Teil sehr tiefgründig und philosophisch. Er denkt viel nach und ist, wie er selbst sagt, ein Träumer. Ich hoffe, dass seine Gedanken wenigstens zum größten Teil gut nachvollziehbar sind und dass seine Briefe, wenn sie schon bei Elise nie ankommen werden, wenigstens euch Leser erreichen können. Achja, und Philosphie studiere ich tatsächlich, allerdings nur im Nebenfach und auch erst seit diesem Semester, aber schön, dass es scheinbar zu mir passt :D

  • 2. So etwas wie Hoffnung




    No one knows what it's like
    to be the bad man
    to be the sad man
    behind blue eyes



    And no one knows what it's like
    to be hated
    to be faded
    to telling only lies
    But my dreams
    they aren't as empty
    as my conscience
    seems to be



    I have hours
    only lonely
    my love is vengeance
    that's never free
    (The Who – Behind blue eyes)






    Leben. Ja, genau das, was ihm in den letzten Wochen unmöglich erschienen war, genau das würde er tun. Leben in ihren Erinnerungen. Leben als Teil in ihrem Leben. Jetzt, wo es das seine nicht mehr gab.
    Louis Vagoda legte den Füllfederhalter beiseite, den er zusammen mit den wenigen Dingen, die er am Körper getragen hatte, aus seiner alten Existenz in die neue hatte retten können und ließ seine Fingerknöchel knacken. Er war angespannt, immer noch, auch wenn er sich entspannen sollte, denn er war entkommen, in Sicherheit. Er wusste, dass sie ihn hier nicht finden würden, aber trotzdem zuckte er zusammen bei jedem Geräusch, lebte in ständiger Angst und schlief immer mit der Pistole unter dem Kopfkissen, die Oscar ihm gegeben hatte. Wie lange das noch so weitergehen solle, hatten sie ihn gefragt, aber er hatte nur mit den Schultern gezuckt und beschämt zu Boden gesehen. Was sollte er ihnen sagen?




    Louis war dankbar. Mehr als das, auch wenn er es nicht zeigen, geschweige denn ausdrücken konnte und den größten Teil der Zeit nur apathisch und unbeteiligt wirkend dastand und schwieg. Was sollte er sagen? Wie könnte er jemals ausdrücken, was er ihnen sagen wollte?
    Er faltete den Brief an Elise sorgfältig zusammen und steckte ihn in die Schublade des Schreibtisches, die er extra dafür vorgesehen hatte.



    Er würde ihn verbrennen, irgendwann, vielleicht bald, aber noch fehlte ihm die Kraft dazu. Erinnerung. Träume. Illusionen. Was war ihm geblieben als die heimlichen, irrigen Vorstellungen, dass sich eines Tages doch alles zum Guten wenden würde und es wieder sein könnte, wie zuvor? Er würde sterben ohne diese Vorstellungen, ohne die Träume, das wusste er, seit er hier angekommen war.
    Das Glas Rotwein auf dem Tisch erschien ihm als einziger Rettungsanker, als einzige mögliche Hoffnung.



    Er trank zu viel in letzter Zeit, aber was machte es aus? Was änderte es noch? Wenn ihm irgendetwas helfen konnte, zu vergessen, würde er es annehmen und wenn es Alkohol und Drogen waren, die zu seinen besten Freunden wurden, dann war es immer noch besser, als allein zu sein, allein mit den Sorgen, den Ängsten, den Erinnerungen. Allein mit den Träumen, allein mit dem Schmerz.
    Louis stand auf und leerte das Glas mit einem Schluck.



    Ihm war schwindelig, aber es war die Müdigkeit, die seine Sinne benebelte und nicht der Alkohol. Was würde er dafür geben, wieder eine Nacht durchschlafen zu können? Was täte er, um einmal ausgeruht aus einem traumlosen Schlaf aufwachen zu können? Nur eine Nacht die Bilder ausblenden, eine Nacht für sich haben, ohne das Grauen, das ihn heimsuchte, bis hierher, das ihm in seine Gedanken und Träume gefolgt war und nicht mehr loslassen würde. Er würde sterben dafür.
    Wenn er nicht schon tot gewesen wäre. Auf dem Papier. Und innerlich. Er hatte versucht in dem Brief an Elise, an die Person, die er als Einzige auf der Welt liebte, und die ihn liebte, bedingungslos, es immer getan hatte, und die ihm jetzt genommen worden war, auf die grausamste Weise, die man sich vorstellen konnte, nicht allzu verzweifelt zu klingen, hatte versucht, ihr von den schönen Seiten des Lebens zu erzählen, hatte versucht, beruhigt zu klingen, so, wie sie ihn kannte. Und so, wie sie sich an ihn erinnern sollte.



    Aber in Wirklichkeit fühlte er all dieses nicht mehr. Er hatte nicht mehr gelächelt, seit sie sie aus seinen Armen gerissen hatten, hatte keine Freude mehr empfunden für die Natur, nicht einmal für das Klavier, das Oscar für ihn besorgt hatte und das ihm geholfen hatte, eine Symphonie lang all seine Sorgen zu vergessen. In ihm war etwas gestorben, herausgerissen worden, und es war kein unwesentlicher, ersetzbarer Teil; es war das, was ihn ausgemacht hatte. Sie hatten ihm nicht nur seine Heimat, seine Liebe und seine Identität genommen – es war sein Leben, das sie ausgelöscht hatten, auf die perfideste Art und Weise, mit den grausamsten Methoden.



    Weiterleben in ihrer Erinnerung, das war sein Wunsch. Weiterleben, als der Mann, der er gewesen war, als der Mann, den sie in ihm gesehen hatte.
    Geblieben war ihm die Existenz seiner Körperhülle. Geblieben waren ihm die Hoffnungen und Illusionen. Geblieben war ihm die Musik.
    Zwei Tage würde er noch bleiben können, vielleicht drei, bis es für Oscar zu gefährlich werden würde und Louis sich nach einer neuen Bleibe umgucken musste. Er wusste nicht, ob er ohne die Musik würde überleben können, die der einzige Lichtblick, das einzige Loch war, in das er sich fallen lassen konnte, ohne wahnsinnig zu werden.




    Der schwarze Flügel war schon alt, die Tasten vergilbt und abgegriffen, aber er half ihm, innerlich zu dem zu werden, der er einmal gewesen war. Klassische Musik. Er würde Vivaldi spielen. Cimiento dell armoria. Mozart. 40. Symphonie. Und Beethoven. Für Elise. Nur für sie.

  • Die traurigen Klänge der Symphonien erfüllten das kleine Zimmer mit den großen Fenstern gen Westen und ließen Louis in eine Welt eintauchen, die nicht mehr die seine war, die nie mehr die seine sein würde. Schon von klein auf hatte er die klassische Musik geliebt, war damit aufgewachsen und hatte gelernt, sie mit dieser ganz besonderen emotionalen Note zu versehen, zu der nur wenige Pianisten fähig waren.




    Wenn er spielte, dann war es keine Musik, die zu hören war, es war Gefühl. Tiefste, innigste Emotionen, die den Zuhörern eine Gänsehaut über den Rücken jagten und selbst dann Tränen in die Augen trieben, wenn es in Dur gespielt wurde. Zuhörer hatte er seit Monaten nicht mehr gehabt, aber das Gefühl war geblieben, das jetzt umso ergreifender, umso überwältigender geworden war, wo er für sich allein spielte.
    Es tat ihm gut, das alte Elfenbein unter seinen Fingerkuppen zu spüren, die Hände über die Tasten gleiten zu lassen. Ja, es war schwer, zu spielen, jetzt, wo es unter einem so anderen Licht geschah, aber noch schwerer würde es ihm fallen, es nicht zu tun und seinen Feinden den Sieg zu gönnen, den sie errungen hätten, wenn es ihnen gelungen wäre, ihm auch diese Leidenschaft ein für alle mal zu nehmen.
    Elise. Wie hatte es geschehen können, dass er das alles nicht vorhergesehen hatte? Wie hatte er die Augen verschließen können in all dieser Zeit, nur um des Friedens und der Glückseligkeit Willen? Zu welchem Preis?



    Elise. Sie würde ihn nie wieder sehen, vielleicht würde sie ihn gar vergessen in den Jahren. Sie würde sich entwickeln und älter werden, würde vieles lernen, vieles neu erfahren – und vieles nicht mehr erinnern. Wenn er daran dachte, was mit ihr geschehen könnte, stiegen ihm unweigerlich die Tränen in die Augen. Er wusste, dass er kämpfen musste. Jetzt, um zu überleben und bald, vielleicht in einigen Jahren, um sie ein letztes Mal zu sehen, auch, wenn er wusste, dass er dabei sterben würde. Der Krieg würde ihm alles nehmen, seine Hoffnung, sein Leben, aber niemals seine Liebe. Er würde es tun. Für Elise. Nur für seine Tochter.

  • Kommt ja wahnsinnig gut an hier, die Story (:
    Naja, ich versuchs trotzdem nochmal^^




    Kapitel 2, Fortsetzung



    Es war spät an diesem Abend und Louis beobachtete die Sonne, die als riesiger Feuerball hinter dem Ozean verschwand und die die romantische Abendstimmung, die durch das gedämpfte Licht und den gefärbten Himmel entstanden war, in wenigen Minuten mit in die Tiefe reißen würde. Er dachte an die Länder und all die Menschen im Westen, bei denen es jetzt erst morgens wurde und fragte sich, ob es Zufall war, dass die Sonne in der Früh im Osten, mittags im Süden, abends im Westen, nie aber im Norden zu sehen war. Im Norden, dort, wo seine Heimat war, wo er alles hatte zurücklassen müssen. Wieso schien die Sonne niemals für den Norden?



    Louis hatte grade beschlossen, sich noch Wein nachzuschenken, als Oscar das Zimmer betrat. Er war ein stattlicher Mann mit ergrautem Haar und vollem Bart, der stets eine Rauchfahne hinter sich herzog, und er war derjenige, dem Louis sein Leben verdankte. Hätte Oscar nicht das seine riskiert, indem er durch seine Kontakte dafür gesorgt hatte, Louis mit einem Schiff aus Europa zu bringen, hätte er ihn nicht bei sich aufgenommen, hier in seiner Wahlheimat und allen, die davon wussten mehr Schweigegeld bezahlt, als angebracht war für ein Leben wie das seine, das keinen Cent mehr wert war, hätte Louis keine Chance gehabt aus dem Netz aus Intrigen, Korruptionen und Folter zu entfliehen, welches sich immer enger um ihn gespannt hatte und dem er sich schon fast ergeben hätte.
    „Es wird Zeit für dich, mein Freund“, nuschelte Oscar, als er sich auf der Sessellehne niederließ. „Ich kann dich nicht länger hier behalten.“



    Louis erwartete, dass Oscar seinem Blick ausweichen würde, aber er hielt ihm stand. Trotz seiner unverkennbaren Traurigkeit, war noch immer der alte Stolz in den Augen seines Freundes zu sehen, noch immer waren es Mut und Ehrbarkeit, die Oscar auszeichneten, und um die Louis ihn stets beneidet hatten.
    „Ich habe einen Bekannten, bei dem du wohnen kannst. Glaub’ nicht, dass der das aus Freundlichkeit tut, aber er schuldet mir noch einen Gefallen. Sein Sohn studiert in der Stadt und so ist das Häuschen, was sie für ihn gebaut hatten, noch etwa zwei Jahre frei. Es ist nicht groß, es wird dir nicht gefallen und du wirst dich auch nur schwer daran gewöhnen. Aber es ist das Beste, was ich dir besorgen kann, und es ist hundert Prozent sicher. Die Leute da reden nicht, mit Weißen schon gar nicht, und sie haben genug Anstand, einen Soldaten, der mit hundert Dollar winkt, achselzuckend wegzuschicken. Die Leute da sind vom alten Schlag. Sie sind ehrenhaft, Louis. Nicht wie ihr in Europa, die ihr jede Freundschaft und allen Anstand vergesst, wenn es um Geld geht, und seien es nur ein paar Kröten, die sie euch geben, dafür, dass ihr ihnen eure Seele verkauft und keine Freunde mehr kennt. Sie werden schweigen, Louis. Sie schützen dich.“



    Louis atmete tief durch und ging im Zimmer auf und ab. Obwohl es warm war, eine immerwährende Hitze, an die er sich nur schwer gewöhnen konnte, fröstelte er jetzt und es schien ihm, als sei die Temperatur im Raum mit dem Verschwinden der Sonne um ein paar Grad gefallen.
    „Ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell gehen würde“, gab er zähneknirschend zu und vermied dabei, seinen alten Freund anzusehen. „Ich hatte gedacht, ich könnte noch ein paar Tage…“
    „Louis, ich setze nicht nur mein Leben aufs Spiel, sondern auch das meiner Familie. Das Risiko, dass sie dich doch noch suchen, ist höher als gedacht, wenn mein Informant die Wahrheit sagt. Die Leute auf dem Schiff und auch die an den Grenzen sind arm, nehmen gerne das Geld an, das sie ihnen zustecken, und denkst du, es interessiert sie, um was es hier geht? Das Wichtigste ist deine Sicherheit, und die ist hier nicht gegeben; nicht so, wie ich es mir für dich wünsche. Kojo holt dich morgen früh ab und fährt mit dir zu Amadis Farm. Ich habe gesagt, dass du ein Farmarbeiter bist, also verhalte dich auch so und reiß dich zusammen.



    Sie werden dir nicht wohlgesonnen sein, die Leute im Süden sind noch traditionell und wie ich schon sagte, mögen sie keine Weißen, aber wenn du gut arbeitest, werden sie niemals fragen, wo du herkommst und wer du bist. Die interessiert nicht, was du getan hast, die interessiert nur, was du jetzt tust, und wenn du ihnen die Kühe melkst und die Kartoffeln erntest, werden sie sich um dich kümmern.“
    „Oscar, ich…du… wie kannst du…“
    „Ein Farmarbeiter? Na denkst du, die nehmen dich auf, wenn ich erzähle, dass du ein Kriegsverbrecher aus Europa bist, ein Terrorist, der völlig zu Recht von Regierung und Militär gesucht wird und der noch nie in seinem Leben ein Schaf gesehen hat?" Oscar holte aus und schlug sich mit den Händen hart auf die Oberschenkel, um seinen Ärger zum Ausdruck zu bringen, der in seiner Simme kaum zu vernehmen war.




    „Ich weiß, dass du reich und wohlbehütet aufgewachsen bist, aber das bringt dir jetzt einfach mal so gar nichts mehr. Ja, du wirst nichts auf die Reihe kriegen, aber du wirst dich verdammt noch mal reinhängen!“
    Louis starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit, die jetzt alles verschluckte. Oscars Worte trafen ihn mitten ins Herz, denn er sprach das aus, was er sich nie eingestehen wollte. Ja, ein Mörder. Ein Terrorist.
    „Morgen früh, sagst du?“
    „Kojo wird um acht hier sein, kurz nach dem Frühstück. Ich werde dir ein paar Hemden und Hosen rauslegen und Florence wird dir einen Koffer packen mit Sachen, die du gut gebrauchen kannst. Und, Louis? Es wäre gut, wenn du dich niemals wieder hier meldest.“




    Mit diesen Worten stand Oscar schwerfällig auf und dehnte seine Schultermuskulatur.
    „Das hier ist kein Land für Leute, die auf der Couch sitzen wollen“, sagte er, als er zur Tür ging.
    „Oscar?“
    Oscar schien zu überlegen, ob er die Tür einfach hinter sich schließen sollte, hielt dann aber doch inne und drehte sich noch einmal um.
    „Du hast ihnen nicht gesagt, dass ich weiß bin, oder?“
    Er schwieg, dann zwinkerte er Louis zu.
    „Du lernst es langsam. Ich dachte, sie müssen sich ja nicht von vornherein ablehnen. Eine Chance können sie dir ja geben!“


  • Louis hatte gewusst, dass er nicht würde schlafen können, aber jetzt lag er schon seit Stunden wach und starrte an die Decke. Er erinnerte sich an die erste Nacht bei Oscar, die erste Nacht nach einer tagelangen Flucht auf diesem furchtbaren Schiff und in diesem dunklen Zugwaggon, in der er ebenso dagelegen hatte, mit einem bis zum Halse pochendem Herzen und in der er nicht eine Minute lang geschlafen hatte, obwohl er todmüde und erschöpft gewesen war und der Komfort des weichen Bettes in der Stille wirklich ungleich besser gewesen war, als alle Todschlagsszenarien, die er sich wieder und wieder für das Ende seiner Flucht ausgemalt hatte. Die ganze Zeit hatte er gewartet und gelauscht, dass es an der Tür klopfen würde, dass Schüsse fallen würden, dass sie ihn doch verfolgt hätten und jetzt alles zu Ende war. Aber es klopfte nicht, auch nicht am nächsten Tag und in der nächsten Nacht, und niemand war gekommen, um ihn abzuholen. Bis heute nicht.



    Er hatte etwas zu Essen bekommen, gute Mahlzeiten. Kleidung, ein Badezimmer, ein weiches Bett, das Gefühl, nicht alleine zu sein und dann sogar noch das Klavier, das ihm half, in eine andere Welt abzutauchen und all diese Nöte zu vergessen.
    Und jetzt lag er da, wie am ersten Tag und mit der Gewissheit, sein neues Zuhause, das ihm so viel Sicherheit geboten hatte, an das er sich gewöhnt hatte, wieder verlassen zu müssen, morgen früh schon und starten zu müssen in ein völlig anderes Leben, ein Leben, wie er es sich nie hatte vorstellen können, wie er es sich nie hatte vorstellen wollen. Es ging jetzt wirklich nur noch ums nackte Überleben, da hatte Oscar Recht, und er würde all das tun, für das er in seinem Leben nie bereit gewesen war. Und er würde alleine sein, völlig alleine und nicht mal jemanden haben, der seine Sprache verstehen würde oder sich überhaupt was unter dem Begriff ‚Europa’ vorstellen konnte.



    Louis drehte sich auf die Seite und atmete tief durch. Er sollte sich nicht so anstellen. Es ging nicht darum, sich jetzt wohl zu fühlen und ein hübsches Leben zu führen. Es ging einzig und allein um den Erhalt der Hoffnung. Der Hoffnung, die sich wie ein Regenbogen über den herabstürzenden Bach seines Lebens erstreckte. Und die ihm irgendwann helfen würde, in dem Meer von Schmerzen schwimmen zu lernen, statt darin zu ertrinken.

  • Zitat

    Der Hoffnung, die sich wie ein Regenbogen über den herabstürzenden Bach seines Lebens erstreckte. Und die ihm irgendwann helfen würde, in dem Meer von Schmerzen schwimmen zu lernen, statt darin zu ertrinken.


    Der Satz gefällt mir am Besten, sehr schöne, bildhafte Sprache. Also ich dachte ja zuerst, dass deine Hauptperson Jude ist und vor dem Nationalsozialismus flüchtet (habe deine vorherige Fortsetzung nämlich durchaus sofort verschlungen, bloß schreibe ich normalerweise nicht auf jede Fortsetzung einen Kommentar). Aber jetzt erfährt man ja, dass er ein Kriegsverbrecher ist, vielleicht war er ja selber Nationalsozialist oder aber ein russischer Spion?
    Die Bilder sind wieder wahnsinnig schön geworden, traumhaft wie du das immer hinkriegst und die ganzen Downloads und kleinen Gegenstände, wie z.B. Weingläser, die du hast...
    Ich möchte dich noch daran erinnern, auch mal wieder zu deiner Fotostory "Lia - aus dem Leben einer Hure" zu schreiben, obwohl das jetzt nicht unbedingt in diesen Thread passt. Überhaupt solltest du den ganzen Tag an deinen Fotostorys schreiben, was hast du denn sonst wichtiges zu tun? x)